Tränenglaube, Tränengabe und Tränengebet
„Warum weinst du und warum isst du nichts? Und warum ist dein Herz so traurig?“ fragt Elkana besorgt und zugleich liebevoll seinen Frau Hanna. „Bin ich dir nicht mehr wert als zehn Söhne?“ (1Samuel 1,8) Untröstlich ist sie in ihrer Kinderlosigkeit, so dass sie darauf nichts zu antworten weiß. Stattdessen begibt sich Hanna in den Tempel in Silo, „von Herzen betrübt und betete zum HERRN und weinte sehr.“ (1,10) Was sie Gott zugeweint hat, behält dieser im Gedächtnis; zuhause in Rama wird sie schwanger und gebiert Samuel, von dem sie zu Recht zu sagen weiß: „Ich hab ihn vom HERRN erbeten.“ (1Samuel 1,20)
Im Alten Testament zeigt sich das Leben vor Gott mitunter tränenreich, so, wenn in Psalm 42 gebetet wird: „Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott? Daran will ich denken und ausschütten mein Herz bei mir selbst.“ (vv 4-5) Und im Gebet für Israel wird Gott angegangen: „HERR, Gott Zebaoth, wie lange willst du zürnen beim Gebet deines Volkes? Du speisest sie mit Tränenbrot und tränkest sie mit einem großen Krug voll Tränen.“ (Psalm 80,5-6) Schließlich lässt Psalm 56 David gottergeben beten: „Zähle die Tage meiner Flucht, sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.“ (v 9)
Was die Zudringlichkeit von Tränen im Neuen Testament betrifft, erweist sich die Geschichte von Jesu Salbung durch die Sünderin (Lukas 7,36-50) in ihrer Intensität unübertroffen. Eine offensichtlich stadtbekannte Sünderin verschafft sich im Haus eines Pharisäers Zugang zu Jesus beim Mahl. Sie tritt von hinten zu seinen Füßen, weint und fängt an, seine Füße mit Tränen zu netzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsst seine Füße und salbt sie mit dem Salböl (v 37). Ihrem distanzlosen Verhalten gibt Jesus den Vorzug gegenüber der pharisäischen Gastfreundschaft und verkündet ihr: „Dir sind deine Sünden vergeben. […] Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!“ (v 48.50)
In ihren Tränenfluss zeigt sie: Mein Lebensweg hat mich ins Nirgendwo gestellt; als Sünderin bin ich vor Gott und den Menschen verloren. Wer so über sich selbst weinen kann, ist keine verstockte Sünderin, die ihr Gesicht zu wahren sucht. Vielmehr wendet sie mit ihren eigenen Tränen Jesus hingabevoll zu. Diese netzen seine Haut, kommen ihm zugute. So kehrt sich das eigene Leben dem Heiland leiblich zu: Du bist mein Ein und Alles. Ich bin ganz und gar bei dir. Dieser Tränenglaube ist es, dem Jesus die Sündenvergebung zuspricht.
In der spirituellen Tradition spricht man von einer Tränengabe als Charisma. Wo sich Tränen der Reue, des Mitleids oder der Begegnung zeigen und diese den Weinenden zur Umkehr zu Gott begleiten oder aber den Dienst am Nächsten finden lassen, gelten sie als unverdiente Kostbarkeiten für das eigene Glaubensleben. Mit Teresa von Avila gesprochen: „Wie sehr wir auch Meditation halten und uns sogar ausquetschen und Tränen hervorpressen mögen, es quillt von da kein Wasser hervor; es wird nur geschenkt, wem Gott will, oft gerade dann, wenn die Seele am achtlosesten ist.“[1] Ein Tränenglaube ist weder ein kopflastiger Gedankengang noch eine abstrakte Weltanschauung, sondern wirkliche Lebensbeziehung: Gott wird nicht länger als Schicksalslenker, Höchstmacht oder anonymer Ursprungsgrund missverstanden, sondern als Vater Jesu Christi, den „wir getrost und mit aller Zuversicht bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater“ (Martin Luther).
Warum weinen Menschen lebenslang? Folgt man Ad Vingerhoets, Professor für klinische Psychologie an der Universität Tilburg/Niederlande, dann wollen Tränen vor allem eine mitmenschliche Verbindung herstellen. Als emotionales Kommunikationsgeschehen schaffen sie soziale Verbundenheit. „Wenn wir gute Gründe haben zu weinen, dürfen wir auf Verständnis und Hilfe rechnen. Genau dann zeigt sich die verbindende Kraft der Tränen.“[2] So hat es ja schon Plinius der Jüngere (61/62 – ca. 114 n.Chr.) beschrieben: „Es gehört zum Menschen, Schmerz zu empfinden, Gefühle zu haben, dennoch sich zu fassen, Trost anzunehmen, nicht aber, keiner Tröstungen zu bedürfen […] Es gibt auch eine Lust am Schmerz, zumal, wenn man sich an der Brust eines Freundes ausweinen kann, bei dem du für deine Tränen Lob oder Nachsicht finden kannst“.[3]
In diesem Sinne hilft ein Tränengebet auch unserer Verbundenheit mit Gott. Tränen sind das „Grundwasser der Seele“ (Gotthard Fuchs), das uns auf Gottes Wort hin ihm nahekommen lässt. Wenn die eigene Tränen Gott zufließen, gerät unser Leben heilsam in Fluss. So wird es ja den „Lammgetreuen“ im Buch der Offenbarung zu guter Letzt in Aussicht gestellt: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (21,3-4)
[1] Teresa von Avila, Innere Burg IV, 2,9; zitiert nach: Teresa von Avila, Wohnungen der Inneren Burg, hrsg. v. U. Dobhan/E. Peeters, Freiburg i.Br.: Herder 2005. S. 157.
[2] Ad Vingerhoets, Signal der Tränen. Warum Weinen verbindet und der Mensch auf Verständnis und Hilfe hoffen kann, Zeitzeichen, Nr. 4/2019.
[3] Ep. VIII,16,4f (Übersetzung nach H. Philips/M. Giebel, Plinius Epistulae. Sämtliche Briefe. Lateinisch/ Deutsch, Stuttgart: Reclam 2010, S. 587).