Joseph Wittig über das Kreuz: „Wer dem Kreuze aus­weicht, trifft nie das Wesen der Dinge. Ihr denkt, ich sei Pessimist! O nein, ich bin Christ.“

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Das Kreuz

Von Joseph Wittig

Das Kreuz ist die mathematische Formel des Lebens. Nach dieser Formel kann man alle Le­bensaufgaben und Lebensfiguren aus­rechnen. Es stimmt alles nur nach dieser Formel. Nur im Kreuze löst sich das Leben in ewige Seligkeit aus. Schon die Kirchenväter hatten solche Ge­danken, und sie wußten, daß selbst die heidnischen Wei­sen viele Jahrhunderte vor Christus an das Kreuz denken mußten, wenn sie den Aufbau der Welt und des Lebens vor ihren Schülern darlegen wollten. Sie konnten es aber auch beinahe nicht besser sagen als ich. Denn es läßt sich nicht sagen, es läßt sich nur leben. Die Sprache des Christentums hat freilich ganz richti­ge Ausdrücke gefunden. Sie löste den Namen Kreuz von den beiden überquerten Holzbalken und gab ihn allen Erscheinungen des Lebens, in denen die gerade Linie des Lebens von einer anderen Linie irgendwoher gebrochen oder durchquert wird, dort, wo der Mensch einen Stoß bekommt. Aber das Gerede von Kreuz und Kreuztragen hat einen frömmelnden Beiklang oder gar Hauptklang bekommen. Wir ver­wenden es als Trost, wo wir nichts mehr anderes zu sagen wissen, möchten aber viel lieber etwas anderes sagen. Und wir sagen es mehr mit schwächli­chem Bedauern als mit bejahender, führender und auf­bauender Kraft. „Auf dem Querweg allein kommst du in die Heimat! Triffst du auf deiner Straße keinen Querweg, so ist es über­haupt nicht die richtige Straße!“ so müßten wir reden. Ist eine Lebenslinie gebrochen, so spre­chen die Menschen von verfehltem Leben. Dabei ist die gebrochene Linie gerade die richtige. Es ist eine falsche Übersetzung des Weisheitswortes: „Den Gerechten führt Gott gerade Stra­ßen.“ „Rechte Straßen“ muß es heißen. Die geraden Straßen sind aber nicht die rechten, son­dern die Kreuz­straßen. Das Kreuz ist das Vorzeichen und Wesenszeichen aller rechten und wahren Dinge. Sind nur jene Ehen die rechten, die glücklich sind? Dann müßte das Wesen einer Sache aus den Aus­nahmen bestimmt werden! Das Kreuz steht im Wesen der Ehe, und nur unverheiratete Phantasten sehen es nicht. Wird die Freundschaft nicht erst echt, wenn sie zum Kreuze kommt? Wer dem Kreuze aus­weicht, trifft nie das Wesen der Dinge. Ihr denkt, ich sei Pessimist! O nein, ich bin Christ. Kreuzweg und Kreuzigung Christi haben mich von der Lüge des Lebens erlöst. Es ist eine alte Völkerweisheit, daß der Mensch am Leben verder­ben muß, und wer solch alter Weis­heit nicht glaubt, der gehe auf die Straße; da zeigt sich ihm das Leben. Das Leben erhält sich nur, wenn es immerfort im Kreuz- winkel läuft — wenn immer wieder etwas gegen das Leben da ist und den Lauf abbiegt.

In scharfem Kreuzeswinkel wird das Leben vom Priestertum getroffen. Das Priestertum kommt von außen auf die Linie des Lebens zu, wie sich ein von Arbeitern gegrabenes Fluß­bett dem Naturbett des Stromes nähert. Einmal geschieht es, daß die letzte Wand durchbro­chen wird. Dann reißt es den Strom aus dem alten Naturbett heraus und stürzt es in den neuen Lauf. Wehe den Tröpflein, die im alten Laufe bleiben! Sie müssen vertrocknen oder ver­sumpfen.

Aber es ist nicht so, als ob das Priestertum nur an der einen oder anderen Stelle auf das Leben träfe; es trifft auf das Leben in seiner ganzen Laufeslänge. Denn das Priestertum strömt brei­ter, als das Leben lang ist.

Wenn Priestertum und Leben physikalische Dinge wären, müßte das Leben von Natur dem Lauf des Priestertums folgen. Aber es sind Dinge, die außerhalb des Naturbereiches liegen oder darüber hinaus­gehen. Darum heißt es hier nicht müssen, sondern wollen— oder dürfen. Es ist der Bereich der Freiheit und der Gnade. Wer es uns gab, in Freiheit und Gnade das Kreuz im Leben zu sehen, zu bejahen, zu lieben, der hat uns erlöst. Im scharfen Kreuzes­winkel bog unser Leben ab von seinem alten Lauf, und jubelnd rief der Apo­stel: „Die Welt ist mir gekreuzigt worden und ich der Welt.“

In der Elementarschule wurden uns die ersten Buchstaben in großen, schönen Figuren gezeigt. Ich freue mich jetzt noch in der Erinnerung dieser prächtigen weißen Täfelchen mit den stol­zen schwarzen Buchstaben. Ganze Wörter wurden aus ihnen zusammen­gesetzt. Sie leuchteten über die ganze Klasse. Aber wie ganz anders begegneten mir diese Buchstaben auf meinem Lebenswege, in Zei­tungen und Büchern, in griechischen und lateinischen Texten, in schier unleserlichen Handschriften! Ich habe niemals mehr so große, schöne Buchstaben gesehen. Aber ich brauche sie auch nicht mehr, denn ich kann jetzt lesen. Ich könnte es wohl nicht, wenn ich sie nie gesehen hätte.

In elementarer Dramatik wurde das Kreuz auf Golgatha errichtet und das Ewige Leben daran­geheftet, ein Buchstabenbild von ein­fachster Deutlichkeit und erschütterndster Schönheit, einpräglich für alle, auch für die auf den hintersten Bänken der Menschheit, die unter dem Schulzwang des Gottesstaates steht. Aber auch dieser Buchstabe des Lebens war nur so deut­lich und schön zum Lernen. Die Menschen sollten ihn später, wenn sie ihn erst lesen gelernt hätten, in tausend anderen, in griechischen, lateinischen, arabischen, koptischen, in romani­schen, byzantinischen und gotischen, in leserli­chen und schier unleserlichen Formen wieder­erkennen.

Geschichte und Legende erzählen, wie die Menschheit diesen Buchstaben lesen lernte. Dem hl. Apostel Petrus stellte Gott das Kreuz umgekehrt hin, den Querbalken nicht oben, sondern unten. Aber Petrus erkannte den Buchstaben sogleich. Der Apostel An­dreas, als er getötet werden sollte, sah ein seltsames Balkengefüge, dem Buchstaben X ganz ähnlich. Daran sollte er zum Tode gemar­tert werden. Und siehe, er erkannte den Buchstaben und rief über die gan­ze Gottesschule hinweg, so daß wir es jetzt noch in den Metten des 30. November hören: „O wunderbares Kreuz! O Kreuz meiner Sehnsucht! O Kreuz, das du leuchtest über die ganze Welt! Nimm auf dich den Schüler Christi! Durch dich soll der mich emp­fangen, der an dir sterbend mich erlöste! O liebes Kreuz, das du Zier und Schönheit von den Gliedern des Herrn empfangen hast, nimm auf dich den Schüler Christi!“ Und der Apostel Johannes, der so sehr vom Geiste getroffen war, daß er allein von den zwölf Aposteln nicht das leibliche, sondern das von aller Leiblichkeit freie geistige Marty­rium erlitt, zeichnete geistig den Buchstaben des Kreuzes, indem er in der Vorrede seines Evangeliums schrieb:

„Er kam in sein Eigentum“ — siehe, das ist die gerade Linie! „Aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf“ — siehe die Querlinie! Und als der Kreuzesbote Paulus sah, daß er nicht den Lauf der Welt gehen dürfe, sondern am Kreuzweg abbiegen müsse, da schrieb er: „Mir ist die Welt gekreuzigt worden und ich der Welt.“ Und er pre­digte Christus, aber nicht den Christus, den die Juden wollten und der auf der geraden Linie des Lebens das Judenvolk zum Herrscher­volk der Erde machen sollte, sondern, wie er schreibt, „Christus den Gekreuzigten“. Johannes und Paulus waren weit über die An­fangsgründe des göttlichen Leseunterrichtes hinaus; sie fanden schon in ihrem apostolischen Alltagsleben das Kreuz. Und mit ihnen beginnt die Reihe der Schüler Jesu, die auch im unleserlichsten Lebenstexte das Kreuz sehen und dann sogleich die geheimnisvolle Schrift des Lebens verstehen. Denkt an den lieben, lieben Märtyrer­bischof Ignatius von Antiochien und seinen Brief, in dem er schrieb: „Meine Liebe zur Welt ist ge­kreuzigt worden!“

O lichte, schöne Welt! Zwar war der Himmel nicht mehr so weit und blau vom Osten bis Westen, vom Süden bis Norden, wie er einst in Neusorge war. Ach, ich sah den ganzen Win­ter über nur ein Stück­lein vom Himmel über dem viereckigen, engen Alumnatshofe, in den das Fenster meines kleinen Zimmers ging. Und das goldene Gestirn, das lange über dem Hofe stand, alle Nächte, der Orion, zeigte mir seine fünf leuchtendsten Sterne immer in der Form, des Kreuzes. Aber es kam doch auch der Frühling, und das Fenster der Alumnatskapel­le blieb manchmal ein wenig offenstehen, so daß wir das ganze Wunder des Frühlings drüben am Oderufer und an der Holteihöhe sehen konnten, auch den Menschenfrühling, der dort in bun­ten Kleidlein und in lieblichster Bewegung einherging. Und drunten im Garten, die Ziegel­mauer war nicht so hoch, daß wir nicht hätten hinüberschauen können zum Oderufer und zur Holteihöhe. Und an manchem Tag zur Vesperzeit durften wir Besuche von draußen empfan­gen. Was kam da für Welt in unseren düsteren Spei­sesaal! Wir durften auch zweimal in der Woche ausgehen, durften auch wohl ein Stündlein am Kaffeetisch freundlicher Familien sit­zen. Viel lichter und schöner erschien uns die Welt in solchen kleinen, besonders geschmück­ten Dosen, als sie uns früher erschienen war, wenn wir sie den ganzen Tag über, in des Tages Last und Hitze, in Not und Werktagskleid gesehen hatten. Oh, keiner mochte dem anderen sagen, wie schön und licht die Welt sei. Keiner mochte es sich selber sagen. Denn es schob sich darüber der Quer­balken des Priestertums, dessen Schönheit wir nur in weltabge­wandter Betrachtung erkennen konnten. Das war das Kreuz, das für uns bereitet war, daran wir gehef­tet sein sollten, weil wir nicht mehr Kinder der Welt, für uns, sein wollten, sondern Kinder Gottes lebend, leidend und sterbend für andere — Priester.

Ihr lieben Frauen, die ihr da an meinen Weg kommt, lasset das Mitleid! Trocknet das Tröpf­lein ab, das aus eurem Auge quillt. Es muß sein, um eurer Kinder willen — um eurer selber willen. Ihr Men­schen, es müssen Männer sein, die solche Durchkreuzung ihres Lebens mit freiem Ja auf sich nehmen, damit ihr es selber lernet und nicht zugrunde geht an ungebroche­nem Leben.

Es muß sein. Das Leben ist so. Man kann gar nicht nüchtern genug die Wirklichkeit erfassen und ergreifen. Doch ich will nicht weiter davon reden, aber einer meiner Freunde will ein gro­ßes Buch schreiben über das Kreuz der Wirklichkeit. Und es ist mir, als hörte ich von ferne das alte Reiterlied, in dem es heißt: „Zu Straßburg, ja zu Straßburg — Soldaten müssen sein.“ — Und da die Soldaten Jesum hinführten, ergriffen sie einen gewissen Simon von Cyrene, den Vater des Alexander und Rufus, die den Lesern des Markusevangeliums wohl bekannt gewesen sein müssen, und legten ihm das Kreuz auf und zwangen ihn, es Jesu nachzutragen.

Es folgte ihm aber eine große Menge Volkes und Weiber, die ihn beklagten und beweinten. Jesus wandte sich zu ihnen und sprach: „Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder! Denn siehe, es werden Tage kommen, an denen man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, und die Brüste, die nicht gesäugt haben. Dann werden sie anfangen zu den Bergen zu sagen: Fallet über uns! — und zu den Hügeln: Bedecket uns! Denn wenn man dies am grünen Holze tut, was wird mit dem dürren geschehen?“

Sie führten aber auch zwei andere, die Missetäter waren, mit ihm hinaus, auf daß sie getötet würden.

Und als die Soldaten an den Ort kamen, den man Schädelstätte heißt, kreuzigten sie Jesus daselbst samt den Straßenräubern, den einen zur Rechten, den anderen zur Linken.

Quelle: Joseph Wittig, Getröst, getröst, wir sind erlöst. Ein Buch von den Osterzeiten des Lebens mit zahlreichen andern Ostergeschichten, Leimen: Marx Verlag 1994, S. 124-128.

Hier der Text als pdf.

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