
Was Ulrich Eibach 2002 im Evangelischen Soziallexikon zur Bestimmung des Lebens geschrieben, ist immer noch lesenswert:
Von Ulrich Eibach
1. Biologisch
Kennzeichen von Leben sind Stoffwechsel, Bewegung, Wachstum, Vermehrung. Bedingung von Leben ist das Vorhandensein von Zellen mit Erbgut (Genom, Genetik). Leben ist ein Geschehen, das sich auf verschiedenen Integrationsstufen (Zellen, Organe) abspielt, die eine sich selbst regulierende und zentrierte Ganzheit bilden, den Organismus, der als Lebensträger das Individuum konstituiert. Bei höheren Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung beginnt das Leben mit der Verschmelzung von väterlichem und mütterlichem Erbgut. Dessen Neukombination bildet die Grundlage eines genetisch einmaligen Individuums und setzt einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess von Leben in Gang, der mit dessen Tod endet. Biologisch betrachtet dient der Organismus der Weitergabe des Erbguts, ist als solcher sterblich, während das Erbgut in den Nachkommen (Art) weiterlebt. Der Tod tritt ein mit dem unwiderruflichen Zusammenbruch der integrierenden Funktionen des Organismus (Zentralnervensystem, Herz-Kreislauf-System). Bei höheren Tieren, insbesondere Säugern, bildet das Gehirn die zentrale integrierende Instanz, so dass mit dem Hirntod (Tod des Gesamthirns) der Organismus in kurzer Zeit unwiderruflich in seine Teile verfallt (Transplantationsmedizin). Organismen sind sich selbst organisierende „offene Systeme“, die nur in Wechselbeziehung mit ihrer Umwelt leben und sich fortpflanzen können.
2. Anthropologisch
Traditionell hat man unterschieden zwischen körperlichem und seelischem Leben, hat den „Innenaspekt“ des Lebens als Seele bezeichnet, im Gegensatz zum „Außenaspekt“, dem Körper. In der Wechselbeziehung zur Umwelt bilden Körper und Seele eine Ganzheit, den Leib. Er ist konstitutives Ausdrucksfeld der „Seele“ und Eintrittsfeld der Mit- und Umwelt, also auch des kulturellen Lebens (H. Plessner). Leben existiert nur leibhaft, vollzieht sich in Beziehungen der Mitwelt zum leibhaften Dasein und innerhalb des Leibes als Verhältnis der Seele zum Körper. Dabei baut sich die „Innenwelt“ (Seele) durch die Beziehungen zur Mit- und Außenwelt auf. Das „Sein-in-Beziehungen“, das Angewiesensein auf andere und anderes hat seinsmäßigen Vorrang vor dem „Selbststand“, dem „Aus-sich-selbst-Leben“. [934]
In der abendländischen Tradition wurde betont, dass die Seele das Prinzip des Lebens ist. Die Besonderheit menschlichen Lebens wird seit Platon meist damit begründet, dass ihm eine Geistseele eingestiftet ist, die seinshaft Teil hat am „Göttlichen“. Dem entsprach der Dualismus von Körper und Seele, die Abwertung des körperlichen Lebens, das den Menschen von der Verwirklichung seines geistigen Wesens abhalte. Aristoteles betonte zwar mehr die Einheit des seelischen Lebensprinzips, gliederte dieses in eine vegetative, animalische (sensitive) und rationale Seele, die Teil habe am göttlichen Weltgeist (Nous). Letztere zeichne menschliches Leben aus (animal rationale). Im Gefolge griechischen Denkens vertraten die Kirchenväter die Ansicht, dass die Seele eine vom Körper getrennt existierende, wenn auch von Gott geschaffene „Substanz“ sei, durch deren Einwohnung Leben erst zu menschlichem Leben werde. Daraus resultierte die Frage, wann diese Seele dem Körper eingestiftet wird, ab wann der Körper eine Geistseele hat. Einige Kirchenväter (Tertullian, Augustinus, später M. Luther) vertraten die Ansicht, dass die Seele zugleich mit dem körperlichen Samen von den Eltern geschaffen und weitergegeben werde (Traduzianismus), andere, dass die Eltern das körperliche Leben erzeugen, Gott selbst ihm aber in einem besonderen Akt die Seele einstiftet (Kreatianismus), entweder zeitgleich mit der Zeugung des leiblichen Leben durch die Eltern (Simultantheorie, so die meisten Kirchenväter, Albertus Magnus, Calvin) oder zeitlich versetzt dazu (so Thomas v. Aquin in Anschluss an Aristoteles). Der platonische Dualismus von Körper und Seele fand in der Neuzeit seine Fortsetzung in der Entgegensetzung von Geist und Materie durch Descartes, der auch den menschlichen Körper als Maschine betrachtete, die durch die Vernunftseele regiert wird. Insbesondere die Philosophie des deutschen Idealismus orientierte sich in ihrem Menschenbild nur an den höchsten geistigen Fähigkeiten. Mensch ist, wer über Geist, Vernunft verfügt, darin am „Göttlichen“ teilhat und sich kraft des Geistes in Freiheit über die Eingebundenheit in das natürliche Leben erhebt. Demgegenüber hat die Lebensphilosophie (L. Klages, F. Nietzsche) und die Psychoanalyse (S. Freud) den Vorrang der Gefühle, der triebhaften und unbewussten Lebenskräfte für den Lebensvollzug herausgestellt und der Materialismus das Bewusstsein nur als ein Epiphänomen materieller Hirnprozesse verstanden. Der Verlust des Glaubens an eine ewige, geistige Welt („Göttliche“) führte – insbesondere seit C. Darwin den Menschen in Tierreich eingeordnet hatte – dazu, dass seine Sonderstellung im Bereich des Lebens nicht mehr durch die Teilhabe an der geistigen Welt, sondern aus dem Vergleich mit empirischen Leistungen der höchst entwickelten Tiere begründet werden musste. Menschliches Leben ist weniger durch seine biologische (J.G. [935] Herder, A. Gehlen, H. Plessner). Sein Lebenssinn ist nicht identisch mit den biologischen Lebenszwecken (Erhaltung der Art), so dass der Mensch nach dem Sinn seines Lebens suchen muss und ihn in Freiheit gestalten kann, ohne den Grenzen biologischen Lebens entrinnen zu können. Er weiß um seinen Tod und empfindet ihn als Problem. All diese Besonderheiten vermögen allerdings eine einmalige qualitative Besonderheit menschlichen Lebens auf empirischer Basis kaum zu begründen. Wenigstens bei einigen Primaten sind Ansätze von Selbstbewusstsein unverkennbar, ohne dass bisher geklärt ist, wie sich Bewusstsein aus materiellen Hirnprozessen entwickelt. Die Behauptung, dass menschlichem Leben eine seinsmäßige und deshalb auch wertmäßige qualitative Sonderstellung allein deshalb zukomme, weil es biologisch zur Gattung „Mensch“ gehört, wird heute von positivistischen Philosophen auch als Gattungsegoismus (Speziezismus) verworfen (P. Singer).
3. Theologisch
Im Gegensatz zur griechischen Tradition betrachtet die Bibel Körper und Seele nicht als zwei getrennte Substanzen. Leben hat seinen ermöglichenden und tragenden Grund nicht in sich selbst, ist Geschöpf. Anfang und Ende des Lebens sind Fügungen, die dem Erleben und Handeln des Geschöpfs entzogen sind. Auch der Mensch verdankt sein Leben anderen, und zwar letztlich nicht den Eltern (diese sind nach der theologischen Tradition nur causae secundae), sondern Gott, dem Schöpfer (causa prima). „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen“ (M. Luther, Kleiner Katechismus). Auch der Mensch ist hinsichtlich seines Seins und Werdens nicht nur am Anfang, sondern das ganze Leben hindurch von der Gabe des Leben schaffenden Geistes Gottes abhängig (Gen 2,7; Ps 104,29f. u.ö.). Die Zuwendung Gottes ist die alles Leben schaffende und erhaltende Seinsbeziehung, die Vorrang hat vor all dem, was Gott durch die dem Menschen ermöglichte Freiheit zum Handeln wirklich werden lässt. Das Angewiesensein auf die Zuwendung und Liehe anderer, Gottes und der Mitmenschen, ist die fundamentale, Selbstsein ermöglichende und begrenzende Grundstruktur des Lebens. Indem der Mensch diese Abhängigkeit bejaht, versteht er sich als endliches Geschöpf, zu dessen begrenzten Lebenskräften die Fähigkeit zu Leistung und Glück, aber auch zu Entsagung, Leiden und Annahme des Todes gehört. Gelingendes Leben ist nicht mit ungebrochener Gesundheit zu verwechseln. Nicht der Tod als Grenze des Lebens ist ein Übel, sondern das Leiden unter der Leben gewaltsam zerrüttenden Macht des Todes (Röm 8,19ff). Leben ist dem Menschen nicht nur von Gott vorgegeben, sondern auch zur Gestaltung aufgegeben. Er kann den Sinn seines Lebens zwar nicht „machen“, sich ihm als Angebot oder Herausforderung aber öffnen oder ihn verfehlen, und er kann an Sinnlosigkeit leiden (Suizid). Nach christlicher Sicht gelingt das Leben nur, wenn der Mensch nicht auf seine Selbstverwirklichung aus-[936] gerichtet bleibt (Mk 8,35), sondern sich im Glauben auf Gott hin und in der Liebe zum Nächsten öffnet. Leben verwirklicht sich im Mit- und Füreinander (M. Buber), aus und in Beziehungen der Liebe. Irdisches Leben ist bestimmt, teilzuhaben am ewigen Leben Gottes, das nicht erst nach dem Tod beginnt, sondern das irdische Leben qualifiziert als von Gott bejahtes, geliebtes und daher im Tod nicht vergehendes Leben (Joh 11,15; 17,3), zugleich aber das irdische Leben als ein „vorletztes Gut“ (D. Bonhoeffer) erweist. Die Besonderheit menschlichen Lebens besteht darin, dass Gott den Menschen zu seinem Partner, zum Hören und zur Antwort auf sein Wort geschaffen hat. Er ist bestimmt und befähigt, Verantwortung für sein eigenes Leben, das seiner Mitmenschen, der Mitkreatur und die Umwelt zu übernehmen (Gottebenbildlichkeit).
4. Lebensrecht
Nach dem Grundgesetz (Art. 2,2 GG) hat jeder Mensch „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Es wird heute vor allem in Frage gestellt, wenn die spezifischen Signaturen des Menschenlebens, die es von tierischem Leben unterscheiden, noch nicht (Schwangerschaftsabbruch), nicht mehr oder nie (Hirngeschädigte u.a.) empirisch feststellbar sind. Umstritten ist, was zu schützen ist, das Leben oder bestimmte empirisch feststellbare Eigenschaften des Lebens (Selbstbewusstsein, Freiheit u.a.), an deren Vorhandensein empiristisch-positivistische Philosophen (J. Locke, P. Singer u.a.) das Prädikat Person und eine entsprechende Menschenwürde binden. Zu schützen sind dann diese empirischen Qualitäten des Lebens. Die Personwürde ist keine unempirische transzendente Größe mehr. Sie kann durch Krankheit und Behinderung verloren gehen oder gar nicht entwickelt sein. Derartigem angeblich „lebensunwerten“ Leben wird der Wert eines zu schützenden Rechtsguts abgesprochen, insbesondere wenn es für andere und die Gesellschaft zur dauernden Last wird (Euthanasie, Pflege).
Aus christlicher Sicht hat menschliches Leben sein Lebensrecht dadurch, dass es ist, von Gott gewollt und zur Gottebenbildlichkeit geschaffen ist, die erst im Reich Gottes vollendet wird. Diese in Gottes Handeln begründete, realiter noch zukünftige und transzendente Menschenwürde ist schon jetzt als Kontinuum bleibend und jedem Moment des biologischen Lebens zugesprochen, so dass sie weder durch Krankheit noch durch moralisches Versagen in Verlust geraten kann. Die Prädikate Würde und Person sind nicht nur bestimmten neurophysiologischen, geistiges Leben ermöglichenden Hirnleistungen, sondern dem biologischen Lebensträger als Ganzheit zugesprochen. Sie können selbst den frühen Lebensstadien nicht abgesprochen werden, auch wenn im Falle von Konflikten zwischen Leben die Differenzierungsgrade von Leben ethisch bedeutsam werden dürfen (Schwangerschaftsabbruch). Kein Leben muss erst durch besondere Qualitäten und Leistungen den Nachweis seines Rechts [937] auf Leben erbringen. Person ist der Mensch durch das, was Gott an ihm und für ihn tut, zur empirisch fassbaren Persönlichkeit (Person) wird er durch sein eigenes oder das Handeln anderer (Erziehung u.a.). Auch hinter der zerrütteten Persönlichkeit haben wir die von Gott gewollte und geliebte Person zu achten und sie entsprechend ihrer Würde und Hilfebedürftigkeit zu behandeln, unabhängig vom Nutzen bzw. Schaden für andere.
Insofern biologisches Leben soziales und geistiges Leben erst ermöglicht, ist es der immer zu schützende „Basiswert“. Deshalb konkretisiert sich nach dem Grundgesetz die Achtung der Würde (Art. 1,1) im Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und im Verbot der Benachteiligung Behinderter (Art. 2,2 u. 3). „Lebensunwert“ ist christlich gesehen kein denkbarer Begriff (K. Barth).
Der besondere Beitrag, den das christliche Verständnis von Menschenwürde in die Ethik einbringt, muss vor allem in der Unterscheidung von Wert (im Sinne von Würde) und Nutzen entfaltet werden. Menschliches Leben stellt einen Letzt- und Selbstwert dar, der wenigstens hinsichtlich seines Daseins selbst nicht nach seinem „Wert für“, seinem Nutzen verrechnet, nicht bloß als Mittel zum Zweck gebraucht werden darf (I. Kant). Umstritten ist ethisch und theologisch, ob auch nichtmenschlichem Leben ein entsprechender Eigenwert zukommt. Das Recht kennt einen solchen nicht. Lebensphilosophische Ansätze gehen davon aus, dass allem Leben eine verschieden kräftige Ausprägung eines allgemeinen Willens zum Leben innewohnt, dass der im Menschen seiner selbst bewusst gewordene Wille zum Leben Ehrfurcht vor allem Lebendigen gebietet (A. Schweitzer), dass das Dasein selbst ein solches Sollen gebietet (H. Jonas). Ob und wie ein solches Sollen ohne Rückgriff theologische Aussagen zu begründen ist, ist umstritten (Umwelt). Aus christl. Sicht ist Gott der Schöpfer allen Lebens und verleiht ihm ein Daseinsrecht primär um seiner selbst willen (Ps 104). Der Mensch hat die Mitgeschöpflichkeit allen Lebens zu achten, trägt Verantwortung für das Leben (Gen 2,15). Seinen Eigenwert kann und soll er aber nicht unterschiedslos, sondern abgestuft nach der Höhe seiner Entwicklung und dem Grad seiner Lebensdienlichkeit schützen.
5. Lebensqualität
Der Begriff bezeichnet die materiellen, seelischen und sozialen Bedingungen für eine human gelingendes Leben, sowohl in Hinsicht auf objektiv beschreibbare Lebensumstände (Ernährung, Gesundheitsleistungen, Arbeitsbedingungen, natürliche Umwelt, Bildung, Teilhabe am sozialen Leben u.a.) als auch das subjektive Wohlbefinden (Lebensstandard, Existenzminimum). Der Begriff entstand in den ökologischen Krisenerfahrungen der 1960/70-er Jahre, als man die Bedrohtheit des Lebens durch technische Zivilisation und Bevölkerungswachstum erkannte (Club of Rome). Wachstum muss nicht ein Mehr an Lebensqualität bewirken. Insbesondere in der Medizin wird der Be-[938]griff („quality of life“) heute gebraucht, um die einseitige Bemessung des Erfolgs von Behandlungen an der Verlängerung der Lebenszeit, der Remission von Krankheiten u.a. durch das subjektiv wahrgenommene und bewertete Wohlbefinden der Patienten zu korrigieren (Gesundheit). Durch diesen „Subjektbezug“ des Begriffs Lebensqualität will man zugleich der Gefahr entgegentreten, dass aus einer Bemessung der Lebensqualität an „objektiven“ Kriterien eine Fremdbestimmung wird, die Patienten von der Zuteilung von Gesundheitsleistungen ausschließt, oder man gar einen „Lebensunwert“ konstatiert. Diese Gefahr ist nur zu vermeiden, indem die Bemessung der Lebensqualität ausschließlich dem Zweck dient, das Wohlergehen der einzelnen Patienten zu fördern, ihnen durch Behandlungen nicht mehr zu schaden als zu helfen, nicht aber dazu, Menschen mit mangelnder Lebensqualität aus ökonomischen oder sozialen Gründen Gesundheitsleistungen vorzuenthalten. Die zunehmend übliche Bemessung der Lebensqualität nach standardisierten Verfahren lässt diese schnell zum derartigen Ausschlusskriterium werden.
Lit.: K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, III/41951, 366-683 – H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation, 1979 – W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 1983 – A. Schweitzer, Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus 5 Jahrzehnten, 19885 – P. Schölmerich/G. Thews (Hg.), „Lebensqualität“ als Bewertungskriterium in der Medizin, 1990 – G. Seifert (Hg.), Lebensqualität in unserer Zeit. Modebegriff oder neues Denken, 1992 – M. Honecker, Grundriß der Sozialethik, 1995, 77-149 (Lit.) – G. Rager (Hg.), Beginn, Personalität und Würde des Menschen, 1997 (Lit.) – P. Singer, Leben und Tod. Der Zusammenbruch der traditionellen Ethik, 1998 – U. Eibach, Menschenwürde an den Grenzen des Lebens. Einführung in ethische Probleme des Gesundheitswesens aus christlicher Sicht, 2000 (Lit.).
Martin Honecker u.a. (Hrsg), Evangelisches Soziallexikon, NA, Stuttgart 2002, Sp. 933-938.