Wilhelm Kamlah über die Widerfahrnis – „Unser aller Leben ist eingespannt zwischen den Widerfahrnissen Geburt und Tod. Gleichsam das erste und das letzte Wort hat für uns nicht unser eigenes Handeln“

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„Widerfahrnis“ ist kein geläufiger anthropologischer Begriff, obwohl er das aufnimmt, was in der klassischen griechischen Philosophie mit páthos bezeichnet wird. Wo in der Gegenwart die menschliche Handlungsmächtigkeit betont wird, findet die Widerfahrnis keinen Anklang. In seiner Philosophischen Anthropologie weiß jedoch der kriegsversehrte Philosoph Wilhelm Kamlah (1905-1976) Sprachkritisches in Sachen Widerfahrnis zu schreiben:

Über die Widerfahrnis

Bildungssprachlich geläufig dagegen ist uns die Unterscheidung von „Handlung“ und „Wider­fahrnis“ unter den grammatischen Termini „Aktiv“ und „Passiv“. „Werner besucht seine Freundin“ – Werner „handelt“, die Freundin „wird besucht“, wird „behandelt“, sie „erleidet“ den Besuch. Werner „macht“ den Besuch, die Freundin „empfängt“ ihn, wobei sie „leiden“ oder auch „sich freuen“ mag – von diesem Unterschied wird abge­sehen, wenn wir von „Wi­derfahrnis“ sprechen, ähnlich wie der grammatische Terminus „Passiv“ den etymologi­schen Bezug auf das lateinische „pati“ vergessen läßt. Nicht allein Widriges, son­dern auch Beglü­ckendes widerfährt uns.

Menschen handeln aneinander, es widerfährt uns „Freud und Leid“ durch Menschen, die uns helfen, lieben, verlassen, verletzen. Dem entsprechen zahllose Verba, die wie die soeben zi­tierten eine konvertierbare Relation ausdrücken. Widerfährt uns aber eine Krankheit, strah­len­des Wetter, Zahnschmerz, der Tod eines geliebten Menschen, ein Autounfall, eine gute Ernte, eine schlaflose Nacht, so machen wir, da wir ja nicht Personen als handelnde ver­ant­wortlich machen können, „das Schicksal verantwortlich“. Es „geschieht uns etwas“, als ob es uns „geschickt“ worden sei. Unsere gläubigen Vorfahren sprachen dann von einer „Schi­ckung“ oder „Fügung Gottes“ oder, vor dem Christentum, von Handlungen mannigfacher Götter.

Es geschieht vielerlei, es gibt Geschehnisse, „Ereignisse“. Wir reden aber nicht von „Ereignis­sen“, wenn etwas geschieht, das für niemanden ein „Widerfahrnis“ ist. Auch „Naturereignis­se“ wie das Erdbeben von Lissabon sind solche Vorkommnisse in der Na­tur, von denen Men­schen betroffen werden. Der Prädikator „wi­derfahren“ ist zweistellig: „etwas widerfährt je­mandem“. Doch wir können davon absehen, wem etwas widerfährt und dann sa­gen: „etwas ereignet sich“. Z. B. Regen ereignet sich, umgangs­sprachlich abgekürzt: „es regnet“.

Die meisten Ereignisse, die Menschen widerfahren oder in der Vergangenheit widerfuhren, sind nicht Widerfahrnisse „für mich“. Zeitungen und Geschichtsbücher erzählen von Hand­lungen und Widerfahrnissen, die mich nicht unmittelbar betreffen. Die Dichter fingieren wei­tere Ereignisse, die mich auch nicht unmittelbar be­treffen, wohl aber mittelbar, indem ich „teilnehmend“ von dem allen erfahre. Und neben demjenigen, das „mir“ widerfährt, steht dasjenige, das „uns“ widerfährt, einer Gruppe von Menschen oder „uns Menschen“ allen.

Unser aller Leben ist eingespannt zwischen den Widerfahrnissen Geburt und Tod. Gleichsam das erste und das letzte Wort hat für uns nicht unser eigenes Handeln. Aber auch, wenn wir handeln, widerfährt uns stets etwas. Es gibt Widerfahrnisse ohne Handeln, aber es gibt kein pures Handeln. Auch ein so mächtiges Handeln wie das sogenannte „schöpferische“ ist doch stets auf vorgegebene Bedingungen angewiesen und Störungen ausgesetzt, so daß es mehr oder weniger oder gar nicht „gelingt“. Handlungen führen zum Erfolg oder zum Mißerfolg oder auch zu unerwarteten Neben­folgen.

Wer z. B. Auto fährt, dem kann es widerfahren, „passieren“, daß der Motor nicht anspringt. Er wird das enttäuscht bemerken. Aber auch das erwartete Anspringen des Motors ist ein Widerfahr­nis. Desgleichen das Aufleuchten des roten oder des grünen Lichtes der Ampel.

Widerfahrnisse sind also stets „erfreulich“ oder „widrig“, an­genehm oder unangenehm, „gut“ oder „schlimm“ („schlecht“). Sie widerfahren uns bezogen auf unsere Bedürftigkeit. Einem Stein widerfährt nichts, auch einem Gerät nicht. Wird ein Auto bei einem Zusammenprall beschädigt, so trifft, recht verstanden, der Schaden nicht das Auto, sondern den Autofahrer.

Der Unterschied von „gut“ und „schlecht” (schlimm«) ist zunächst nicht ein moralischer Unterschied, sondern zunächst zu verstehen als Unterschied an Widerfahrnissen, die stets auf unsere Bedürftigkeit bezogen sind. Diesen – der Antike noch selbstverständlichen – Sachver­halt klarzustellen ist heutzutage eine dringliche Aufgabe der Anthropologie.

Nehmen wir die Handlungen hinzu, dann ist der Unterschied von gut und schlecht zunächst der Unterschied von gelingen und mißlingen. Ein „guter Redner“ ist einer, dem das Reden zu gelin­gen pflegt.

Auf Befragen sagen wir aber auch: „es geht mir gut“, ohne daß wir handeln und ohne auf ein Widerfahrnis als Ereignis zu ver­weisen. Wir befinden uns in guten oder schlechten „Zustän­den“, wir haben Vermögen oder sind arm, wir sind gesund oder leiden an einer Krankheit, müssen für die Dauer den Verlust eines Glie­des, das Versagen eines Organs ertragen, wir haben Freunde oder haben keine, sind einsam. Altern, Rekonvaleszenz wiederum sind „Vor­gänge“, desgleichen die Verhärtung einer Ehe, die Bevölke­rungsexplosion. Der Terminus „Widerfahrnis“ darf also nicht auf Ereignisse beschränkt werden.

Ein gutes Widerfahrnis, das ein langdauernder Vorgang ist, etwa das Zunehmen der Kräfte und Fähigkeiten in Kindheit und Jugend, wird wie das Anspringen des Motors meist nicht beachtet, als Widerfahrnis nicht vermerkt. Wohl dagegen ein schlechtes an­dauerndes Wider­fahrnis wie das Altern, das obendrein von ereig­nishaften Widerfahrnissen des Versagens der Kräfte, schmerzhafter Beschwerden durchsetzt ist.

Hier Kamlahs Text „Widerfahrnis und Handlung“ als pdf.

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