Reinhold Schneiders „Vom Wort zum Herrn“ von 1939: „Das Wort hat nur mit einer Macht zu ringen, die freilich tausendfältiger Gestalt ist: mit dem Widersacher.“

Reinhold Schneider
Reinhold Schneider (1903-1958)

Als Kurt Ihlenfeld 1939 im Hinblick auf eine Revision der Luther-Bibel von 1912 den Band „Das Buch der Christenheit. Betrachtungen zur Bibel“ im Eckart-Verlag herausgab, verfasste Reinhold Schneider dazu den Beitrag „Vom Wort zum Herrn“:

Vom Wort zum Herrn

Von Reinhold Schneider

Wie es Künstler gibt, die aus der Fülle schaffen, und solche, die von der Armut getrieben werden zu gestalten, was sie nie besitzen sollen – so gibt es, in unendlich größerem und bedeutenderem Zusammenhänge, Zeiten, die aus der Fülle glauben, und Zeiten, die unter schwerem Ringen aus der Armut zum Glauben gelangen. Die einen sind im Besitz des Erbes und wissen es zu verwalten und zu vermehren; die andern wissen bestenfalls von dem einst­mals besessenen Erbe und leiden auf tausendfache Weise unter seinem Verlust. Der Wege dieses Leidens, das langsam zur Linderung gelangen darf, sind viele; die Gnade hat sie alle vorgezeichnet und hat auch die Helfer erwählt, mag die Kirche den Suchenden durch den Mund ihrer Diener heimrufen, um ihn künftig zu beschützen mögen die Glaubenszeugen ihn überzeugen; mag er einmal eine Stunde haben, da alle Worte ihm leer erscheinen und das Wort zu ihm spricht. Wohl ist ihm das Wort oft in die Ohren geklungen, als ob es von der Art der andern Worte wäre, der Dichter, der Helden oder der Denker, verehrter und bewunderter Menschen; aber nun redet ihn das Wort unmittelbar an; er erkennt mit einem [348] Male die Einmaligkeit, die ungeheure Tatsache des Worts. Denn daß ein Wort gesprochen werden konnte wie dieses: „Ich und der Vater sind eins“; „Und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat“; „Ehe denn Abraham ward, bin ich“; „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden“; „Ich will den Vater bitten, und Er wird euch einen andern Tröster senden, damit Er in Ewigkeit bei euch bleibe: den Geist der Wahrheit“: dies ist ohne Beispiel, und es ist keine Tat denkbar, geschweige denn ein Laut von Menschenmund, der einem solchen Wor­te gleicht; daß es dennoch von Menschenlippen kommen konnte, ist die größte Tatsache der Geschichte. Der gesamten Geschichte und Aussage der Menschheit stehen das Leben und die Aussage eines einzigen, des Gottmenschen, gegenüber, der doch der Menschheit aus dem Boden ihrer Geschichte begegnet ist. Wie hätte ein Mensch unseresgleichen solche Sätze aus­sprechen können, ohne im selben Augenblick zu vergehn? Im Munde eines solchen hätten sie wie wahnwitzige Herausforderung geklungen; auch hätten die steinernen Wände der Wirk­lichkeit sie augenblicklich in Spott verkehrt. Aber sie wurden fest und ruhig gesprochen als eine Aussage von oben; sie sind wahr.

Diese Erkenntnis bedarf keiner Ableitung mehr; sie ist unmittelbar hervorgegangen aus dem lebendigen Wort, und sie muß den Menschen, in dem sie aufgegangen ist, allgewaltig ergrei­fen und verwandeln. Sie ist durch nichts zu beseitigen, durch nichts zu widerlegen; keine [349] Kritik vermag diese Worte und die Kraft, die in ihnen schlummert, aus der Welt zu räumen. Wer ihre Einmaligkeit, ja ihre einmalige Möglichkeit begriffen hat, muß sich ihnen beugen; und es können nur die an ihnen und der gesamten christlichen Welt vorübergehen, die nicht eingesehen haben, wie völlig einsam diese Worte sind unter allen Worten, die jemals von Menschenlippen kamen. Wer das Geheimnis der Gnade nicht ahnt, wem die Kraft des Sakramentes verschlossen ist, wer kein Bedürfnis nach Erlösung zu fühlen glaubt und meint, Gott ungebeugt und ohne Mittler gegenübertreten zu können, der müßte doch an diese Worte stoßen und an ihnen mit seinem gesamten Denken scheitern, sofern er noch fähig ist, sie auf­zunehmen, und ihren Wahrheitsgehalt, das aus ihnen hervorbrechende Licht, unmittelbar zu empfinden. Denn auch diese Worte fordern den empfänglichen Sinn; sie fordern den Men­schen, der rein gestimmt ist und sich dem Mißklang niederer Stimmen endlich entzogen hat; den Menschen, den die Ahnung dessen befiel, was Gott von ihm gewollt, und der mit den Kräften seines Herzens Gottes demütiges Ebenbild wieder werden möchte. Für Menschen, die Gottes Siegel, nicht der unteren Mächte Siegel tragen, sind sie gesprochen. Den wahren Men­schen, nach dessen Besitz die Mächte trachten, sollen sie befreien.

In Zeiten, die den Blick und Sinn für die Gegenwart des Geheimnisses fast eingebüßt haben, mag für viele [350] Menschen das Wort der stärkste Zeuge der von Christus vertretenen Welt und Ordnung sein. Sie können der Kirche ausweichen, aber nicht dem Wort. Mit dem Wort greift der Herr unmittelbar in das Leben der Menschen; denn wenn der Glaube auch tot wäre, so müßte doch einmal der suchende Geist dem Wort begegnen und mit ihm ringen; indes könnte in dem Augenblick, wo der Geist vom Wort überwältigt wird, der Glaube geboren werden. Die einmal erkannte Unabweisbarkeit des Wortes und seines Sprechers läßt sich ja nicht mehr abtun. Entweder der Mensch gerät vor ihr in einen heillosen Widerspruch mit sich selbst, seinem gesamten Wollen und Wirken, oder er gibt sich in Liebe hin und schließt sich dem neuen, umfassenden, das Persönliche und eigene tief unter sich lassenden Leben der Lie­be an, das vom Herrn ausgeht: er wird Rebe am Weinstock. Der Mensch lebt viel mehr in Vorstellungen von der Welt als in dieser selbst; im Wort aber begegnet ihm die stärkste äuße­re Macht, die Wirklichkeit, von der her die Welt wieder Wirklichkeit wird, von da an steht sein Leben unter einem neuen Gesetz; er muß es auf diese Wirklichkeit richten.

Das Wort und der Sprecher sind eins; darauf beruht ja die Kraft des Wortes, daß Gott selbst das Wort ist, und daß Gottes Opfergang das Wort in dem Augenblick, da es den Menschen vernehmlich wird, auch bewahrheitet. Das Wort hat nur mit einer Macht zu ringen, die freilich tausendfältiger Gestalt ist: mit dem Widersacher. Er ver-[351]mag sich in den höchsten Wer­ken des Geistes zu verbergen wie in den Werken tiefster Niedrigkeit; das Wort ist die Liebe, er ist der Haß. Darum hat das Wort die unfehlbare Wirkung, zu einigen und das Reich des Herrn zu bereiten; es ist die Mitte, an die alles Wirken des Herrn gebunden ist. Wo Liebe wal­tet, da wird es bezeugt; da kündigt auch der Sieg des Wortes sich an. Denn im Menschen ist nur diese eine völlig unüberwindliche Kraft: die Liebe; und nur mit der Kraft der Liebe wird er siegen für das Reich Gottes, siegte er auch erst im Tode, auf nicht mehr sichtbare Weise.

Die Liebe kennt ihren Feind und weiß zwischen ihm und dem Geschöpf Gottes wohl zu un­terscheiden; darum wird sie sich nimmer abkehren vom Geschöpf, weil es böse sei; viel­mehr kehrt sie sich vom Bösen im Geschöpfe ab, um ihm das Geschöpf abzuringen. So muß und wird die vom Herrn erweckte, mit ihm verbundene Liebe die Welt umgestalten; sie wird es um so sicherer tun, se mehr das Sakrament sie speist, je inniger sie sich immer aufs neue ver­bindet mit dem Herrn, je mehr ihr die Wurzeln des eigenen Lebens absterben, auf daß sie nur noch lebe aus seiner Kraft. Das Christentum ist ja ebensowenig für wie wider die Welt; es ist ein Leben in Christus und aus der Kraft Christi; und es ist dann vollkommen, wenn dieses Leben nur noch Liebe ist, die nach dem Schöpfer wie nach dem Geschöpfe als seinem Werke trachtet, Lebende und Tote, Vollendete und Ringende umspannt und am heiße-[352]sten für die Seelen derer fleht, die Gottes Reich bestreiten.

Es gibt keine Feindschaft, keinen Gegensatz, keine Spaltung, die nicht die Liebe überwinden könnte und müßte; es gibt vielleicht keine dringendere Aufgabe im Leben als diese: Allen und allem mit Liebe zu begegnen. Ihre Lösung freilich liegt nicht in der Kraft des Menschen; sie wird dem Menschen nur gewahrt, wenn er mit dem Herrn verbunden ist und sein Leben verlo­ren hat an ihn. Der Herr ruft den Menschen durch das Wort, das nicht den geringsten Teil sei­ner Kraft eingebüßt hat, noch jemals einbüßen kann; wer es aufzunehmen vermag und durch das Wort den Herrn und die von ihm durchstrahlte Welt erkennt, muß sich verwandeln; denn die einmal erkannte Wahrheit ist mächtig wie ein Feuer, das entweder reinigt oder zer­stört. Unfehlbar ist die Wirkung des einmal empfangenen Wortes; damit es aber zu dieser Wirkung auf den Geist und die Herzen komme, bedarf es großer Hilfe, der Gnade vor allem und durch sie des Leidens und der Not, aber auch des Gebetes vieler, von denen wir niemals erfahren werden, und denen wir allein danken können, indem wir, im allumschließenden Rau­me der Gläubigen, für die Unbekannten beten.

Quelle: Kurt Ihlenfeld (Hrsg.), Das Buch der Christenheit. Betrachtungen zur Bibel, Berlin-Steglitz: Eckart-Verlag 1939, S. 347-352.

Hier der Text als pdf.

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