
Wie kaum ein anderer hatte sich Frieder Schulz (1917–2005) um die historische wie auch theologische Erschließung der gottesdienstlichen Gebete verdient gemacht. Hier die Einleitung zu seinem Artikel „Das Gebet im deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst“ (TRE 12, 1984):
„Nächst dem Predigtamt ist das Gebet das höchste Amt in der Christenheit“ (WA 34/1, 395,14f). „Man kann und soll wohl überall, an allen Orten und zu jeder Stunde beten; aber das Gebet ist nirgends so kräftig und stark, als wenn der ganze Haufen einträchtig miteinander betet“ (WA 49, 593,24-26). Die Äußerungen M. Luthers über die Bedeutung des Gebers in der versammelten Gemeinde und sein häufig wiederholter Hinweis auf Gebot und Verheißung des Gebets kennzeichnen die Wandlung in Gebetsverständnis und Gebetspraxis nach dem Verständnis der Reformation: Das Gebet ist nicht Mittel und Werk, um Gottes Gnade und Hilfe zu erlangen, sondern Antwort des Glaubens auf das, „was Gott an uns gewendet hat“ (Luther).
Weil also das Gebet Frucht der Evangeliumsverkündigung ist, hat die Darstellung seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner Ausdrucksformen in erster Linie das Gebet in der versammelten Gemeinde ins Auge zu fassen, wo das die Antwort auslösende Wort gepredigt wird. Das Gebet des einzelnen ist, wie die Liebestat des einzelnen, im Grunde nur Auswirkung und Ausübung des durch die Predigt geweckten und genährten Glaubens. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird im folgenden das evangelische Gemeindegebet behandelt, während die Entwicklung des privaten Betens einschließlich seiner zeitweise engeren, zeitweise auch gestörten inhaltlichen und praktischen Beziehung zum gottesdienstlichen Beten auch aus sachlichen Gründen im Artikel Gebetbücher dargestellt ist.
Das „Kirchengebet“ aus reformatorischem Ansatz ist grundsätzlich volksprachliches Gemeinde-Gebet, inhaltlich begründet, geprägt und abgegrenzt durch die biblische Überlieferung, insbesondere durch das exemplarische Leitbild des Vaterunsers. Gleichwohl knüpft dieses evangelische Gemeindegebet der Reformationszeit durchweg an überlieferte Ausdrucksformen des öffentlichen Gebets der abendländischen Christenheit an und begründet seinerseits wieder eine eigene Tradition des von der verdeutschten Bibel geprägten gottesdienstlichen Betens, eine Tradition, die sich auch dann durchhält, wenn das Bedürfnis nach Zeitgemäßheit in Sprache und theologischer Aussage vorherrschend ist oder wenn gegenüber dem als formelhaft empfundenen geprägten Gemeindegebet neue Lebendigkeit im persönlichen und situationsgerechten „freien“ Gebet des Vorbeters gesucht wird.