
Von Alfons Deissler
- Grundlegung
Religionsgeschichtlich wird die „Existenz Israels vor JHWH“ mit Recht als „ethische Religion“ gekennzeichnet. Selbst in der Priesterschaft gibt es „eine Vorordnung des Ethischen vor dem [37] Rituellen” (Hempel, a. a. O. S. 21). Der Wurzelgrund für das alttestamentliche Ethos ist die JHWH-Offenbarung. Es handelt sich bei ihr um die Selbstvorstellung des einen Gottes als „JHWH“, d. h. als des Gottes der entschiedenen personalen Zuwendung zu Welt und Mensch, einer Zuwendung, welche in Schöpfung und Geschichte ihren eigenen Weg legt in eine absolute Zukunft hinein, die Paulus zusammenfaßt in die Formel: „Gott alles in allem (und in allen!)“ (1 Kor 15,28).
Auf die bundeswillige personale Zukehr Gottes zum Menschen soll der Mensch („als Partner Gottes“) antwortend sich verwirklichen in einem tätigen „Ja“ zu JHWH u. damit „in, durch und mit JHWH” sich der Welt und der menschlichen Gemeinschaft zukehren in Gesinnung, Wort u. Tat. Damit werden „Weltdienst“ und „Menschendienst“ im Alten Testament in den Rang des „JHWH-Dienstes“ erhoben.
- Der Dekalog
Das altbundliche Ethos kommt am dichtesten im Dekalog zu Wort. In Ex 20,1-17 ist er das Kernstück der jetzigen Sinai-Perikope (19-24), im Deuteronomium (5,6-21) bildet er als direktes Gotteswort die Basis für die mosaische Gesetzespredigt. Sein hauptsächlicher Verkündigungsort ist der offizielle JHWH-Kult. Man hat das „Zehnwort“ von daher als „apodiktisches JHWH-Recht“ bezeichnet. Doch ist die direkte Gebots- und Verbotsform, wie sie für den Dekalog charakteristisch ist, ursprünglich in der Lebensunterweisung der Sippe und der Weisheitslehrer (Familie und Schule) zu Hause. So gehört das „Zehnwort“ ebenso dem Ethos zu wie dem Recht.
Wie ein Vergleich der beiden Dekalogfassungen dartut, hat der Dekalog eine Wachstumsgeschichte. Dennoch ist der Glaube Israels an seine Abfassung durch Mose insofern im Recht, als mit der JHWH-Verkündigung das „Ja“ zu JHWH auch das „Ja“ zur menschlichen JHWH-Gemeinschaft umgreifen mußte. In der Tat hat nur 200 Jahre nach Mose der beamtete Hofprophet Natan seinem König David den Ehebruch mit Batseba und die Tötung ihres Mannes als Bruch der überlieferten Willensoffenbarung JHWHs in Erinnerung gerufen (vgl. 2 Sam 12). Am Offenbarungscharakter des Dekalogs muß darum grundsätzlich festgehalten werden, auch wenn er in seiner gegenwärtigen detaillierten Gestalt als Wachstumsgebilde (der Offenbarung!) erscheint.
Die Grundstruktur des Dekalogs als einer „Torah“, d. h. „Weg-Weisung“ (u. damit Einweisung!) des Gottesvolkes in seine in JHWH selbst liegende Zukunft, hat die Form eines „Fadenkreuzes“: eine „Vertikale“ enthält die „Pflichten gegen Gott“; sie trägt aber zugleich eine „Horizontale“, auf welcher die menschliche Gemeinschaftspflichten erscheinen. Beide Dimensionen der menschlichen Selbstverwirklichung „vor JHWH“ sind unlösbar miteinander verwachsen. Ein nur „kultisches Praktizieren“ ist damit von vornherein ausgeschlossen.
Handelt es sich aber beim Dekalog nicht zu sehr um Verbote als um positive Weisungen? Abgesehen davon, daß im Hebräischen die sprachliche Form: „Du wirst nicht…“ gewählt ist (Sinn: Sonst bist du nicht JHWH-Volk!), sollen die zehn Worte einfach die Heilssphäre markieren, [38] innerhalb derer das Gottesvolk seine Wege zu gehen hat, um im gewährten Heile (= Vorgabe auf die Endzeit) zu bleiben. Diese begrenzenden Markierungspunkte fordern aber zugleich dazu auf, den markierten Raum mit positivem Handeln auszufüllen.
Das mitmenschliche Ethos ist ein Wesensmerkmal des „ethischen Dekalogs“. Dessen deuteronomische Fassung arbeitet dies schon im Sabbatgebot heraus, das „sozial“ begründet wird (Dtn 5,14). Auch das 6. und das 8. Gebot (nach katholischer u. lutherischer Zählung) ist im Horizont der Mitmenschlichkeit (und nicht einer abstrakten „Wertordnung“!) formuliert. Es geht hier um die konkreten „Lebensgüter“: Eltern – Leben – Ehe – Freiheit und Besitz („stehlen” schließt Freiheitsberaubung mit ein!) – Ehre. Durch seine unabdingbare zwischenmenschliche Dimension verweist der Dekalog das humane Ethos in das Zentrum der biblischen Religion und sichert es so gegen jede Gefährdung.
- Das Ethos der Propheten
Die jahwistische Grundweisungen, die im jetzigen Dekalog ihren endgültigen Ausdruck fanden, dienten den Propheten als Richtscheit für ihre Anklagen u. Weisungen. Amos, der erste der Schriftpropheten (um 760 v. Chr.), hat den „mišpat“, d. h. das gemeinschaftsgerechte Verhalten, zum Hauptwort seiner Predigt gemacht (5,24). Er muß Israel das Todesurteil JHWHs ausrichten, weil im JHWH-Volk Menschen von höhergestellten „Mitmenschen“ zu bloßen Objekten des Erwerbs-, Macht- u. Lusttriebs degradiert werden (2,6-8 u. a.). Nach Hosea (um 745 v. Chr.) lautet die Weisung JHWHs bereits an Jakob so: „Bewahre Liebe (= chesed = Verbundenheit) und Recht, und harre deines Gottes!“ (12,7). Hoseas ethisch bedeutsamster Gottesspruch lautet: „Liebe (chesed) will ich, nicht Schlachtopfer. Gotteserkenntnis, nicht Brandopfer“ (6,6 = Mt 9,13; 12,7). Gottes- bzw. JHWH-Erkenntnis ist bei Hosea Wissen um seinen Willen und ihn entsprechend dem Dekalog leben(4,1f). Für Jesaja (ab 740 v. Chr.) ist die Grundhaltung gegenüber JHWH der demütige Glaube (7,9), aber er muß als Frucht „Recht und Gerechtigkeit“ hervorbringen (1,21; 5,7). Das „Gute“, ohne das Jerusalem Sodoma und Gomorrha gleicht (1,10), bedeutet nach Jesaja: „Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!“ (1,15). Um 700 v. Chr. faßt Micha das Offenbarungsethos in das lapidare Wort: „Es ist dir verkündet, Mensch, was gut ist und JHWH an dir sucht: nichts anderes als Gerechtigkeit üben, den Brudersinn lieben und in Dienmut wandern mit deinem Gott!“ (6,8). Um die Gleichgewichtigkeit von „Beziehung zu Gott“ und Beziehung zu den Mitmenschen“ zu demonstrieren (vgl. Mt 22,39), nennt Micha die „Horizontale“ sogar an erster Stelle. Zefanja (ab 630) wie Jeremia (ab 625) setzen sich ebenso für das mitmenschliche Ethos ein (vgl. Zef 1,10f; 2,3; 3,3f; Jer 5,1ff; 7,21ff) wie im Exil Ezechiel (18,6ff; 22,6ff) und nach dem Exil Sacharja (7,7ff), Trito-Jesaja (58,1ff: Fasten = Werke der Gerechtigkeit und der Liebe tun!) und Maleachi (3,5). Insgesamt: [39] Die Propheten als „berufene Ausrufer des Gotteswillens“ sind im Grundsätzlichen bereits die Anwälte dessen, was wir die Menschenrechte nennen. Nur steht hinter ihrem „Humanum“ JHWH mit seinem ganzen göttlichen Gewicht.
- Das Ethos der Weisheitslehre
Die frühe Sippenweisheit in Israel hat sicher das dekalogische und prophetische Ethos mit vorbereitet und getragen. In der höfischen Weisheit wurde die weisheitliche Grundfrage: „Wie gelingt mein Leben vor den Menschen und vor Gott?“ stärker auf den Horizont des zwischenmenschlichen „Glückens“ bezogen; doch wurde Gottes Angesicht (vgl. Spr 15,3; 22,12) dabei nicht einfachhin vergessen. Die nachexilische Weisheitslehre (vorab Spr 1-9) schöpfte dagegen ihre Weisungen wieder mehr aus der zur „Schrift“ gewordenen Offenbarungsüberlieferung als aus der reflektierten Lebenserfahrung. Dabei wird das Ethos des Dekalogs und der Propheten in konkrete Lebensregeln umgemünzt.
Lit.: J. Hempel, Das Ethos des AT, Berlin 1964, BZAW 67; Jean L’Hour, Die Ethik der Bundestradition im Alten Testament, Stuttgart 1967, SBS 14; A. Deissler, Ich bin dein Gott, der dich befreit hat (Wege zur Meditation über den Dekalog), Freiburg i. Br. 1975.
Quelle: Bernhard Stoeckle (Hrsg.), Wörterbuch Christlicher Ethik, Freiburg-Basel-Wien: Herder 31985, 36-39.