Karl Barths Tambacher Rede „Der Christ in der Gesellschaft“ von 1919 (vollständiger Text): „Wir leben von dem, was jenseits des Reichs der Analogien ist, zu denen auch unser bißchen Innseits gehört“

19445

Das haben die Reformierten einfach ein Karl-Barth-Jahr erfunden. Der fünfzigste Todestag Barth am 10. Dezember wird mit der Ersterscheinung des Römerbriefkommentars 1919 sowie der Tambacher Rede vom September 1919 verbunden, und schon lässt sich nach Friedrich Daniel Schleiermachers 250. Geburtstag der nächste reformierte Großtheologe feiern.

Im besten Sinne verstörend ist der expressive Gottesanspruch, den Karl Barth in seiner Tambacher Rede in die religiöse Landschaft nach dem ersten Weltkrieg hineingerufen hat. Historisch geschulte Theologen werden 100 Jahre danach durch Kontextualisierung und Reflexion versuchen, die Dinge im Lot zu halten, damit Karl Barth für den gegenwärtigen Protestantismus doch erbaulich wirken darf:

Der Christ in der Gesellschaft (1919)

Von Karl Barth

I.

Hoffnungsvoll und zugleich seltsam nachdenklich sieht uns die Frage an: Der Christ in der Gesellschaft.

Der Christ in der Gesellschaft! So ist also die Gesellschaft nicht ganz sich selbst überlassen. Nicht ganz problemlos, nicht ganz ungehemmt, nicht nur nach den Gesetzen seiner eigenen Logik und Mechanik geht das Leben in Ehe und Familie, Wirtschaft und Kultur, Kunst und Wis­senschaft, Staat, Partei und Völkerverkehr seinen bekannten Weg, son­dern mindestens mitbestimmt durch einen anderen Faktor voll Ver­heißung. Daß jener bekannte Weg ein Irrweg ist, das steht uns heute deutlicher vor Augen als früher. Die Katastrophe, von der wir her­kom­men und in der wir noch stehen, hat darüber nicht allen, aber vielen erschütternde Klarheit gebracht. Möchten wir uns nicht am liebsten in tiefer Skepsis und Entmutigung vom Leben, von der Gesellschaft ab­wenden? Aber wohin? Vom Leben, von der Gesellschaft kann man sich nicht abwenden. Das Leben umgibt uns von allen Seiten; es gibt uns Fragen auf; es stellt uns vor Entscheidungen. Wir müssen stand­halten. Heute sehnen wir uns nach Verheißung, gerade weil uns die Augen weit aufgegangen sind für die Problematik des Lebens. Wir möch­ten heraus aus dieser Gesellschaft; wir möchten eine andere Gesell­schaft. Aber noch möchten wir bloß; noch spüren wir schmerzlich, daß trotz aller Veränderungen und Umwälzungen alles im Alten ist. Und nun fragen wir: Hüter, ist die Nacht bald hin? Da wird der Gedanke: „der Christ in der Gesellschaft“ zur Verheißung. Also ein neues Element mitten unter all dem Al­ten, also eine Wahrheit im Irrtum und in der Lüge, also eine Gerechtigkeit in dem Meer von Ungerechtigkeit, also Geist in all den groben materiellen Tendenzen, also gestaltende Lebens­kraft in all den schwachen flackernden Geistesbewegungen, also Einheit in der ganzen Zerfah­renheit der Gesellschaft auch unserer {34}[1] Zeit. Der Christ — wir sind wohl einig darin, daß damit nicht die Christen [4][2] gemeint sein können: weder die Masse der Getauften, noch etwa das erwählte Häuflein der Religiös-Sozialen, noch auch die feinste Auslese der edelsten frömm­sten Christen, an die wir sonst denken mögen. Der Christ ist der Christus. Der Christ ist das in uns, was nicht wir sind, sondern Christus in uns. Dieses „Christus in uns“ in seiner ganzen paulinischen Tiefe verstanden: es bedeutet keine psychische Gegeben­heit, kein Ergrif­fensein, Überwältigtsein oder dergleichen, sondern eine Voraussetzung. „Über uns“, „hinter uns“, „jenseits uns“ ist gemeint mit dem „in uns“. Und in seiner ganzen paulinischen Weite: wir werden wohl daran tun, den Zaun, der Juden und Heiden, sogenannte Christen und soge­nannte Nicht-Christen, Ergriffene und Nicht-Ergriffene trennte, nicht wieder aufzurichten. Die Gemeinde Christi ist ein Haus, das nach allen Seiten offen ist; denn Christus ist immer auch für die andern, für die, die draußen sind, gestorben. Es ist in uns, über uns, hinter uns, jenseits uns eine Besinnung auf den Sinn des Lebens, eine Erinnerung an den Ursprung des Men­schen, eine Umkehr zum Herrn der Welt, ein kritisches Nein und ein schöpferisches Ja gegen­über allen Inhalten unseres Bewußtseins, eine Wendung vom alten zum neuen Äon. Ihr Zei­chen und ihre Erfüllung das Kreuz!

Das ist Christus in uns. Aber ist Christus in uns? Ist Christus auch in der heutigen Gesell­schaft? Wir zögern, nicht wahr, und wir wissen, warum wir zögern? Aber woher nähmen wir das Recht, zu verneinen? Christ der Retter ist da — sonst wäre die Frage nicht da, die der heim­liche Sinn all der Bewegungen unserer Zeit ist und die uns in diesen Tagen als die Unbe­kannten und doch bekannt hier zusammengeführt hat. Es gibt Fragen, die wir gar nicht auf­werfen könnten, wenn nicht schon eine Antwort da wäre, Fragen, an die wir nicht einmal heran­treten könnten ohne den Mut jenes augustinischen Wortes: Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest! Wir müssen uns zu diesem Mut, den wir haben, bekennen. Indem wir es tun, bekennen wir uns zu Christus, zu seiner Gegenwart und zu seiner Zukunft. Ist Christus aber in uns, dann ist die Gesellschaft trotz ihres Irrweges jedenfalls nicht gottverlassen. Das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“, der „Erstgeborene aller Kreatur“ in uns (Kol 1,15), er be­deutet Ziel und Zukunft. Wir denken an den Sauerteig, den ein Weib nahm und verbarg ihn unter drei Scheffel Mehls, bis daß es {35} gar durch­säuert war. „Hoffnung der Herrlichkeit“ hat Paulus dieses „Geheimnis unter den Heiden“ genannt (Kol 1,24). Also: Wir heißen euch hoffen.

Aber unser Thema hat noch einen andern, schmerzlich merkwürdigen [5] Sinn, und an ihn ist wohl bei seiner Aufstellung vornehmlich gedacht worden. Der Christ — in der Gesellschaft! Wie fallen diese beiden Größen auseinander, wie abstrakt stehen sie sich gegenüber! Wie fremd­artig, fast phantastisch berühren uns heute die großen Synthesen des Kolosserbriefes! Warum doch nur?

Was bedeutet für uns „der Christ“? Was muß das für uns bedeuten? Doch wohl ein abgeson­dertes heiliges Gebiet für sich, gleichviel, ob wir uns diese Absonderung mehr metaphysisch oder mehr psychologisch erklären. Als besondere Leute neben andern Leuten erscheinen uns die Christen, als eine besondere Sache neben andern Sachen das Christen­tum, als eine beson­dere Erscheinung neben andern Erscheinungen Chri­stus Die Beschwerden der Philosophie über die Anmaßung der Reli­gion, die sich in dieser Absonderung äußere, sind nicht neu und das Treiben der Theologen, das solchen Verdacht nähren mußte, gleichfalls nicht. Heute erkennen viele, durch die Erfahrungen der Zeit belehrt, in dem, was vielleicht tatsächlich eine theologische Anmaßung war, eine Notlage. Aber die Notlage scheint fast unvermeidlich, und auch die Philosophie hat das Wort zu ihrer Überwindung noch nicht gesprochen. Ja, wir ahnen wieder, daß der Sinn der sogenannten Religion in ihrer Beziehung auf das tatsächliche Leben, auf das Leben der Gesellschaft besteht und nicht in ihrer Absonderung. Ein abgesondertes Heiligtum ist kein Heiligtum. Sehnsüchtig blicken wir aus dem sichern Port unseres einst so viel und laut gepriesenen spezifisch religiösen Gebietes hinaus auf die Welt, denn wir ahnen, auch viele Theologen beginnen es wieder zu ahnen, daß es kein Drinnen geben kann, solange es ein Draußen gibt. Aber noch ist’s mehr ein Hinaus- und Hinüberblicken. Denn jene Abson­derung des religiösen Gebietes hat einen Grund, der damit nicht aufgehoben ist, daß uns ein Licht darüber aufgeht, daß, sie eigentlich nicht sein sollte. Wahrlich, es handelt sich zwischen dem „Christus in uns“ und der Welt nicht nur darum, die Schleusen zu öffnen und bereit­ste­hende Wasser dem dürstenden Lande zuströmen zu lassen. Schnell zur Hand sind alle jene Kombinationen, wie „christlich-sozial“, {36} „evan­gelisch-sozial“, „religiös-sozial“, aber höchst erwägenswert ist die Frage, ob die Bindestriche, die wir da mit rationaler Kühnheit ziehen, nicht gefährliche Kurzschlüsse sind. Sehr geistreich ist das Paradoxon, daß Gottes­dienst Menschendienst sein oder werden müsse, aber ob unsere eilfertigen Menschendienste, und wenn sie im Namen der reinsten Liebe geschähen, durch solche Erleuchtung Gottesdien­ste werden, das steht in einem andern Buch. Sehr wahr ist die evangelische Erinnerung, daß [6] der Same das Wort und der Acker die Welt ist, aber was ist denn das Wort und wer von uns hat es, und sollten wir nicht vor allem einmal erschrecken vor der Aufgabe, Säemann des Wortes für die Welt zu werden, vor der Aufgabe, vor der ein Mose, ein Jesaja, ein Jeremia so erschrocken sind? Ist die anfängliche Weigerung dieser Männer, das Göttliche auf das Leben der Menschen zu beziehen, etwa unsachlicher als unsere rasche Bereitschaft dazu? Ist die Flucht des Jona vor dem Herrn etwa nur aus der Anmaßung der Religion zu erklären? Mit ein bißchen Erlebnis, Einsicht und gutem Willen ist es hier offenbar nicht getan. Das Göttliche ist etwas Ganzes, in sich Geschlossenes, etwas der Art nach Neues, Verschiedenes gegenüber der Welt. Es läßt sich nicht auftragen, aufkleben und anpassen. Es läßt sich nicht teilen und aus­teilen, gerade weil es mehr als Religion ist. Es läßt sich nicht anwenden, es will stürzen und aufrichten. Es ist ganz oder es ist gar nicht. Wo hat denn die Gotteswelt offene Fenster gegen unser Gesellschaftsleben hin? Wie kommen wir dazu, zu tun, als ob sie es hätte? Ja, Christus zum soundsovielten Male zu säkularisieren, heute z. B. der Sozialdemokratie, dem Pazifis­mus, dem Wandervogel zu Liebe, wie ehemals den Vater­ländern, dem Schweizertum und Deutschtum, dem Liberalismus der Ge­bildeten zu Liebe, das möchte uns allenfalls gelingen. Aber nicht wahr, da graut uns doch davor, wir möchten doch eben Christus nicht ein neues Mal verraten. Aber andererseits: in welches Gedränge geraten wir bei dem Versuch, jenes, wozu die Einsicht und der gute Wille uns treibt, zu tun — und dieses, das, was nicht gesche­hen sollte, zu lassen! Wie schwer ist es, reinen Herzens und in Ehrfurcht vor dem Heiligen auch nur den kleinsten Schritt zu tun mit Christus in der Gesellschaft! Wie spröde verhält sich das Göttliche, wenn es das Göttliche ist, dem Menschlichen gegenüber, dem wir es heute so gerne amalgamieren möch­ten! Wie gefährlich ist es, sich mitten in den Fragen, Sorgen und Er­regungen der Gesellschaft auf Gott einzulassen! Wohin werden wir geführt, wenn {37} wir die Absonderung des religiösen Gebietes aufgeben und uns im Ernst auf Gott einlassen, und wo­hin, wenn wir uns nicht im Ernst auf ihn einlassen? Wahrlich, Gott ist heute weniger als je wohlfeil zu haben, und wir werden gut tun, das Bedenken, das sich gerade von dieser Seite her gegen unsere neue Parole erhebt, sehr ernst zu nehmen. „Wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und sitzt nicht zuvor und überschlägt die Kosten, ob er’s habe hinauszuführen?“ (Lk 14,28.) Das ist die eine Seite.

Und wir sehen auf der andern Seite die Gesellschaft, ebenfalls ein [7] wenn auch innerlich brüchiges, so doch nach außen in sich geschlossenes Ganzes für sich — ohne Fenster gegen das Himmelreich. Wo ist der Sinn in all dem Unsinn, der Ursprung in der Entartung, der Wie­zen unter all dem Unkraut? Wo ist Gott in all dem Menschlichen, allzu Mensch­lichen? Du bist Erde und sollst wieder zu Erde werden! Ist das nicht das Urteil über die Menschheit und ihr eigenes Glaubensbekenntnis!? Wir leiden heute auch unter dieser Abgeschlossenheit, weil wir ihrer bitteren Folgen gewahr geworden sind. Es sträubt sich alles in uns, die vor dem Krieg bis zum Überdruß wiederholten Sätze von der Eigen­gesetzlichkeit der Kultur, des Staates, des Wirtschaftslebens fernerhin zu hören und nachzusagen. So gerne, ach so gerne würden wir heute die Gesellschaft in Christus begreifen, in Christus erneuern, „die Gesin­nungsprinzipien Jesu als Maximen einer jeden öffentlichen, völkischen, staatlichen, weltli­chen Gesellschafts­gestaltung anwenden“, wie Sie in Ihrem Programmsatz sagen. Hätten wir doch zu solcher Anwendung den verklärenden Optimismus eines Richard Rothe! Dahin führt nun für uns kein Weg mehr zurück. Aber wird uns der Weg vorwärts nicht zu Friedrich Nau­mann führen, der ja auch einmal von da ausgegangen ist? An einer ernsthaften „Anwendung“ hindert uns doch wohl zu­nächst die brutale Tatsache, daß jene nun einmal gewonnene und vor­handene und auch im Revolutionszeitalter unerbittlich fortwirkende Eigengesetzlichkeit des gesellschaftli­chen Lebens jedenfalls nicht damit beseitigt ist, daß wir ihrer gründlich müde geworden sind. Wir haben es gewollt, daß hart im Raume sich die Sachen stoßen, und nun müssen wir es zunächst so haben. Mögen wir diese harte Sachen des religiösen Glanzes wieder entkleiden, mit dem sie um die Jahrhundertwende von Naumann und den Seinen mit dem Mute der Ver­zweiflung oder zum ästhetischen Überfluß umgeben worden sind — wir sind damit die ein­mal gerufenen Geister noch nicht {38} wieder los. Behauptet das Heilige heute, und heute erst recht, zu unserm Leidwesen sein Eigenrecht gegen­über dem Profanen, so behauptet das Pro­fane nun ebenso das seinige gegenüber dem Heiligen. Die Gesellschaft ist nun beherrscht von ihrem eigenen Logos oder vielmehr von einer ganzen Reihe von gottähn­lichen Hyposta­sen und Potenzen. Wir mögen uns heute den Frömmsten und Besten des helle­nistischen oder auch des vorreformatorischen Zeitalters vergleichen: Daß die Götzen Nichtse sind, das begin­nen wir zu ahnen, aber ihre dämonische Macht über unser Leben ist damit noch nicht gebro­chen. Denn ein anderes ist der kritische Zweifel dem Gott dieser Welt gegenüber, ein anderes die Erkennt­nis der dýnamis, der Bedeu-[8]tung und Kraft des lebendigen Gottes, der eine neue Welt schafft. Ohne diese Erkenntnis ist doch wohl „Christlich-sozial“ auch. =heute noch Un­sinn. Es gibt allerdings auch hier die Möglichkeit, das alte Kleid mit losgeris­senen Lappen vom neuen Kleid zu flicken, ich meine den Ver­such, der weltlichen Gesell­schaft einen kirch­lichen Überbau oder Anbau anzugliedern und so nach dem alten Miß­ver­ständnis des Wortes Jesu dem Kaiser zu geben, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist. Der Versuch des christ­lichen Mittelalters, die Gesellschaft zu klerikalisieren, wird vielleicht noch einmal unter­nom­men und noch einmal von dem Erfolg gekrönt sein, der ihm seiner Natur nach beschieden sein kann. Bereits zeigen sich die Ansätze dazu auch auf protestantischem Gebiet: Laßt uns eine neue Kirche errichten mit demokratischen Allüren und sozialistischem Einschlag! Laßt uns Ge­meindehäuser bauen, Jugendpflege treiben, Diskussionsabende und musikalische An­dach­ten veran­stalten! Laßt uns heruntersteigen vom hohen Kothurn der Theologen und dafür die Laien hinauf auf die Kanzel! Laßt uns mit neuer Begei­sterung den alten Weg gehen, der mit dem Liebespietismus der inneren Mission beginnt und mit tödlicher Sicherheit mit dem Libe­ralis­mus Naumanns endigen wird. Vielleicht, daß wir über all den neuen oder wenig­stens uns jetzt neuen Lappen vergessen können, daß das alte Kleid noch immer das alte Kleid ist. Ge­wiß werden wir gerade diesen Versuch ablehnen als den gefähr­lichsten Verrat an der Gesell­schaft. Denn die- Gesellschaft wird um die Hilfe Gottes, die wir doch eigentlich mei­nen, be­trogen, wenn wir es nun nicht ganz neu lernen wollen, auf Gott zu warten, sondern uns statt dessen aufs neue eifrig an den Bau unserer Kirchen und Kirchlein machen. Aber ebenso ge­wiß stehen wir gerade dann, wenn wir uns von den modern-kirchli­chen {39} Sirenentönen nicht einlullen lassen, mit unserm Programm des omnia instaurare in Chri­sto gegenüber dem natürlich Gewordenen und unentwegt Beste­henden in der Gesellschaft da als solche, die auf Granit beißen wollen. Widerstehen wir tapfer der neuen kirchlichen Versu­chung! Aber je tapferer wir ihr widerstehen, um so gewaltiger stehen da draußen die Giganten vor uns, zu deren Bezwin­gung wir uns doch aufgemacht haben. Wir werden also nach altbe­kannter Mah­nung nicht nüchtern genug mit der „Wirklichkeit“ rechnen können, wenn wir an die Aus­füh­rung unseres Programmes herantreten. Es hat seinen guten Grund, wenn es rebus sic stantibus unmögliche Ideale und unerreichbare Ziele gibt. Das ist die andere Seite.

Also das ist’s, was ich in unserm Thema finde: zunächst eine große [9] Verheißung, ein Licht von oben, das auf unsere Lage fällt; dann aber auch eine böse Abstraktion, ein erschreckendes Gegeneinander zweier artfremder Größen. Wir müssen beides offen ins Auge fassen. Das ist unsere Hoffnung und Not in Christus und in der Gesellschaft. Erwarten Sie in keinem Sinn, daß ich eine Lösung bringe. Niemand von uns darf sich hier einer Lösung rühmen. Es gibt nur eine Lösung, und die ist in Gott selbst. Unsere Sache kann nur das aufrichtige, nach allen Sei­ten eindringende, ich möchte den Ausdruck wagen: das priesterliche Be­wegen dieser Hoff­nung und Not sein, durch das der Lösung, die in Gott ist, der Weg zu uns freier gemacht wird. Und es ist selbstverständlich, daß das, was ich Ihnen heute bieten kann, nur die Aufstellung der Gesichtspunkte ist, unter denen dieses Bewegen stattfinden muß, das heute das Eine Not­wendige ist. Man wird von diesen Gesichtspunkten immer auch noch anders reden können; aber darin bin ich allerdings meiner Sache sicher, daß die Gesichtspunkte, von denen ich re­den möchte, die notwendigen sind und daß es neben ihnen keine andern gibt.

II.

Lassen Sie uns zunächst ohne Rücksicht auf das Hoffnungsvolle und Notvolle der Lage, das durch unser Thema bezeichnet ist, den Standort feststellen, den wir dieser Lage gegenüber tatsächlich einnehmen. Ich sage „tatsächlich“; denn es handelt sich nicht {40} darum, ihn erst ein­zu­nehmen, sondern wir haben ihn schon eingenommen, indem uns diese Lage zum Prob­lem geworden ist.

„Standort“ ist schon nicht das richtige Wort. Denn unsere Stellung zur Lage ist tatsächlich ein Moment einer Bewegung, dem Augenblicks­bild eines Vogels im Fluge vergleichbar, außer dem Zusammenhang der Bewegung ganz und gar sinnlos, unverständlich und unmöglich. Damit meine ich nun freilich weder die sozialistische, noch die religiös-soziale Bewegung, noch die allgemeine, etwas fragwürdige Bewegung des so­genannten Christentums, sondern die Bewegung, die sozusagen senk­recht von oben her durch alle diese Bewegungen hindurch­geht, als ihr verborgener transzendenter Sinn und Motor, die Bewegung, die nicht im Raum, in der Zeit, in der Kontingenz der Dinge ihren Ursprung und ihr Ziel hat und die nicht eine Bewegung neben andern ist: ich meine die Bewegung der Gottesgeschichte oder anders aus­gedrückt: die Bewegung der Gotteserkenntnis, die Bewegung, deren Kraft und Be-[10]deu­tung enthüllt ist in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Darum handelt es sich, wenn uns die Lage des Christen in der Gesell­schaft hoffnungsvoll oder notvoll oder beides zugleich zum Problem geworden ist.

Machen Sie sich gefaßt darauf, gerade an dieser wichtigsten Stelle den schwächsten Teil mei­ner Ausführungen zu hören. Methodologische Erörterungen haben immer etwas Mißliches, Unmögliches und Gefähr­liches. Fast unvermeidlich verfallen sie in das Lächerliche des Ver­suchs, den Vogel im Fluge doch zeichnen zu wollen. Fast unvermeidlich ver­fallen sie dem Fluch des Ergebnisses, daß die Bewegung an sich, losgelöst vom Bewegtsein, zu einem The­ma, zu einer Sache wird. Nicht umsonst hat sich Kant so ängstlich dagegen verwahrt, seine Vernunftkritik möchte statt als Prolegomenon als neue Metaphysik aufgefaßt werden. Und die Art, wie seine Warnung leichthin überhört worden ist, kann uns zeigen, wie groß die Gefahr ist, um die es sich hier handelt. Ver­nunftkritik muß sich vollziehen in kritischer Wissenschaft, Gottesge­schichte muß geschehen in Taten und Erweisungen, Gotteserkenntnis muß gegeben werden in zwingender, eröffnender, sich unmittelbar bewährender Einsicht und Rede, Leben muß gelebt werden in einem lebendigen Leben — was sollen sonst alle Worte über das Wort? Dieses Mißliche erlebt der Philosoph, wenn er den Ursprung verkündigt, in welchem Erken­nen und Handeln, Sollen und Sein eins ist. Dieses Miß­liche erleben wir, wenn wir von der {41} Wirklichkeit des lebendigen Gottes zeugen. Stellt uns in die Kraft des Ursprungs! Stellt uns in die Wirk­lichkeit Gottes! Das ist’s, was der Hörer verlangen dürfte — wenn er dürfte! Und da stehen wir vor unserer großen Armut, gerade in der Voraussetzung. Das, wovon jetzt die Rede sein soll, müßte, indem es ausgesprochen wird, da sein, vermittelt werden, wirksam werden, sonst ist es gar nicht das, wovon die Rede ist. „Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert und dringet durch“ (Hebr 4,12). Es steht nicht in meiner Macht, Ihnen dieses lebendige, kräftige, scharfe, durchdringende Wort Gottes zu sa­gen, wenn ich es nicht sagen kann, so wenig es in Ihrer Macht steht, es zu hören, wenn sie es nicht hören können. Wir hätten nun freilich durchaus das Recht und die Möglich­keit, wenig­stens unsere Sehnsucht danach mit demjenigen religiösen Pathos zu beteuern, das dieser Sehnsucht wahr­haftig angemessen ist. Wir wollen uns aber auch das im Interesse der Sache verbieten; denn es ist besser, wenn wir uns gerade in der Voraussetzung unserer Armut be­wußt werden und uns keiner religiösen Stim-[11]mung hingeben, die möglicherweise bei aller Wahrhaftigkeit diesen Tatbestand wieder verschleiern könnte. Also: Geben, was ich Ihnen hier geben müßte, kann ich nicht, es müßte denn ein Wunder geschehen. Beteuernd bezeugen, daß es sich um etwas sehr Großes handelt, mag ich nicht. So bleibt mir doch nichts übrig, als in dürren Worten zu um­schreiben, um was es geht. Denken Sie aber bei dem, was ich zu sagen versuche, daran, daß der wirkliche, der fliegende Vogel gemeint ist und nicht das ge­zeichnete Rätselbild, das ich Ihnen vorlegen kann. Kommen Sie mit, wie ich auch versuche mitzukommen, so gut es uns allen ge­geben ist.

Um Gott handelt es sich, um die Bewegung von Gott her, um unser Bewegtsein durch ihn, nicht um Religion. Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe! Das sogenannte „religiöse Erlebnis“ ist eine durchaus abgeleitete, sekundäre, gebrochene Form des Göttlichen. Es ist auch in den höchsten und reinsten Fällen Form, nicht Inhalt. All­zulange hat unsere ganze Theologie die Bibel und die Kir­chengeschichte unter diesem forma­len Gesichtspunkt gelesen. Allzulange hat die Kirche ihre ganze Tätigkeit auf die Pflege von allerlei Frömmig­keit gerichtet. Wir wollen heute von dieser Form ganz absehen. Das Unmit­telbare, der Ursprung wird als solcher nie erlebt. Nur Hinweis auf den Ursprung, auf Gott ist alles „Erleben“. Und die in {42} Jesus enthüllte Lebensbewegung ist keine neue Frömmig­keit. Darum nehmen Paulus und Johannes kein Interesse am persönlichen Leben des soge­nannten historischen Jesus, sondern allein an seiner Auferstehung. Darum sind auch die syn­optischen Mitteilungen über Jesus schlechtweg unver­ständlich ohne die Bengelsche Ein­sicht in ihre Ab­sicht: spirant resurrectionem. Das katholische Mittelalter und die Reforma­tion haben das noch einigermaßen verstanden. Dem Pietismus, Schleiermacher und dem neuzeitli­chen Chri­stentum blieb es vorbehalten, das neutestamentliche Kerygma mit Bewußtsein rück­wärts zu lesen. Wir müssen die große Sachlichkeit wiedergewinnen, in der sich Paulus mit den Prophe­ten, mit Plato begegnet. Christus ist das unbedingt Neue von oben, der Weg, die Wahrheit und das Leben Gottes unter den Menschen, der Menschen­sohn, in welchem sich die Menschheit ihrer Unmittelbarkeit zu Gott bewußt wird. Aber Distanz wahren! Keine noch so feine psychi­sche Dinglichkeit der Form dieses Bewußtwerdens darf die wahre Trans­zendenz dieses In­halts ersetzen oder verschleiern. Allzu klein ist der Schritt vom Jahwe-Erlebnis zum Baal-Erlebnis. Allzu verwandt sind die religiösen mit den sexuellen Vorgängen. Es geht um die Reinheit [12] und Überlegenheit der Lebensbewegung, in der wir stehen, es geht um das tief­ste Verständnis unser selbst, wenn ich betone: nicht unser all­fälliges Erfahren und Erleben Gottes, nicht unsere allfällige Frömmig­keit ist diese Lebensbewegung, nicht ein Erlebnis ne­ben andern Erleb­nissen, sondern — ich rede nun absichtlich so abstrakt und theoretisch als möglich, damit alle emotionalen Mißverständnisse heute einmal ausgeschaltet seien — die senkrechte Linie, die durch alle unsere Fröm­migkeiten und Erlebnisse hindurch- und großen­teils auch daran vorbei­geht, der Durchbruch und die Erscheinung der Gotteswelt, heraus aus dem verschlossenen Heiligtum hinein in das profane Leben: die leibliche Auferstehung Chri­sti von den Toten. Daß wir an ihrer Bedeutung und Kraft Anteil haben, das ist unser Bewegt­sein.

Wir müssen zurückkommen auf jene Sprödigkeit, in der das Göttliche dem Menschlichen gegenübersteht, von der wir bereits redeten. Wir hatten wohl schon dort den Eindruck, daß es bei dieser Absonderung des Heiligen vom Profanen nicht sein Bewenden haben könne. Gott wäre nicht Gott, wenn es dabei sein Bewenden hätte. Es muß ja dennoch einen Weg geben von dort nach hier. Mit diesem „Muß“ und mit diesem „Dennoch“ bekennen wir uns {43} zu dem Wunder der Offen­barung Gottes. Mag uns das Heilige, das Göttliche noch so sehr zu­rück­schrecken durch seine unerreichbare Höhe, wir können nicht mehr lassen von dem Wag­nis, es unmittelbar auf unser Leben in seiner ganzen Ausdehnung zu beziehen. Wir wol­len achtgeben auf die Stimme, die uns sagt: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe aus von dei­nen Füßen, denn der Ort, darauf du stehest, ist ein heilig Land! Wir wollen uns mit Mose fürchten, Gott anzu­schauen. Aber nun hören wir derselben Stimme weitere Botschaft: „Ich habe gese­hen das Elend meines Volkes in Ägypten und habe ihr Geschrei gehört und bin her­niederge­fahren, daß ich sie errette von der Ägypter Hand!“ und erkennen, daß jenes Verbot nur um der Fülle und Klarheit dieser Botschaft willen sein muß. Auch Jesaja, auch Jona haben schließlich dem Hei­ligen damit Ehre erweisen müssen, daß sie sich unterwanden, das Heilige direkt auf das profa­ne Leben der Menschen zu beziehen. Die Zeit des mysterium tremendum, das nichts ist als das, läuft einmal ab und mit ihr die Zeit der Scheu vor dem Göttlichen, die Scheu ist und bleibt. Der Kern durchbricht die harte Schale. Das Hören der Botschaft, der Mut, es mit Gott zu wagen, die Aufmerksamkeit auf das, was sein „Hernieder-fahren“ für uns bedeutet, ge­winnt es bei aller Scheu über die bloße Scheu. Das ist kein Tun des Menschen, sondern das Tun Gottes im [13] Menschen. Eben darum ist Gotteserkenntnis wesentlich Gottesgeschichte, kein bloßer Bewußtseinsvorgang. Es geschieht etwas von Gott her, ein Wunder vor unsern Augen. Eine der Art nach neue Möglichkeit und Wirklichkeit tut sich dem Menschen auf. Wir halten es, nachdem wir einmal des Lebens im Leben bewußt geworden sind, nicht mehr aus im Lande des Todes, in einem Leben, dessen Ausgestaltungen uns gerade den Sinn des Le­bens, die Beziehung auf den schöpferischen Ursprung aufs Schmerzlichste vermissen lassen. Ja, wir erkennen das ganz Andere, die Ewigkeit im Leben der Gottheit, aber darum kommen wir doch nicht mehr darüber hinweg, daß auch für uns nur das ewige Leben „Leben“ heißen und sein kann. Gerade das ganz Andere an Gott, das sich gegen alle Säkulari­sierungen, gegen alle bloßen Anwendungen und Bindestriche sträubt, treibt uns mit zwingen­der Kraft, unserer­seits aus­zuschauen nach einem wurzelhaften, prinzipiellen, ursprünglichen Zu­sammenhang unseres Lebens mit jenem ganz andern Leben. Wir wollen leben und nicht sterben. Der leben­dige Gott ist es, der uns, indem er uns begegnet, nötigt, auch an unser Leben {44} zu glauben. Mag denn diese Belebung unseres Lebens, an die wir, durch Gott selbst genötigt, glauben müssen, letzten Endes schlechthin jenseitig in der Aufhebung der Krea­türlichkeit bestehen, in der wir uns jetzt und hier dem Leben Gottes gegenüber befinden. Gerade das meinen wir ja auch im tiefsten Grund. „Wir warten auf unseres Leibes Erlösung“ (Röm 8,23). Es muß sich ja doch auch diese Aufhebung auf unser ganzes diesseitiges Leben be­ziehen, und das Licht, das durch die wachsende Erkenntnis Gottes in unsere Seele kommt, wird es je länger desto weniger zu­geben, daß wir uns auch nur an einem Punkt mit dem endgültigen Todescharakter unseres diesseitigen Daseins abfinden können.

Mit der Einsicht in diesen Durchbruch des Göttlichen ins Menschliche hinein wird es aber bereits klar, daß es auch bei der Isolierung des Menschlichen dem Göttlichen gegenüber nicht sein Bewenden haben kann. Die Unruhe, die uns Gott bereitet, muß uns zum „Leben“ in kriti­schen Gegensatz bringen, kritisch im tiefsten Sinn zu verstehen, den dieses Wort in der Gei­stesgeschichte gewonnen hat. Es entspricht dem Wunder der Offenbarung das Wunder des Glaubens. Gottesgeschichte ist auch diese Seite der Gotteserkenntnis, und wiederum kein bloßer Bewußtseinsvorgang, sondern ein neues Müssen von oben her. Mag es uns noch so einleuchten, daß der Staat und die Wirtschaft, die Kunst und die Wissenschaft, aber noch viel primitiver: schon die banalen Notwendigkeiten des Essens, Trinkens, Schlafens, Älterwer-[14]dens, diese brutalsten Voraussetzungen der Gesellschaft, ihre eigenen Bewegungs- und Trägheitsgesetze haben, mögen wir noch so ernst damit rechnen, die Gültigkeit dieser Gesetze immer und immer wieder er­fahren zu müssen, mag uns die absolute Torheit des auf Granit Beißens noch so klar sein — eins ist doch noch klarer, nämlich, daß wir uns in eine letzte selbständige Gültigkeit dieser Gesetze nicht mehr finden können. Nicht nur darum, weil wir ganz äußerlich in den Erfahrungen unseres Zeitalters durch Schaden klug geworden sind, nicht nur darum, weil wir auch geistig des Pantheons selbständiger Gottheiten müde, bis zum Überdruß müde geworden sind, nicht nur darum, weil nach dem Rausch Skepsis und Aufklä­rung über uns gekommen ist gegenüber den kosmokra,torej tou/ sko,touj tou,tou Eph 6,12 — das alles wäre aller­dings noch nicht die Bedeutung und Kraft der Auferstehung, sondern da­rum, weil unsere Seele erwacht ist zum Bewußtsein ihrer Unmittel­barkeit zu Gott, d. h. aber einer verloren gegangenen {45} und wieder zu gewinnenden Unmittelbarkeit aller Dinge, Verhält­nisse, Ordnungen und Gestaltungen zu Gott. Denn indem sich die Seele ihres Ur­sprungs in Gott wieder erinnert, setzt sie eben dahin auch den Ursprung der Gesellschaft. In­dem sie zur Besin­nung kommt, findet sie den Sinn des Lebens in seiner ganzen Breite. Und das mit dem Be­wußtsein ihrer eigensten größten Beteiligung, Schuld und Verantwortlichkeit. Sie stellt sich unter das Gericht, in dem die Welt ist, und sie nimmt die Welt als Last auf sich. Es gibt kein Erwachen der Seele, das etwas anderes sein könnte als ein „mitleidend Tragen der Beschwer­den der ganzen Zeit­genossenschaft“. Dieses Erwachen der Seele ist die Bewe­gung, in der wir stehen, die Bewegung der Gottesgeschichte oder der Gotteserkennt­nis, die Bewegung im Leben aufs Leben hin. Wir können es, indem wir in diesem Erwachen begriffen sind, nicht mehr unterlassen, alle Gültigkeiten des Lebens zunächst einer prinzipiellen Vernei­nung zu unterwerfen, sie zu prüfen auf ihren Zusammenhang mit dem, was allein gültig sein kann. Alles Leben muß es sich gefallen lassen, sich am Leben selbst messen zu lassen. Ein selb­ständiges Leben neben dem Leben ist nicht Leben, sondern Tod. Tot sind alle Dinge, die mehr als Stoffe sein, die eine eigene grob-klotzige Dinglichkeit für sich in Anspruch nehmen wol­len. Tot ist unser persönliches Leben und wenn es das edelste, feinste und frömmste wäre, wenn es nicht seinen Anfang hat in der Furcht Gottes. Tot ist alles Nebeneinander von Teilen, mögen wir sie noch so begeistert in der Hand halten, fehlt leider nur das geistige Band, so fehlt ihnen alles. Tot ist ein Innerliches für sich, ebenso [15] wie ein Äußerliches für sich. Tot sind alle „Dinge an sich“, alles hier und dort, einst und jetzt, dies und das, das nicht zugleich Eines ist. Tot sind alle bloßen Gegebenheiten. Tot ist alle Metaphysik. Tot wäre Gott selbst, wenn er nur von außen stieße, wenn er ein „Ding an sich“ wäre und nicht das Eine in Allem, der Schöpfer aller Dinge, der sichtbaren und der unsichtbaren, der Anfang und das Ende. Es ist die Revolution des Lebens gegen die es umklammernden Mächte des Todes, in der wir begriffen sind. Wir können uns durch die Ideologien, mit denen sich diese Todesmächte zu umgeben gewußt haben und durch alles, was sich relativ für ihre Gültigkeiten sagen läßt, nicht mehr ganz täuschen lassen über ihren wahren Charakter. Es ist etwas in uns, was sie grund­sätzlich in Abrede stellt. Und das ist nun der Sinn unserer Lage, der sich in der heutigen Situa­tion, wenn auch durchaus nicht {46} in neuer, so doch jeden­falls in ungewohnt deutlicher und bedeutsamer Weise abzeichnet. Das Leben hat sich gegen den Tod im Leben aufgemacht. Es handelt sich nicht darum, irgendetwas in die seltsam verworrenen und zweideutigen Bewe­gungen unserer Zeit hineinzulesen, wohl aber darum, sie in ihrem tiefsten Sinn mitleidend und mithoffend zu begreifen. Wir täuschen uns nicht über die Tatsache, daß die Erschütterung so vieler „Dinge an sich“, die wir heute miterleben, hier stecken zu bleiben im Banne der alten, dort auszulaufen droht in die Entstehung neuer Dinglichkeiten und Gottlosigkeiten an Stelle der alten. Wir werden es uns darum doch nicht nehmen lassen, im Auge zu behalten, um was es eigentlich geht: Die tödliche Isolierung des Menschlichen gegenüber dem Göttlichen ist’s, die heute an mehr als einem Punkte sehr ernstlich in Frage gestellt ist. Mögen wir mit allem Recht den Kopf schütteln über den phantastischen Freiheitsdrang der heutigen Jugend, das Befremden und der Wider­stand dagegen darf jedenfalls nicht der letzte Sinn unserer Haltung ihr gegenüber sein; es ist die Autorität an sich, gegen die sich die moderne Jugendbewegung aller Schattierungen richtet, und wer heute Erzieher sein will, der muß in diesem Kampf trotz Foerster grundsätzlich auf ihrer Seite stehen. Mag das Heiligste in Gefahr sein bei der Auflö­sung der Familie, die wir heute in vollem Gang sehen, wir dürfen bei allem Entsetzen und Widerstand, mit dem wir diesen Vorgang begleiten, nicht verkennen, daß es sich letztlich um den Angriff auf die Familie an sich handelt, die wahrlich kein Heiligtum, sondern der gefräßi­ge Götze des bisherigen Bürgertums gewesen ist. Mögen wir den Pro­dukten der modernen expressionistischen Kunst mit tiefster Abneigung gegenüberstehen; es ist doch gerade hier besonders deutlich, daß es [16] diesen Menschen um das Etwas, um den Inhalt, um die Bezie­hung des Schönen auf das Eine im Leben zu tun ist im Gegensatz zu einer Kunst an sich, die sich wahrlich weder auf Raffael noch auf Dürer mit allzu großer Sicherheit berufen dürfte. Und für diese Tendenz müßten wir wiederum mehr als ein Kopfschütteln übrig haben. Und wenn wir heute mit allem Ernst, denn es geht um die Existenzfrage, einstimmen in den Ruf: Arbeit, Arbeit ist es, was Europa jetzt nötig hat! so wollen wir uns wenigstens nicht bis auf den Grund unserer Seele verwundern und entrüsten, wenn uns die Spartakisten gerade in die­sem vitalsten Punkt antworten, daß sie lieber zugrunde gehen und alles zugrunde richten wol­len, als wieder unter das {47} Joch der Arbeit an sich zurück­zukehren. Mit ganzer Teilnahme werden wir endlich mit unserm Be­greifen da dabei sein, wo in der Bewegung unserer Zeit die Kirche in Frage gestellt wird. War es nicht auch Ihnen etwas vom überraschend­sten an der deutschen Revolution und eigentlich das, was am meisten geeignet war, allzu große Hoffnun­gen für die nächste Zeit zu dämpfen, wie die neuen Gewalten so rasch Halt machten gerade vor den Pforten der Religion an sich, wie leicht gerade dieses Abstraktum, diese Todes- macht in ihrer katholischen und protestantischen Form sich in ihrer Geltung behaupten konnte, ohne sich mit einem nennenswerten grund­sätzlichen Protest gegen ihr Dasein irgendwie auseinan­dersetzen zu müssen? Wenn irgendwo, so werden wir gerade hier die ersten sein müssen, die­sen Protest zu begreifen, wenn er kommt, ja ihn selbst zu erheben, wenn er sonst nicht kommt, die ersten, zu begreifen, was die heutigen dürftigen Kirchengegner offenbar selbst noch nicht begreifen, daß das Göttliche am allerwenigsten als ein Ding an sich betrieben und gepflegt werden kann.

Begreifen — lassen Sie mich den Sinn dieser einheitlichen Bewegung des Lebens in den Tod hinein und aus dem Tode heraus ins Leben, in der wir stehen, einmal zusammenfassen in dieses eine Wort: Begreifen. Begreifen wollen wir die große Beunruhigung des Menschen durch Gott und darum die große Erschütterung der Grundlagen der Welt. Be­greifen all das Bewegende und Bewegte auch in seinem gottlosen Roh­zustand. Begreifen unsere Zeitgenos­sen, von Naumann bis zu Blumhardt, von Wilson bis zu Lenin in all den verschiedenen Sta­dien der gleichen Bewegung, in denen wir sie sehen. Begreifen unsere Zeit und ihre Zeichen, begreifen auch uns selbst in unserer seltsamen Beunruhi­gung und Bewegtheit. Begreifen heißt: von Gott aus einsehen, daß das nun alles gerade so und nicht anders sein muß. Begrei­fen heißt: in der [17] Furcht Gottes die ganze Lage auf sich nehmen und in der Furcht Gottes in die Bewegung der Zeit hineintreten. Begreifen heißt: Vergebung empfangen, um selber zu vergeben. Das ist’s, wozu wir getrieben sind, weil es uns not tut. Denn täuschen wir uns darin nicht: es ist in dieser Beunruhigung durch Gott, die uns in kritischen Gegensatz zum Leben bringt, enthalten die denkbar positivste und fruchtbarste Leistung. Das Gericht Gottes über die Welt ist die Aufrichtung seiner eigenen Gerech­tigkeit. Sich auf den Anfang zurückwerfen lassen, ist keine öde Ver­neinung, wenn wir {48} wirklich auf den Anfang, auf Gott geworfen wer­den; denn nur mit Gott können wir positiv sein. Positiv ist die Negation, die von Gott aus­geht und Gott meint, während alle Posi­tionen, die nicht auf Gott gebaut sind, negativ sind. Den Sinn unserer Zeit in Gott begreifen, also hineintreten in die Beunruhigung durch Gott und in den kritischen Gegensatz zum Leben, heißt zugleich unserer Zeit ihren Sinn in Gott geben. Denn die Vergebung ist im Gegensatz zu allen Ideologien, die eine Dinglichkeit beschönigen und verklären wollen, die Macht Gottes auf der Erde, die ein Neues schafft. Gerade indem wir durch alle Furcht, Verdrossenheit, Skepsis und polemische Aufklärung den Dingen gegenüber zurückgehen auf ihren Ursprung in Gott, gehen wir dem Punkt entgegen, wo sich das lebendi­ge Wort und die schöpferische Tat wieder einstellen müssen. Möchten wir uns doch durch alle bloß negativen zersetzungsmäßigen Erscheinungen, die wir bei diesem Rückgang auf Gott an uns selbst und mit der Welt erleben, nicht irre machen lassen in der Richtung der Bewegung selbst. Die Grabeswächter, die, da die Auferstehung geschieht, nach Grünewalds und Rem­brandts kühner Intuition nach allen Seiten von ihrem Sitz auf der verschlossenen Gruft her­unterkollern, sie bieten freilich einen bloß negativen, einen „unerfreulichen und wenig lehr­reichen Anblick“ – aber handelt es sich denn darum? Daß das nicht die Auferstehung ist, wis­sen wir auch. Aber wer nötigt uns denn, den Blick auf diese Nebenszene zu richten? Wer hin­dert uns, die Auferstehung selbst zu sehen, Gotteserkenntnis zu gewinnen, Gottesgeschich­te zu erleben? Und wer könnte die Auferstehung sehen, ohne selber an ihr teilzunehmen, sel­ber ein Lebendiger zu werden und in den Sieg des Lebens einzutreten?

Was haben wir damit gewonnen, daß wir so unsere Lage, den Moment der Bewegung, in der wir stehen, beschrieben haben? Haben wir nur eine neue Überschrift gesetzt über den alten, den heillosen Konflikt? Vielleicht ja. Wir haben es versucht, uns zu erinnern an das, was wir vergessen haben und immer wieder vergessen, an Gottes Offen-[18]barung und an unsern eigenen Glauben; vielleicht haben wir uns aber dessen nicht erinnert. Wir haben es versucht, unsern Blick auf das in Christus den Tod überwindende Leben zu richten; vielleicht haben wir aber nur eine tote Sache neben andern gesehen. Wir haben es versucht, den archimedischen Punkt zu bezeichnen, von dem aus die {49} Seele und mit der Seele die Gesellschaft bewegt ist; vielleicht haben wir aber aufs neue von einer metaphysischen Dinglichkeit, von einer falschen Trans­zendenz geredet und gehört. In dieser bösen Möglichkeit liegt die Schwäche und die Gefahr des eben Gesagten. Aber ist es nicht eigentlich gottlos, diese böse Möglichkeit als Möglichkeit allzu ernst zu nehmen? In Gott ist sie offenbar gerade die Unmöglichkeit, und in Gott leben, weben und sind wir. Wie könnten wir appellieren an diese letzte Instanz, an diese Voraussetzung alles Betrachtens und alles Betrach­teten, ohne uns allen möglichen Miß­ver­ständnissen zum Trotz letztlich zu verstehen, zu verstehen, daß wir von der Kraft der Auf­er­stehung leben, trotz aller Armut unserer Erkenntnis und Bewegtheit, zu ver­stehen, daß die Auferstehung Christi von den Toten keine Frage ist, sondern die Antwort, die uns gegeben ist und die wir alle schon irgend­wie gegeben haben? kai. parela,bete( evn w-| kai. e`sth,kate( diV ou- kai. sw,|zesqe( 1. Kor 15,1-2! Wir kommen tatsächlich mit, wir werden mitgenommen, mit oder ohne religiöse Stimmung. Gottlos wäre es, bei aller Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber, unser Mitkommen und Mitgenommenwerden ganz in Abrede zu stellen. Es ist mindestens etwas in uns, was hier mitgeht. Wenn aber auch nur etwas in uns mitgeht, dann ist allerdings unsere Beschreibung unserer Lage mehr als Beschrei­bung. Wir sind keine unbeteiligten Zu­schauer. Wir sind von Gott bewegt. Wir erkennen Gott. Gottesgeschichte geschieht in uns und an uns. Und so ist es das Licht des Sieges, in das unsere Hoffnung und unsere Not getre­ten ist. Die Hoffnung ist gegenüber der Not das ent­scheidende, das überlegene Moment. Kein Gleich­gewicht mehr von gött­lichen und weltlichen Interessen, Tendenzen und Kräften. Gott setzt den Hebel an, um die Welt zu heben. Und die Welt ist gehoben von dem Hebel, den Gott angesetzt hat. Gottesgeschichte ist a priori Sieges­geschichte. Das ist das Zeichen, in dem wir stehen. Das ist die Voraus­setzung, von der wir herkommen. Damit soll der ganze Ernst der Lage nicht verwischt, der tragische Zwiespalt, in dem wir uns befinden, nicht überstrichen sein. Wohl aber ist damit festgestellt, daß das letzte Wort zur Sache schon gesprochen ist. Das letzte Wort heißt Reich Gottes, Schöpfung, Erlösung, Vollendung der Welt durch Gott und in Gott. [19] Nicht das: Tritt nicht herzu! ist das letzte Wort über Gott, sondern: Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab! Nicht: Du bist Erde und sollst wieder zu Erde werden! ist das letzte Wort über {50} die Welt des Menschen, sondern: Ich lebe und ihr sollt auch leben! Mit diesem letzten Wort in offenen Ohren wollen wir unsere Hoffnung und unsere Not in uns bewegen. Die vordringende Herrschaft Gottes ist unser vorher Gegebe­nes. Die unselige Statik eines konstanten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch ist über­wun­den. Unser Leben gewinnt Tiefe und Perspektive. Wir stehen mitten in einer tragischen, aber auch zielgewissen Reihe göttlicher Taten und Erwei­sungen. Wir stehen in der Wende der Zeiten, in der Umkehrung von der Ungerechtigkeit der Menschen zur Gerechtigkeit Gottes, vom Tode zum Leben, von der alten zur neuen Kreatur. Wir stehen in der Gesell­schaft als die Begreifenden, also als die Eingreifenden, also als die Angreifenden, gehemmt durch das Heili­ge, aber nicht ganz gehemmt, zurückgestoßen durch das Profane, aber nicht ganz zurückge­stoßen. Die großen Synthesen des Kolosserbriefes, sie können uns nicht ganz fremd sein. Sie sind uns offenbar. Wir glauben sie. Sie sind vollzogen. Wir selbst vollziehen sie. Jesus lebt. „In ihm ist alles geschaffen, das im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsicht­bare es seien Throne oder Fürstentümer oder Obrigkeiten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen« (Kol 1,16).

III.

„Durch ihn und zu ihm geschaffen.“ Die nächste Aussicht, die sich gerade von da aus eröffnet, ist überraschend genug; wir dürfen uns aber nicht vor ihr verschließen, auch wenn sie viel­leicht nicht ganz zu unsern augenblicklichen Stimmungen passen sollte. Die Lage zwischen Gott und Welt ist durch die Auferstehung in so grundsätzlicher umfassender Weise bewegt, und die Stellung, die wir in Christus dem Leben gegen­über einnehmen, ist so radikal überle­gen, daß wir uns, wenn wir nun der Bedeutung und Kraft des Reiches Gottes im einzelnen nachgehen wollen, nicht etwa verleiten lassen dürfen, unsern Blick auf diejenigen Vorgänge und Erscheinungen zu beschränken, die wir im engeren und einzelnen Sinn als gesellschafts­kritische, revolutionäre zu bezeichnen gewohnt sind. Der Protest gegen das jeweilig Seiende und Bestehende ist freilich ein integrierendes Moment im Reiche Gottes, und es waren [20] dunkle, dumpfe, gottlose Zeiten, wo dieses Moment des Protestes unter­drückt und verhüllt werden konnte. Aber es ist auch dumpf und gottlos, Christus immer nur als den aus einer {51} unbegreiflichen Versenkung auftauchenden Erlöser oder vielmehr Richter der gegenwärtigen, im Argen liegenden Welt zu denken. Das Reich Gottes fängt nicht erst mit unsern Protestbe­wegungen an. Es ist eine Revolution, die vor allen Revolutionen ist, wie sie vor allem Beste­henden ist. Die große Negation geht den kleinen voran, wie sie auch den kleinen Positionen vorangeht. Das Ursprüngliche ist die Synthesis, aus ihr erst entspringt die Anti­thesis, vor allem aber offenbar auch die Thesis selbst. Die Einsicht in die echte Transzendenz des göttli­chen Ursprungs aller Dinge erlaubt, ja gebietet uns, immer auch das jeweilige Seiende und Bestehende als solches in Gott, in seinem Zusammenhang mit Gott zu begreifen. Der direkte, der schlichte, der methodische Weg führt uns notwendig zu­nächst nicht zu einer Verneinung, sondern zu einer Bejahung der Welt, wie sie ist. Denn indem wir uns in Gott finden, finden wir uns auch in die Aufgabe, ihn in der Welt, wie sie ist, und nicht in einer falsch trans­zenden­ten Traumwelt zu bejahen. Nur aus dieser Bejahung kann sich dann die echte, die radikale Verneinung ergeben, die bei unsern Protest­bewegungen offenbar gemeint ist. Nur aus der Thesis kann die echte Antithesis entspringen, die echte, d. h. die ursprünglich der Synthesis entspringende Antithesis. Die Welt, wie sie ist, wie sie uns gegeben ist und nicht, wie wir sie uns träumen, werden wir also zunächst ganz naiv hinzunehmen und auf ihre Beziehung zu Gott zu befragen haben. Gott könnte die Welt nicht erlösen, wenn er nicht ihr Schöpfer wäre. Nur weil sie sein Eigentum ist, kann sie sein Eigentum werden. Echte Eschatologie leuchtet auch nach rückwärts, nicht nur nach vorwärts. Jesus Christus gestern, nicht erst heute. Gott will als Schöpfer erkannt und verehrt sein auch in dem, was schlechthin ist und geschieht, „schlechthin“ diesmal nicht nur als schlichthin, sondern wirklich auch als schlechthin zu ver­stehen: in aller Schlechtigkeit, Entartung und Ver­wirrung, die diesem Seienden und Gesche­henden augenblicklich anhaftet. Reich Gottes ist auch das regnum naturae mit dem ganzen Schleier, der über dieser Herrlichkeit Gottes jetzt liegt — dem Schleier zum Trotz werden wir freilich sofort hinzufügen. In diesem Sinn kom­men wir uni den bekannten und oft verurteilten Hegelschen Satz von der Vernünftigkeit alles Seienden nicht herum. Es ist in allen gesell­schaft­lichen Verhältnissen, in denen wir uns vorfinden mögen auch in ihrem schlechthinnigen Sosein und Gewordensein, ein Letztes, das wir [21] erkennen, eine ur­sprüngliche Gnade, die wir als {52} solche bejahen, eine Schöpfungsordnung, in die wir uns finden müssen, so gut wie wir uns in die Schöpfungsordnungen der uns umgebenden Natur zu finden haben. Nicht in das Tödliche und Gottlose des Weltlaufs schicken wir uns damit, sondern in das Lebendige und Göttliche, das im Weltlauf immer noch mitläuft, und gerade dieses uns Schicken in Gott in der Welt ist zugleich unsere Kraft, uns in die Welt ohne Gott nicht zu schicken. „Durch ihn und zu ihm geschaffen.“ In diesem „Durch ihn“ und „Zu ihm“: durch Christus und zu Christus hin, liegt die Überwindung der falschen Weltverneinung, aber auch die unbedingte Sicherung gegen alle falsche Weltbejahung.

In diesem Sinn verstehen wir die nur scheinbar epikureische Lebens­weisheit des Predigers Salomo: „So gehe hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Werk gefällt Gott. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das du lieb hast, so lange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat, solange dein eitel Leben währt; denn das ist dein Teil im Leben und in deiner Arbeit, die du tust unter der Sonne. Alles, was dir vor Händen kommt zu tun, das tue frisch; denn in der Hölle, da du hinfährest, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit“ (Pred 9,4-11). Wer Ohren hat zu hören, der höre! Ich unter­lasse also alle Erklärungen. Man kennt jedenfalls Jesus schlecht, wenn man meint, er könnte das nicht auch gesagt haben. Es liegt durchaus auf seiner Linie. Wer durch die enge Pforte der kritischen Negation hindurchgegangen ist — es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel —, der darf und muß dann wieder so reden. In der Erkenntnis der absoluten Eitel­keit des Lebens unter der Sonne im Lichte des überhimmlischen Lebens Gottes liegt eben auch die Erkenntnis der relativen und nicht ganz unwichtigen und glanzlosen Möglichkeit und Berechtigung dieses eitlen Lebens.

In diesem Sinn verstehen wir die seltsame Tatsache, daß Sokrates sein Wissen um die Idee nicht ersinnt in weltabgeschiedener Klause, um es dann als ein Fremdes an die unwissenden Menschen heranzubringen. Nein, das Neue von oben ist ja zugleich das vergessene und ver­schüttete Urälteste. Erfinden heißt finden, und so findet Sokrates auf den Straßen und Plätzen des Athens {53} der peloponnesischen Kriege, welches keine civitas Dei war, findet im Wis­sen des Arztes, des Baumeisters und Steuermanns um den Sinn und Zweck ihres Berufshan­delns eine — trotz [22] aller Isolierung und Splitterhaftigkeit dieses Sinn- und Zweckwissens — vor­handene Beziehung auf ein allgemeines ursprüngliches Wissen um den Sinn und Zweck des Lebens. Staunend wird diese Beziehung auf­gedeckt und festgestellt. Das ist echte Vereh­rung Gottes des Schöpfers.

In diesem Sinn dürfte wohl auch der uns so schmerzliche Übergang Naumanns von seinem früheren christlich-sozialen Wollen zur schlecht­hinnigen National- und Wirtschaftspolitik zu verstehen oder denn also mißzuverstehen sein. Naumanns „ästhetische“ Bewunderung und Bejahung der Natur schlechthin, der Technik schlechthin, des Menschen schlechthin, warum, sollte sie im Kern etwas anderes gewesen sein als das Staunen vor dem Ursprung, in dessen Lichte wir das Licht sehen auch in der Finsternis. Und wenn wir heute wieder dort einsetzen möchten, wo Naumann stehen geblieben ist, so soll uns doch auch sein Stehenbleiben den Blick erweitert haben auf das aller Finsternis zum Trotz auch im Finstern leuchtende Licht. Wie groß die Gefahr ist, daß aus solchem weltbejahenden Hindurchschauen auf den Schöpfer doch wieder ein bloßes Schauen der Geschöpfe wird, das werden wir uns freilich gerade durch die Erinnerung an Naumann sagen. lassen. Auch Alkibiades, nicht nur Plato, ist bekanntlich an Sokrates Seite über den Markt von Athen gegangen. Aber die Tatsache allein, daß es mög­lich war, das Tun des Sokrates auch platonisch zu deuten, soll uns genügen zur Warnung, bei der Askese und bei dem Protest gegenüber den Ord­nungen auch dieses Äons nicht stehen zu bleiben. Wir dürfen über der Oppositionsstellung zum Leben, die wir in Christus einnehmen müssen, gerade den Sinn Christi nicht verlieren für die Bedeutung dessen, was im Alltag um uns her geschieht, geschehen muß und in seiner Weise vollkommen und recht geschieht. Son­dern gerade bei unserer Opposi­tionsstellung können und müssen wir das viel mißbrauchte: Verdirb es nicht, es liegt ein Segen drin!, die dankbare, lächelnde, verstehende Geduld gegen­über der Welt, den Menschen und uns selbst durchaus mitnehmen, besser sogar als die andern, die von dieser Oppositions­stellung nichts wissen. Wir können es uns leisten, romantischer zu sein als die Romantiker und humanistischer als die Humanisten.

Doch das muß näher präzisiert sein. Denken wir an die Lebens­anschauung, die sich in den Gleichnissen der synoptischen {54} Evangelien ausspricht. Was ist denn das eine merkwürdi­ge Charakteristikum aller dieser Stücke, durch das sie sich von Äsops und Gellerts Fabeln, von Grimms und Andersens Märchen, von Christoph Schmids Erzählungen und vom indi­schen religiösen Mythus mit aller Bestimmtheit abheben? [23] Doch wohl die schlichte Art, mit der hier das Himmelreich der Welt gleichgestellt wird. o`moi,a evsti.n h` basilei,a tw/n ouvranw/n heißt es – und dann kommt regelmäßig ein Bild aus dem Leben der Gesellschaft, das an sich gar nichts Himmlisches hat. Nicht die moralische, nicht die christliche, nicht irgend­eine gedachte und postulierte Welt wird beschrie­ben, sondern höchst naiv die Welt schlecht­hin, wie sie’s treibt und wie sie läuft, unbekümmert um den teilweise sehr massiven Erdenrest, der den ge­schilderten Vorgängen und Verhältnissen anhaftet. Ein rechter Lump, der von sei­nem Vater, weil er eben doch der Vater ist, mit einer für jeden Fernstehenden höchst unbe­greifli­chen Güte wieder aufgenommen wird. Ein keifendes Weib, das einem Richter, der sonst weder Gott noch die Menschen fürchtet, den Meister zeigt. Ein König, der in einen unvorsich­tigen Krieg zieht und dann im rechten Augenblick noch zum Rückzug blasen läßt. Ein Speku­lant, der sein ganzes Vermögen einsetzt, um eine kostbare Perle zu gewinnen. Ein Schlaumei­er, ein rechter Kriegsgewinnler, der sich höchst umsichtig in den Besitz eines zufällig ent­deckten Schatzes zu setzen weiß. Ein Spitzbube, der mit dem ungerechten Mammon umgeht, als ob es kein Mein und Dein gäbe. Eine Gruppe Kinder auf der Straße in vollem Händel. Der Bauer, der höchst behaglich schläft und wieder aufsteht, indes sein Land von selbst für ihn arbeitet. Ein Mensch, der, wie es so gehen kann, unter die Räder und unter die Räuber kommt im Leben, und der, obwohl die Welt voll frommer Leute ist, lange warten muß, bis er eine mitleidige Samariter­seele findet. Ein launiger Gastgeber, der unter allen Umständen sein Haus voll sehen will. Eine alleinstehende Frauensperson, die, da sie einen Groschen verloren hat, tut, als wäre alles verloren. Der Gerechte und der Ungerechte nebeneinander in der Kirche, beide durchaus sich selber treu. Das ist alles so banal, so illusionslos, so ganz ohne eschato­logische Spitze hingestellt, wie eben das Menschenleben tatsächlich ist, und gerade darum von Eschatologie voll bis zum Rand. Denn es ist doch wohl nicht Erzählungstechnik, nicht literarische Form, sondern wie alle innerlich notwendige Form bereits selbst bedeutungsvoller Inhalt, Lebensan­schauung, wenn da die Erscheinungen des Tages so ungebrochen {55} in ihrer in sich selbst beru­henden Notwendigkeit, Berech­tigung und Vollkommenheit begriffen werden. Es ist dasselbe freie Überblicken und Verstehen und Darstellen des tatsächlichen Lebens der Gesellschaft, das z. B. die Romane Dostojewskis von der Art unter­scheidet, mit der wir uns in den meisten Erzählungen Tolstojs sofort angepredigt fühlen. Nur aus der radi­kalsten Erkenntnis der Erlö­sung [24] heraus kann man das Leben, wie es ist, so hinstellen, wie Jesus es getan hat. Nur vom Standpunkt der Antithesis, die in der Synthesis wurzelt, kann man die Thesis so ruhig gelten lassen. So kann nur einer reden, der dem Leben absolut kritisch ge­genübersteht, und der darum, anders als Tolstoj, mit der relativen Kritik immer auch zurück­halten, der aus einer letzten Ruhe heraus ebensogut im Weltlichen die Analogie des Göttlichen anerkennen und sich ihrer freuen kann. Denn auch hier handelt es sich selbstverständlich nicht um ein sich an seinen Gegenstand verlierendes Anschauen, sondern um ein Hindurchschauen in die ur­sprüngliche Schöpfung, in das Himmelreich, dessen Gesetze sich in den Vorgängen und Ver­hältnissen des gegenwärtigen Äons abschatten. „Wird doch Gottes unsichtbares We­sen: seine ewige Kraft und Gottheit von der Erschaffung der Welt her durch die Vernunft in seinen Wer­ken erschaut“ (Röm 1,20). Noch deutlicher als bei Sokrates ist bei Jesus jene weit­blickende lächelnde Geduld, mit der alles Vergängliche auch in seinen abnormen Gestal­ten ins Licht des Unvergänglichen gerückt wird. Denn der Herr lobte nicht nur den trefflichen Arzt, den ge­schick­ten Steuermann, sondern auch den ungerechten Haushalter. Noch deut­licher aber auch: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Denn gerade die große Gelassenheit dem Gegen­stand gegenüber macht es hier ganz klar, daß das Ursprüngliche, das Schöpfungsmäßi­ge im schlechthin Seienden und Geschehenden, in keinem Sinn im Gegenstand selbst, sondern in seiner Idee, in seinem himmlischen Analogon zu suchen ist. Noch deutlicher endlich das kei­neswegs Rationale, Selbstverständliche, auf der Hand Liegende, sondern Wunderbare und Offenbarungsmäßige des Erschauens des unsichtbaren Wesens Gottes durch die Vernunft in seinen Werken, wie auch Paulus betont hat: „Der Gottesgedanke ist ihnen bekannt. Gott hat ihn ihnen bekannt gemacht“ (Röm 1,19). Denn einigen ist es gegeben, die Geheimnisse des Himmelsreich zu wis­sen, das Unvergängliche im Gleichnis {56} des Vergänglichen zu schau­en, andern aber ist es nicht gegeben. Ihnen muß es vielmehr gerade durch das Gleichnis ver­hüllt werden, damit das Göttliche nicht etwa gottlos begriffen werde. Ohne Augen darf es kein Sehen geben, ohne den ver­gebenden Gott keine Vergebung. Sondern wer da hat, dem wird ge­geben werden und, er wird die Fülle haben. Die so oft bedauerte und belächelte soge­nannte Markus-Theorie über den Sinn der Gleichnisse (Mk 4,10-12, Mt 13,10-17) ist also durchaus gerade ihre kongenialste und zweifellos von Jesus selbst herrührende Deutung. Bil­der aus dem Leben, wie es ist, sind die Gleichnisse, Bilder, die etwas bedeuten. Denn [25] das Leben, wie es ist, bedeutet etwas. Und wer das Leben, ‚wie es ist, nicht versteht, kann auch seine Be­deutung nicht verstehen. Der so kühn und frei Welt und Himmelreich, Gegen­wärtiges und Ursprünglich-Zukünftiges zusammen schaute, der hatte offenbar einen starken Sinn für Sach­lichkeit. Eines kommt in den Gleichnissen nicht vor, nämlich Dilettantismus, Pfuscherei und Halbheit. Sogar der unnütze Knecht, der sein Pfund vergräbt, ist in seinem Tun und Reden in seiner Weise ein ganzer Mann. Die Kinder dieser Welt sind klug, sie machen ihre Sache auf ihrem Boden recht, besser als die Kinder des Lichts auf ihrem Boden, und der Herr lobt sie dafür. Sie sind hoffnungsvolle Erschei­nungen. Wo man seine Sache recht macht, da ist offen­bar — nicht das Himmelreich selbst, aber eine große Möglichkeit, daß das Himmel­reich sei­nen weltlichen Vordergrund gleichsam durchschlägt und ins Bewußtsein, in die Erscheinung tritt. Soweit wir wissen, hat Jesus seine Jünger bei der Arbeit und nicht beim Müßiggang getroffen, als er sie in seinen Dienst rief: aus den Fischern konnten Menschenfi­scher werden, und aus der schlichten Pflicht, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, die Erkenntnis, daß noch viel mehr und noch ganz anderes Gott zu geben ist, was Gottes ist. Das klassische Bei­spiel für diesen bildlichen Cha­rakter der bestehenden Verhältnisse und für das Durchschlagen des himmlischen Urbilds ist der Hauptmann von Kapernaum, der sich, ob es uns freut oder nicht, in seinem Tun als Militär selber zum Gleichnis wird für die Ordnungen des Messiasreichs, und dessen schlichte Einsicht dann von Jesus als Glaube gerühmt wird, wie er ihn in dem allzu geistlichen, ewig im Protest gegen die bestehende Welt begriffenen Israel nicht gefunden.

Was folgt aus dem allem? Offenbar der Hinweis darauf, daß schlichte Sachlichkeit unseres Denkens, Redens und Tuns auch innerhalb der jeweiligen bestehenden Verhältnisse und im Bewußt-{57}sein der Gefan­genschaft, in der wir uns hier befinden, eine Verheißung hat — nicht mehr, aber auch nicht weniger folgt daraus. Wir haben uns in keiner Weise als Zu­schauer neben den Lauf der Welt, sondern an unserm be­stimmten Platz in diesen Lauf hin­einzustellen. Das Bewußtsein der solidarischen Verantwortlichkeit, die auf unsere Seele gelegt ist der ent­arteten Welt gegenüber oder anders ausgedrückt: der Gedanke an den Schöp­fer, der auch der gefallenen Welt Schöpfer ist und bleibt, zwingt uns zu dieser Haltung. Mag denn alles, was wir im Rahmen des jeweilig schlechthin Seienden und Geschehenden tun können, nur Spiel sein im Verhältnis zu dem, was eigentlich getan werden sollte, [26] so ist es doch ein sinnrei­ches Spiel, wenn es recht gespielt wird. Aus schlechten Spielern werden sicher keine guten Arbeiter, aus Bummlern, Journalisten und Neugierigen auf dem Kampf­platz des Alltags keine Stürmer des Himmelreichs. Das tiefste Befremden über die Problema­tik alles rein gegen­ständlichen Denkens und Schaffens muß zur Bereitschaft werden zum tiefsten Respekt vor jeder ehrlichen Leistung: es könnte ja die Reinheit des Ursprungs sein, die uns darin entge­gentritt, und gewiß tritt sie uns darin entgegen, wenn wir die Augen haben zu sehen. Die tiefste Unsicherheit in bezug auf den Wert unserer eigenen Arbeit muß den tief­sten Willen in uns erzeugen, rechte, gesunde, vollendete Arbeit zu tun; es könnte ja, wenn der Funke von oben dazu kommt, das Unvergängliche im Vergänglichen zur Erscheinung kom­men. Die gött­lichen Gebote: Erfüllet die Erde und machet sie euch untertan! Wer nicht arbei­tet, der soll auch nicht essen! Der im Anfang den Menschen schuf, der schuf sie einen Mann und ein Weib! Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohl gehe! sie stehen in voller Kraft. Die köstli­che gött­liche Weisheit des von Oetinger so dringend empfohlenen sensus com­munis der Sprüche und des Predigers Salomo werden wir doch nicht umsonst ihre Stimme auf den Gas­sen hören lassen, mögen diese Schrif­ten so spätjüdisch sein als sie immer wollen. Und den göttlichen Segen zu, erfahren, den Isaak und Hiob, nachdem sie durch die enge Pforte hin­durchgegangen, schon auf dieser Erde empfingen, werden wir doch nicht zu großzügig sein wollen. Eine demütige, aber zielklare und auch wohl freudige Freiheit, uns auch auf dem Boden dieses Äons zu be­wegen, wird uns nie ganz verboten und unmöglich sein: die Freiheit, im Lande der Philister zu wohnen, die Freiheit, im Haus der Zöllner und Sünder mit ruhiger Überlegenheit {58} ein- und auszugehen, so auch im Hause des ungerechten Mammon, so auch im Hause des Staates, welcher ist das Tier aus dem Abgrund, heiße er wie er wolle, so auch im Hause der gottlosen Sozialdemokratie, so auch im Hause der falsch berühmten Wis­senschaft und der losen Künste, so auch endlich und zuletzt sogar im Kirchenhaus. Warum denn nicht? Warum nicht just eben? Introite nam et hic dii sunt! In der Furcht Gottes werden wir ein- und ausgehen, ohne darum zu Götzendienern zu werden, ein- und ausgehen, als täten wir es nicht. Die Furcht Gottes ist unsere Freiheit in der Freiheit. „Ist’s nun nicht besser dem Menschen, daß er esse und trinke und seine Seele guter Dinge sei in seiner Arbeit? Aber sol­ches sah ich auch, daß es von Gottes Hand kommt. Denn wer kann fröhlich essen und sich ergötzen ohne ihn?“ (Pred 2,24-25.) Den Hinweis der [27] Romantik, daß das Reich Gottes nicht erst heute anfange, den Hinweis des Humanismus, daß auch der gefallene Mensch der Träger des gött­lichen Lichtfunkens ist, wir bejahen ihn. Wir bejahen das Leben. Auch das regnum naturae, die große Vorläufigkeit, in deren Rahmen sich alles Denken, Reden und Handeln jetzt ab­spielt, kann ja immer regnum Dei sein oder werden, wenn nur wir im Reiche Gottes sind und Gottes Reich in uns. Das ist nicht Weltweisheit. Das ist Wahrheit in Christus. Das ist gründ­liche und grundlegende biblische Lebenserkenntnis.

IV.

Aber von dieser Seite der Lebenserkenntnis werden wir lieber mit der ‚Bibel leise als mit dem klassischen Altertum und dem deutschen Idealismus laut oder gar überlaut reden. Wir werden uns also zwar davor hüten, uns die Lebensverneinung mit gewissen Gestalten der russischen und überhaupt der östlichen Literatur zu einem eigenen Thema werden zu lassen. Denn der Untergang von Sodom und Gomorrha ist nichts zum Betrachten; über diesem Betrachten wird man zur Salzsäule. Aber auch die Lebensbejahung allein kann nicht wieder Thema werden. Hinter die grundsätzliche Gebrochenheit der Lebens­erkenntnis Dostojewskis wollen wir nicht wieder zurück, weder zu den Griechen noch zu Goethe. Und nicht einmal einem harmoni­schen Gleichgewicht beider Momente möchten wir das Wort reden. Das Ver­hältnis zwischen der Tragik, die doch auch hinter dem griechischen Kulturbewußtsein steht, und dem Glanz der Humanität, mit {59} dem es sich dann trotzdem zu umgeben wußte, ist eine feine und ernste Frage, die jedenfalls nicht abstrakt und rational, sondern nur im Zusammen­hang der Gottesge­schich­te gelöst werden darf. Dann sind aber offenbar beide Momente nicht gleich starke, gleichsam symmetrische Momente der Wahrheit. Mögen es Goethe auf seinem weimarischen Jupiter­thron und Dionysos-Nietzsche darin gehalten haben, wie sie wollten und durften, und mag es nach Kutters Mitteilungen dem göttlichen Humor zukommen, sich unter Tränen lä­chelnd in den Rätseln des Weltlaufs zu offenbaren – wir dürfen es uns jedenfalls nicht leisten, die Bewe­gung und Spannung zwischen diesen beiden Momenten irgendwie auszu­gleichen und zur Ruhe zu bringen, auch nicht um der uns wohl bewuß­ten Vollständigkeit des philoso­phischen Begriffs des Menschen willen. Architektonische Gründe dürfen uns nicht übersehen lassen, daß die [28] Antithesis mehr ist als bloße Reaktion auf die Thesis. In eigener ur­sprüng­licher Kraft entspringt auch sie der Synthesis, die Thesis in sich begreifend und aufhebend und also in jedem denkbaren Moment sie an Würde und Bedeutung überragend. Ruhe ist in Gott allein. Wir müssen uns, auch wenn wir unsere Lage von Gott aus zu begreifen suchen, ehrlicherwei­se immer eingestehen, daß uns die Tragik unserer Lage stärker bewußt ist als die Souveränität, mit der wir uns allenfalls mit dieser Lage abzufinden wissen. Die Tränen sind uns näher als das Lächeln. Wir stehen tiefer im Nein als im Ja, tiefer in der Kritik und im Pro­test, als in der Naivität, tiefer in der Sehnsucht nach dem Zu­künftigen als in der Beteili­gung an der Gegen­wart. Wir können den Schöpfer der ursprünglichen Welt nicht anders ehren als indem wir schreien nach dem Erlöser der jetzigen Welt. Unser Ja gegenüber dem Leben trug ja von vornherein das göttliche Nein in sich, nun bricht es hervor in der Antithesis, gegenüber der vorläufigen Thesis hinweisend auf die ursprünglich-endliche Synthesis, selber noch nicht das Letzte und Höchste, aber der Ruf aus der Heimat, der auf unsere Frage nach Gott in der Welt antwortet. Das alte Lied von der Arbeit und Tüchtigkeit, von der Kultur und von der evangeli­schen Freiheit werden wir also auch im höheren Chor nur unter stärkster Dämpfung wieder auf­nehmen. Unsere Beunruhigung durch Gott, seine Gnade und sein Gericht hat sich nun einmal der Entfaltung des Lebens verheißend, aber auch warnend in den Weg gestellt, und wir können keinen Augen­blick mehr nicht an dieses Ereignis denken. Zu sehr bedrängt uns bei aller {60} erlaubten und nötigen Lebensbejahung die Tatsache, daß unser Handeln in die­sem Äon wohl in Analogie, aber nicht in Kontinuität mit dem göttlichen Handeln steht. Zu wirksam ist gerade die Voraus­setzung unserer Lebensbejahung, die darin besteht, daß alles eitel, alles ganz eitel ist. Zu belastet ist unsere Gegenwart durch die Einsicht, daß noch nicht erschienen ist, was wir sein werden. Zu olympischen An­wandlungen ist in diesem Äon kein Raum. Die Souveränität, die Alkibiades im „Gastmahl“ an Sokrates bewundert, entspringt doch gerade der Gebrochenheit der sokratischen Lebenserkenntnis, dem kritischen Wissen um die Idee, und nicht anders steht es offenbar bei einem Michelangelo, einem Bach, einem Schi­ller. Das sah jener atheniensische Vollblutmensch nicht. Wir aber sollen es sehen und das Gleichnis nicht mit der Sache verwechseln. Wirkliche Lebenserkenntnis ist allen Ab­straktio­nen feind. Sie kann Ja sagen, aber nur um aus dem Ja heraus noch lauter und dringender Nein zu sagen. Denn sie richtet sich nicht [29] nach der systematischen Vollständigkeit, sondern nach dem Stand ihrer eigenen Geschichte, nach dem Gebot der Stunde. Sie hat ihren eigenen Gang. Sie ist bewegt und mehrdimensional.

Und so führt uns denn gerade der freie Blick auf die Schöpfungs­ordnung sofort weiter auf das Gebiet, wo Licht und Finsternis in sieg­reichem, aber schwerem Kampf stehen, vom regnum naturae hinüber ins regnum gratiae, wo in Christus das ganze Leben problematisch, bedenk­lich und verheißungsvoll wird. Es ist derselbe Gott, der „ansah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31) — „welcher uns errettet hat aus der Obrigkeit der Fin­sternis und hat uns versetzt in das Reich seines lieben Sohnes“ (Kol 1,13). Eben dasselbe Bewegende, das uns die Harmlosigkeit gegenüber dem Leben gibt, nimmt sie uns auch wie­der. Die richtig vernommene Antwort wird zur neuen Frage, das Ja zum Nein, und mit der gleichen ganzen Notwendig­keit, mit der wir in Gott den ewigen Anfang und das ewige Ende erkennen, müssen wir uns nun auch finden in dem Übergangscharakter der Mitte, der Gegen­wart, in der wir stehen. Gerade indem uns die Gesellschaft zum Spiegel ursprünglicher Got­tesgedanken wird, wird sie uns zum Spiegel unserer Not und unserer Hoffnung.

So wendet sich das Reich Gottes zum Angriff auf die Gesellschaft. Warum ist uns Gott so verborgen? Warum wird es uns so schwer, fast unmöglich, mit Sokrates und den synoptischen Gleichnissen jenen ur­sprünglichen Sinn wiederzuerkennen in dem, was {61} wir schlechter­dings tun und andere schlechterdings tun sehen? Liegt es an unsern Augen oder liegt es an den Din­gen? Wie kommt es, daß es einigen nicht gegeben ist, zu sehen, andern aber gegeben, aber auch diesen so selten, so spär­lich? Warum sind wir so gefangen und gehindert, wie von einem unge­heuren Druck, bei der an sich so schlichten Aufforderung, hier und jetzt den Willen Got­tes zu tun? Warum läßt auch das Verhalten des aus­gezeichnetsten Christen in der Gesell­schaft einen Zweifel in uns übrig, ob das nun das Tun des Willens Gottes sei, von dem in der Bibel mit solchem Gewicht die Rede ist? Warum wendet sich unser Blick, wenn wir dieser schlich­ten Aufforderung gedenken, fast ausschließlich und als ob es so sein müßte, der Zu­kunft zu: quod vixi tege, quod vivam rege! Morgen, morgen soll es besser werden? Warum stehen wir immer nur in den Vorbereitungen zu einem Leben, das nie anfangen will? Warum können wir nicht triumphierend, im Sonnenschein des Huma­nismus, auf zwei Füßen, mit zwei Händen und zwei Augen ins Reich Gottes eingehen, sondern bestenfalls als Lahme, Krüppel und Ein-[30]äugige, als die Erniedrigten, Gedemütigten und Zerknirschten? Warum können tatsächlich nur die Philister zufrieden und selbstzufrieden sein? Warum können wir uns, und wenn wir noch so viele vorletzte Ein­wände hätten, gerade im letzten Grunde nicht verschließen gegen­über dem Protest, den Kierkegaard gegen Ehe und Familie, den Tolstoj gegen Staat, Bildung und Kunst, den Ibsen gegen die bewährte bürger­liche Moral, den Kutter gegen die Kirche, den Nietzsche gegen das Christentum als solches, den der Sozialismus mit zusammenfassender Wucht gegen den ganzen geistigen und materiellen Bestand der Gesell­schaft richtet? Warum bringen wir kein Pathos auf, um uns gegen das Unerhörte zu verwahren, daß Dostojewski den Christus als Idioten durch die Gesellschaft gehen und das echte Christusverständnis beim Mör­der und bei der Dirne seinen Anfang nehmen läßt? Warum bejaht etwas in uns den radika­len Protest, den die Mystik des Mittelalters, die ursprüngliche Reformation und das Täufertum gegen die Religion richtet, die innerhalb der Gesellschaft die allein vorstellbare und mög­liche ist? Warum beugen wir uns mit einem sacrificium, bei dem wahr­haftig noch ein wenig mehr auf dem Spiel steht, als unser bißchen Intellekt, vor der Botschaft der Bergpredigt, in der Menschen selig gepriesen werden, die es gar nicht gibt, in der dem, was zu den Alten gesagt ist und was {62} wir beständig zueinander sagen müssen, ein „Ich aber sage euch!“ gegen­überge­stellt wird, für das wir weder in der heuti­gen noch in irgendeiner denkbaren Gesell­schaft Verwendung haben, die eine Moral verkündigt, deren Voraussetzung darin besteht, daß es keine Moral mehr geben darf? Warum sind wir so verlegen und antwortlos gegenüber der Anklage, die der alttestamentliche Gesellschaftsphilosoph gegen das Leben, — nicht nur gegen die und jene heutigen Zustände, sondern gegen das Leben selbst erhebt: „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne; und siehe, da waren Tränen derer, die Unrecht litten und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, daß sie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten; und besser denn alle beide ist, der noch nicht ist und des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht.“ (Pred 4,1-3.) Wie kommt es, daß wir das alles verstehen, ohne es zu verstehen, bejahen, ohne es zu bejahen, daß wir bei dem ganzen Angriff, der sich da aus einer letzten Tiefe gegen die Grundlagen der Gesellschaft richtet, mitgehen müssen, ohne es zu wollen?

Es ist doch wohl klar, wir sind gegenüber diesem Angreifer in der-[31]selben Zwangslage, in der wir uns gegenüber dem Verteidiger befanden, und der Verteidiger und der Angreifer müs­sen einer und derselbe sein und der Angriff ist der Fortschritt über die Verteidigung hinaus. Und auch das ist klar: Diese Zwangslage kommt nicht von außen an uns heran; es geschieht das alles in unserer eigensten Freiheit. Denn Gott der Schöpfer, auf den wir aufmerksam geworden sind, ist auch Gott der Erlöser, dessen Spuren wir von uns aus folgen müssen, und im Fortgang der Gottesgeschichte, in die wir eingetreten sind, liegt es eben, daß wir von uns aus von der Verteidigung zum Angriff, vom Ja zum Nein, von der Naivität zur Kritik der Ge­sellschaft gegenüber fort­schreiten müssen. So wenig wir uns jenem ursprünglichen Ja ver­weigern können, so wenig, nein, rebus sic stantibus noch weniger diesem ur­sprünglichen Nein; denn beide sind eins und eins folgt aus dem andern. Es ist in der Wahrheit Christi, die uns eben noch zur Mahnung zur schlichtesten Sachlichkeit wurde, zugleich ein stürmisches Vorwärts, das uns und unser gesellschaftliches Leben auf eine noch ganz andere Sach­lichkeit hinweist. Wir können ja nicht dabei stehen bleiben, in allem Vergänglichen nur das Gleichnis zu sehen. Es {63} ist etwas in der Analogie, das zur Kontinuität hindrängt wie beim Haupt­mann von Kapernaum. Das Gleichnis ist Verheißung und Verheißung will Erfüllung. Das Kind möchte, nachdem es empfangen ist, geboren werden. Es ist ein Harren in der Kreatur auf die Offenbarung der Söhne Gottes und ihr ōdínein und stenázien, ihre Geburtswehen und ihre Seufzer sind doch keine andern als unsere eigenen (Röm 8,19-23). Das, was in all unserm Denken, Reden und Tun immer nur gemeint ist, gerade das drängt zur Erscheinung; wir kön­nen uns ja an den Bildern und Gleichnissen nicht genügen lassen. Nicht umsonst hat uns das Vergängliche das Gleichnis des Unvergänglichen geboten, nun können wir das Untergängli­che nimmer vergessen, nun kann keine Ruhe mehr sein fern vom Reiche Gottes. Nun kann kein Verweis auf ein Jenseits mehr Ruhe schaffen; denn eben das Jenseits ist es ja, das durch seine Abwesenheit im Dies­seits und durch sein Anklopfen an die verschlossenen Türen des Dies­seits zur Ursache unserer Unruhe wird. Und so hilft dieser Unruhe gegenüber auch keine pessimistische Diskreditierung des Diesseits; denn eben in unserer Diesseitigkeit wird uns unser Abfall bewußt und erscheint uns im Gleichnis unsere Verheißung. to. fqarto.n tou/to, dieses Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und to. qnhto.n tou/to, dieses Sterb­liche muß anziehen die Unsterblichkeit (1. Kor 15,53). Wir müssen ganz hinein in die Er­schüt­terung und Umkehrung, in das Gericht [32] und in die Gnade, die die Gegenwart Got­tes für die jetzige und jede uns vorstellbare Welt bedeutet, wenn anders wir nicht zurückblei­bend heraus wollen aus der Wahrheit Christi, aus der Kraft seiner Auf­erstehung. Diese Er­schütte­rung und Umkehrung können wir nicht be­trachten als fromme oder witzige Zuschauer, noch sie umgehen mit dem Begehren, breite, lichte, volle Straßen zu wandern mit den Roman­tikern und Humanisten; es wäre denn, wir stellten uns bewußt zu denen, von denen es heißt: avgnwsi,an ga.r qeou/ tinej e;cousin (1. Kor 15, 34). Wir müssen Gott gegenüber in unserer sichern Kreatürlichkeit ein­mal aus dem Gleichgewicht kommen, wir dürfen uns nicht länger auf die „Wirklichkeit“ berufen, wo es sich eben darum handelt, daß die Wirklichkeit aus der „Wirklichkeit“ hervorbrechen will. Wir müssen uns des Ernstes der Lage, der Wucht des gegen uns und doch von uns selbst geführten Angriffs einmal bewußt werden. Wie furchtbar, wenn gerade die Kirche tatsächlich von dem allen nichts merken, sondern ihren ganzen Eifer daran {64} setzen sollte, dem Menschen das Gleich­gewicht, das er endlich verlieren sollte, zu erhalten! Doch was geht uns die Kirche an? Die Frage, ob wir es denn schon gemerkt haben, um was es geht, ist für uns alle so anhaltend ernst, daß wir uns aller Blicke nach links und rechts enthalten können. Ja, haben wir den Ruf gehört, den wir gehört haben? Haben wir ver­standen, was wir verstanden haben? Daß eine Neuorientierung an Gott dem Ganzen unse­res Lebens gegenüber, nicht nur ein in die Opposition treten in einigen oder vielen Einzelhei­ten heute die Forderung des Tages ist? Daß wir diese Wendung im ganzen dann aber auch erwah­ren und bewähren müssen in einer großen kritischen Offenheit im einzelnen, in mutigen Ent­schlüssen und Schritten, in rücksichtslosen Kampfansagen und geduldiger Reform­arbeit, heu­te wohl ganz besonders in einer weitherzigen, umsichtigen und charaktervollen Haltung ge­genüber, nein, nicht als unverantwort­liche Zuschauer und Kritiker gegenüber, sondern als mithoffende und mitschuldige Genossen innerhalb der Sozialdemokratie, in der unserer Zeit nun einmal das Problem der Opposition gegen das Bestehende gestellt, das Gleichnis des Gottesreiches gegeben ist und an der es sich erweisen muß, ob wir dieses Problem in seiner absoluten und relativen Bedeutung verstanden haben. Wer von uns dürfte sich rühmen, tief genug in dieser gebrochenen Lebenserkenntnis zu stehen? Domine ad te nos creasti — das ist ihr Ja. Et cor nostrum inquietum est donec requiescat in te — das ist ihr überragendes, bren­nendes Nein. Wir stehen wohl alle erst im Anfang.

Aber wie dem auch sei — ein neuer Tag ist angebrochen. Jesus Christus heute — heute der­selbe! „Heute, heute so ihr seine Stimme höret, so verstocket eure Herzen nicht!“ „Seit den Tagen Johannes des Täufers und bis heute stürmt das Himmelreich herein (biázetai) und die Stürmer (die biastaí) reißen es an sich“ (Mt 11,12). Und: „Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon“ (Lk 12,49). Das ist das regnum gratiae. „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“

V.

Aber nun müssen wir ein letztes Mal innehalten, um uns über das eben Gesehene zu verstän­digen. Neben die schlichte sachliche Mitarbeit im Rahmen der bestehenden Gesellschaft ist die radikale {65} Opposition gegen ihre Grundlagen getreten. Aber wie wir uns dort verwah­ren mußten gegen das Mißverständnis, als könnten durch solche Sachlichkeit die gestürzten Götzen wieder aufgerichtet werden, so müssen wir uns jetzt sichern gegen den Irrtum, als wollten wir durch Kritisieren, Prote­stieren, Reformieren, Organisieren, Demokratisieren, Sozialisieren und Revolutionieren, und wenn dabei das gründlichste und umfassendste ge­meint wäre, etwa dem Sinn des Gottesreiches Genüge leisten. Darum kann es sich wirklich nicht handeln. Keine ungehemmte Naivität in diesem Äon, aber auch keine ungehemmte Kri­tik. Die Problematik, in die wir durch Gott geworfen sind, darf so wenig wie die Schöpfungs­ordnung, auf deren Boden wir durch ihn gestellt sind, zur Abstraktion werden. Sondern eins muß durch das andere und beides muß aus Gott verstanden werden. Wenn wir es anders hal­ten, geraten wir aus einer Weltweisheit in die andere. Unser Ja wie unser Nein trägt seine Begren­zung in sich selber. Indem Gott es ist, der uns jene Ruhe und diese größere Unruhe bereitet, wird es klar, daß weder unsere Ruhe noch unsere Unruhe in der Welt, so notwendig beide sind, letzte Gesichts­punkte sein können.

Das andere, das wir mit unserm Denken, Reden und Tun in Gleich­nissen meinen, das andere, nach dessen Erscheinung wir uns, der Gleich­nisse müde, sehnen, es ist nicht nur etwas ande­res, sondern es ist das ganz andere des Reiches, das das Reich Gottes ist. Die Kraft der Thesis und die Kraft der Antithesis wurzeln in der ursprünglichen, absolut erzeugenden Kraft der Syn­thesis. Das Verwesliche ist nicht etwa die [34] Vorstufe zum Unverweslichen, sondern wenn es heißt, daß dies Ver­wesliche anziehen soll die Unverweslichkeit, so gilt es zu beden­ken, daß diese Bekleidung, nach der uns verlangt, ein Bau ist, von Gott erbaut, ein Haus, das nicht mit Händen gemacht ist, das ewig ist, im Himmel (2. Kor 5,1). Wir meinen zu verstehen, was der deutsche Theologe wollte, der während des Krieges die Entdeckung gemacht hat, daß man statt Jenseits hinfort besser Innseits sagen sollte; wir hoffen aber lebhaft, daß dieses mehr schlangenkluge als taubeneinfältige Wort­spiel keine Schule mache. Nein nein, antworten wir, geht uns, ihr Psychiker, mit eurem Innseits! Apage Satanas! Jenseits, trans, darum gerade han­delt es sich, davon leben wir. Wir leben von dem, was jenseits des Reichs der Analogien ist, zu denen auch unser bißchen Innseits gehört. Von den Analogien führt keine Kontinuität hinüber in die göttliche Wirklichkeit. Kein gegenständlicher Zusammenhang zwischen dem, was gemeint ist, und dem, was ist, darum auch kein gegenständlicher, etwa entwicklungs­mäßig vorzustellender Übergang von hier nach dort. Das Himmelreich ist eine Sache für sich, seine Ver­heißung sowohl wie seine Offenbarung, wie die Fülle seiner Gegenwart, so gewiß es nicht für sich bleibt und bleiben kann. So ist das Ziel der Geschichte, das télos, von dem Pau­lus 1. Kor 15,23-28 geredet, kein geschichtliches Ereignis neben andern, sondern die Summe der Geschichte Gottes in der Geschichte, in ihrer uns verhüllten, ihm aber und den von ihm erleuchteten Augen offenbaren Herrlichkeit. télos heißt ja weniger Ende als Zweck. Das Reich der Zwecke ist aber bekanntlich eine höhere Ordnung der Dinge, die im Schema der Zeit und der Kon­tingenz nicht zu erfassen ist. Nur in Gott ist die Synthesis, nur in Gott ist sie für uns zu finden. Finden wir sie in Gott nicht, so finden wir sie gar nicht. „Hoffen wir nur in diesem Leben auf Christus, so sind wir die unglücklichsten aller Menschen“ (1. Kor 15,19). Denn die Schöp­fung und die Erlösung haben ihre Wahrheit darin, daß Gott Gott ist, daß seine Imma­nenz zugleich seine Transzendenz bedeutet. „Fleisch und Blut kann das Reich Gottes nicht ererben“ (1. Kor 15, 50). Die Kreatürlichkeit und die Offenbarung der Söhne Gottes schließen sich gegenseitig aus. Noch einmal: nur in Gott ist die Synthesis zu finden, — aber in Gott ist sie zu finden, die Synthesis, die in der Thesis gemeint und in der Antithesis gesucht ist. „Die Kraft des Jenseits ist die Kraft des Diesseits“ hat Troeltsch in seinen „Soziallehren“ merkwür­dig tref­fend gesagt, und wir fügen hinzu: sie ist die Kraft der Bejahung und die größere Kraft der Verneinung. Die Naivität und die Kritik, mit [35] denen wir in Christus der niederen Ordnung der Dinge gegenüber­stehen, sie entströmen gleicherweise der höheren Ordnung der Dinge, die in Gott, aber nur in Gott mit jener eins ist. In der Kraft der Auf­erstehung haben Naivität und Kritik ihre Möglichkeit, ihre Berech­tigung und ihre Notwendigkeit.

Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist darum die welt­bewegende Kraft, die auch uns bewegt, weil sie die Erscheinung einer totaliter aliter — mehr können wir nicht sagen — geordneten Leiblich­keit in unserer Leiblichkeit ist. Denken Sie noch einmal an die Darstel­lung des Isenheimer Altars und denken Sie meinetwegen an die kopfschüttelnden Glossen, mit denen die {67} Kunsthistoriker sich um diese Darstellung herumzudrücken pflegen. Das gerade ist’s! Und der heilige Geist der Pfingsten war darum der Heilige Geist, weil er nicht mensch­licher Geist war, auch nicht im besten reinsten Sinn, sondern horribile dictu unter Brausen vom Himmel und Bewegen der Stätte, da sie ver­sammelt waren, in feurigen Zungen auf sie kam, „senkrecht vom Himmel“, wie Zündel die Stelle treffend kommentiert hat. Wir glauben also darum an einen Sinn, der den einmal gewordenen Verhältnissen innewohnt, aber auch an Evolution und Revolution, an Reform und Erneuerung der Verhältnisse, an die Mög­lichkeit von Genossenschaft und Bruderschaft auf der Erde und unter dem Himmel, weil wir noch ganz anderer Dinge warten, nämlich eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Wir setzen darum unsere Kraft ein zur Erledigung nächst­liegender banalster Geschäfte und Auf­gaben, aber auch für eine neue Schweiz und ein neues Deutschland, weil wir des neuen Jeru­salem, das von Gott aus dem Himmel herabfährt, gewärtig sind. Wir haben darum den Mut, in die­sem Äon Schranken, Fesseln und Unvollkommenheiten zu ertragen, aber auch nicht zu ertra­gen, sondern zu zerbrechen, weil wir ertragend oder nicht ertragend den neuen Äon mei­nen, in welchem der letzte Feind, der Tod, das Beschränkende schlechthin, aufgeho­ben wird. Wir haben darum die Freiheit, mit Gott naiv oder mit Gott kritisch zu sein, weil uns so oder so der Ausblick offen ist auf den Tag Jesu Christi, da Gott alles in allem sein wird. Immer von oben nach unten, nur nie umgekehrt, wenn wir uns selber recht verstehen wollen. Denn immer ist ja das letzte, das éschaton, die Synthesis, nicht die Fortsetzung, die Folge, die Konsequenz, die nächste Stufe des Vor­letzten etwa, sondern im Gegenteil der radikale Ab­bruch von allem Vorletzten, aber eben darum auch seine ursprüngliche Bedeutung, seine bewegende Kraft. [37]

Pessimistische Diskreditierung des Diesseits und unserer Tätigkeit im Diesseits haben wir gerade dann nicht zu befürchten, wenn wir die Stellung des Christen in der Gesellschaft letzt­lich mit Calvin unter den Gesichtspunkt der spes futurae vitae stellen. Von da die Kraft des Prädestinationsbewußtseins! Von da die Kraft der Lebensbestimmung zur Ehre Gottes! Ja, gehemmt werden wir durch diesen Gesichtspunkt sowohl in unserer Naivität als in unserer Kritik der Gesellschaft gegen­über. Aber Hemmung bedeutet bekanntlich nicht Kraftverlust, sondern Kraftansammlung, heilsame Stauung der lebendigen Wasser zur {68} Ver­hinderung törich­ter Vergeudungen und gefährlicher Überschwemmun­gen. Und gerade hier ist es ganz klar, daß und warm dem so ist. Der Blick von der Schöpfung und Erlösung hinüber auf die Vollen­dung, der Blick auf das „ganz andere“ des regnum gloriae bedeutet offenbar praktisch, daß unsere naive wie unsere kritische Stellung zur Gesell­schaft, unser Ja wie unser Nein in Gott ins rechte Verhältnis gesetzt wird, daß das eine wie das andere befreit wird von der Ge­fahr der Abstraktionen, in welchen der Tod lauert, daß eines zum andern in ein nicht systema­tisches, aber geschichtliches, gottesgeschichtlich und lebens­notwendig geordnetes Verhältnis tritt. Und das ist’s offenbar, was wir brauchen und was in unserm Thema das Gesuchte ist. Die Bewegung durch Gott wird uns, je mehr es uns wirklich um Gott und um Gott allein zu tun ist, desto weniger stecken lassen, weder zur Rechten noch zur Linken. Wir werden uns dann weder mit Naumann ins Ja ver­rennen und verbohren, bis es zum Unsinn geworden ist, noch mit Tolstoj ins Nein, bis es ebenfalls ad absurdum geführt ist. Wir lassen uns dann vom Predi­ger Salomo sagen: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, daß du dich nicht verder­best! Sei nicht allzu gottlos und narre nicht, daß du nicht sterbest zur Unzeit! Es ist gut, daß du dieses fassest und jenes auch nicht aus deiner Hand lässest; denn wer Gott fürchtet, der entgehet dem allem“ (Pred 4,16-19). Aus größter Distanz und eben darum aus größter Ein­sicht in die Dinge werden wir im Blick auf das regnum gloriae unsere Entschlüsse fassen und der Kurzschlüsse zur Rechten und zur Linken werden dabei allmählich weniger werden. Wir werden dann, ohne uns um den bösen Schein zu kümmern, die Freiheit haben, jetzt Ja und jetzt Nein zu sagen und beides nicht nach äußerem Zufall und innerer Willkür, sondern nach dem wohlgeprüften Willen Gottes jeweilen „das Gute, das Wohlge­fällige, das Vollkommene“ (Röm 12,2). Denn „ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren [37] werden und sterben, pflanzen und ausrotten das Gepflanzte, wür­gen und heilen, brechen und bauen, Steine zerstreuen und Steine sammeln, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Streit und Friede haben ihre Zeit.“ Und wie es dann weiter heißt in des trefflichen Oetingers Lieblingsstelle, wenn die Sep­tuaginta den Urtext richtig wiedergeben: ;,Gott tut alles fein zu seiner Zeit und hat dem Menschen die Ewigkeit ins Herz gegeben, ohne welche er das, was Gott tut vom An­fang bis zum Ende — nicht finden könnte“ (Pred 3,1-11). Daß er’s, die Ewigkeit im Herzen, finden kann, das ist die Synthesis. Jesus Christus gestern und heute derselbe — und in Ewig­keit.

Unser Thema hat es an sich, daß jetzt wohl uns allen heimlich die Frage auf den Lippen liegt: Was sollen wir denn nun tun? Es ist wahr, viele brennende große und kleine Fragen, die in dieser Zentralfrage enthalten sind und auf die wir dringend der Antwort bedürfen, scheinen durch die biblische Zentralantwort, die wir gehört haben, nicht beant­wortet. Und scheinen doch nur nicht beantwortet. Denn wo Lind wann sollten wir sub specie aeternitatis nicht wis­sen können, was zu tun ist? Und wie sollte uns die Ewigkeit nicht ins Herz gegeben sein, wenn wir in Gott gegründet werden? Und wie sollten wir nicht in Gott gegründet werden, da wir von der Wahrheit Christi bewegt sind? Wir können ja doch nur eines tun, nicht vieles. Und das eine tun gerade nicht wir. Denn was kann der Christ in der Gesellschaft anderes tun, als dem Tun Gottes aufmerksam zu folgen?

Vortrag gehalten auf der vom 22.-25. September 1919 im Erholungsheim „Tannenberg“ in Tambach (Thüringen) abgehaltenen religiös-sozialen Tagung.

Zuerst veröffentlicht als Separatdruck: Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft. Eine Tambacher Rede. Mit einem Geleitwort von Hans Ehrenberg, Bücher vom Kreuzweg. Folge 1, Würzburg: Patmos-Verlag, 1920. Wiederabgedruckt in: Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München: Chr. Kaiser 1924, S. 3-69.

Quelle: Jürgen Moltmann (Hrsg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner, Theologische Bücherei 17, München: Chr. Kaiser, 51985, S. 3-37.


[1] { } Paginierung nach Das Wort Gottes und die Theologie.

[2] [ ] Paginierung nach Anfänge der dialektischen Theologie.

Hier der vollständige Text von Barths Rede „Der Christ in der Gesellschaft“ als pdf.

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