
Was Kurt Joa 1979 als bayerischer Landesvorsitzender des Verbandes Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) über die pfadfinderische Methode geschrieben hatte, ist immer noch lesenswert:
Von Kurt Joa
Das eigentlich Originelle und Eigentümliche der Pfadfinderbewegung liegt nicht so sehr in ihren Zielen — ähnliche finden sich auch bei anderen Jugendverbänden — als vielmehr in ihrer erzieherischen Methode, wobei, zugegebenermaßen, oftmals Ziel und Methode stark miteinander verbunden sind. Baden Powell (BiPi) spricht von der pfadfinderischen Methode als einem „System fortschreitender Selbsterziehung“ (Pfadfinder, neu, S. 35). Zu ihr gehören: Sippensystem, Regeln und Versprechen, Lernen durch Tun (learning by doing), das Spiel, das Leben in der freien Natur, die Übernahme von Verantwortung durch den Einzelnen, die Förderung der Neugier im Menschen.
Das Sippensystem
Das System der kleinen Gruppe wird übereinstimmend als einer der wesentlichsten Punkte der pfadfinderischen Methode betrachtet, manche bezeichnen das Sippensystem schlechthin als die Methode. Daß Kinder sich in einem bestimmten Alter zu „Banden“ zusammenschließen, unter einem gewählten oder stillschweigend anerkannten Anführer spielen, Lager bauen, Streiche aushecken und sich selbst Regeln oder Gesetze für ihr Zusammenleben geben, ist eine Tatsache, die von der Entwicklungspsychologie schon seit langem erkannt wurde. Diese Erkenntnis liegt dem Sippensystem zugrunde. Die kleine Gruppe ermöglicht die Berücksichtigung und Förderung der Eigenarten eines jeden Sippenmitglieds. In ihr erlernt der Einzelne Partnerschaft. Er übernimmt verantwortlich Aufgaben. Durch ihre Erfüllung gewinnt er Anerkennung und Selbstbewußtsein. Die kleine Gruppe bietet so den Rahmen für die Entwicklung des Selbstwertgefühls und für Erfolgserlebnisse. In dem der Einzelne seine Interessen mit denen der anderen Sippenmitglieder abstimmt, entwickelt und übt er soziale Verhaltensweisen ein, die einen wesentlichen Bestandteil (zwischen-)menschlicher Beziehungen ausmachen.
Regeln und Versprechen
Sehr eng mit der kleinen Gruppe sind die Wertvorstellungen verbunden, nach denen sie ihr Leben gestaltet. In den Regeln und im Versprechen sollen die Grundlagen deutlich werden, denen wir uns als Christliche Pfadfinder verpflichtet fühlen. Sie sind mehr als ein Appell an das „fairplay“ — Empfinden der Kinder und Jugendlichen. Sie sollen jedem Mitglied der Sippe eine Lebensorientierung geben und beim Aufbau eines eigenen Wertsystems behilflich sein. Die Einhaltung der Regeln läßt sich jedoch nicht durch Strafandrohungen und Sanktionen erreichen. Sie müssen vielmehr vorgelebt bzw. im Umgang miteinander deutlich werden. Zur Formulierung hat die 26. Weltkonferenz 1977 in Montreal beschlossen, daß Pfadfinderversprechen und -gesetz bezogen sein müssen auf die Prinzipien der Verpflichtung gegenüber Gott, den anderen und sich selbst. Ferner sollen sie inspiriert sein vom Versprechen und Gesetz, das BiPi einst selbst formulierte.
Lernen durch Tun (learning by doing)
„Pfadfinderische Erziehung beruht auf der Einsicht, daß man durch Tun lernt“ (Landesordnung, S. 5), d.h. die pfadfinderische Pädagogik bedient sich hauptsächlich des Erlebnisses um bestimmte Lernvorgänge in Gang zu setzen. „Sie will zur Selbsttätigkeit ermuntern (und) setzt (deshalb) bei den Erwartungen und Bedürfnissen junger Menschen an, und gibt ihnen Anstöße, ihre Anlagen und Fähigkeiten zu entwickeln“ (Landesordnung, S. 5). Die moderne Erziehungswissenschaft hat diese BiPi’sche Forderung des „look at the boy“ im „Entdeckenden Lernen“ aufgegriffen.
Das Spiel
BiPi nennt in seinem „Pfadfinder“ die pfadfinderische Tätigkeit ein System „bestehend in Spielen und Übungen“ (Pfadfinder, alt, S. 11), in einem anderen Zusammenhang nennt er die Pfadfinderbewegung ein großes Spiel. Durch den Spieltrieb, der jedem Menschen innewohnt, werden wichtige Inhalte des menschlichen Zusammenlebens und der eigenen Persönlichkeitsentwicklung spielerisch eingeübt. Der bedeutende holländische Kulturphilosoph und Historiker Huizinga hat hierfür den Begriff des „homo ludens“ geprägt.
Es sei darauf hingewiesen, daß es sich bei der pfadfinderischen Methode des Spiels um keine oberflächliche Spielerei — die in manchen Situationen durchaus ihre Berechtigung hat — handelt, sondern im wesentlichen um Erziehung. Dabei ist das Spielen jeweils abhängig vom Alter, der Struktur und dem sozialen Hintergrund der Sippe. Die moderne Spielpädagogik hat hierzu eine Menge Einsichten erarbeitet, die in unserer Arbeit verwendet werden könnten.
Das Leben in der freien Natur
Fahrt und Lager ermöglichen eine gleichmäßige und gleichgewichtige Entwicklung von körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Sie können vor allem der Erprobung und Einübung von praktischen, handwerklichen Fertigkeiten dienen und stellen so ein notwendiges Gegengewicht zur einseitigen Intellektualisierung unserer Arbeit, wie es sich in letzter Zeit mehr und mehr durchgesetzt hat, dar.
Außerdem werden auf Fahrt und Lager viel eher Elementarerfahrungen wie Licht, Dunkelheit, Gewitter, Regen, Kälte, Feuer, Alleinsein, Freude, Glück, Angst empfinden, gewonnen, die für den Aufbau einer tieferen Gefühlswelt wichtig sind. BiPi hat dies sicher bereits geahnt, wenn er davon spricht, daß die Freude, die ein Lager vermitteln kann, „in der Stadt inmitten des Rauches und der Mauern“ (Pfadfinder, neu, S. 26) nicht zu finden sei. Die Bedeutung jener Elementarerfahrungen für junge Menschen hat seit BiPi’s Zeiten noch zugenommen, bedingt durch die rapide anwachsende Verstädterung unseres Lebens. „Der junge Mensch ist hoch arm an höher geistiger Leistungsfähigkeit – er ist weitgehend ein triebbestimmtes Spielwesen. Er braucht deshalb seinesgleichen — nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen, mit Teppichen, Stofftieren oder auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es — doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt, zum Beispiel ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative. „Um Schwung zu haben, muß man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben.“ (Alexander Mitscherlich, Die Unwirklichkeit unserer Städte, S. 24)
Darüberhinaus fördern Fahrt und Lager die Zusammenarbeit und das Gefühl des Aufeinanderangewiesenseins und beschleunigen den Prozeß der Sozialisation. Dies meint BiPi, wenn er schreibt: „Eine Woche Lagerleben ist ebenso viel wert, wie sechs Monate theoretischen Unterrichts im Heim, so wertvoll dieser auch sein mag“ (Pfadfinderführer, S. 44). Fahrt und Lager fordern zudem die Jugendlichen zu einem einfachen und sachgerechten Leben auf („einfacher Lebensstil“) und helfen dabei, das Folgende bewußter zu machen:
„Ich weiß, was ich will und weiß auch warum
Ich weiß, was ich brauche
Ich weiß, was mich ablenkt
Ich weiß, was überflüssig ist und
Ich weiß auch, daß ich nicht allein lebe“
(Entwürfe Nr. 2/78, A 41)
Das „Studium der Natur” kann die Jugendlichen letztlich auch auf Gedanken bringen, auf die sie unter ihren beengenden häuslichen Bedingungen nicht gekommen wären, es kann sogar „all die Schönheiten und Wunder zeigen, mit denen Gott die Welt ausgestattet hat“ (Pfadfinder, neu, S. 297).
Die Übernahme von Verantwortung durch den Einzelnen
Jeder Pfadfinder und jede Pfadfinderin übernimmt selbstverantwortlich Aufgaben, die den jeweiligen Fähigkeiten angemessen und somit sinnvoll sind. Dadurch können sie ohne Überforderung durch den Einzelnen selbst bewältigt werden. Bewältigte Aufgaben aber starken das Selbstwertgefühl und das Gefühl der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Gerade das System der kleinen Gruppe ist, wenn es funktionieren soll, darauf angewiesen, daß sich jeder engagiert, daß jeder einen Teil der Arbeit übernimmt und verantwortet, „Das Hauptziel des Sippensystems ist, soviel Jungen wie möglich wirkliche Verantwortung zu geben. Es führt jeden Jungen dazu, zu sehen, daß er eigene Verantwortung für das Wohl seiner Sippe hat“ (Pfadfinder, neu, S. 14). Die Sippe bietet so einen guten Rahmen, demokratische Verhaltensweisen und Engagement einzuüben, Tugenden, auf die ein funktionsfähiges Staatswesen nicht verzichten kann.
Die Förderung der Neugier
Im Menschen Bereits im Wort Pfadfinder steckt die Bedeutung von „Neues entdecken“, „Grenzen überwinden“, „neue Wege suchen“. Diese (schöpferische) Neugier ist allen Menschen eigen, jungen wie alten. Die ganze Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte dieser Neugier, belegt durch Entdecker und Forscher; Menschen, die sich mit dem Bestehenden allein nicht abfanden, sondern immer wieder den Aufbruch zu neuen Ufern wagten, die das Zusammenleben anders und besser gestalten wollten. „Um innerlich weiter zu kommen, bedarf der Mensch der unruhvollen Neugier. Sie ist das Salz seiner Existenz, seiner Hoffnung, seiner Schöpferkraft“ (H.-J. Baden, Die Kraft des Schweigens, S. 78)
Gerade die jungen Menschen fragen nach dem Sinn der Dinge, wollen den eigentlichen und letzten Sinn des Menschseins ergründen. Die Neugier und das dauernde Wagen müssen bei uns ihren Platz haben. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß man neue Ufer von einem festen Ort aus viel eher erreichen kann, denn zum einen irrt man dadurch nicht ziellos umher, zum anderen erlaubt ein sicherer Ausgangspunkt auch die Umkehr beim Scheitern.
Verwendete Literatur:
Baden Powell, Pfadfinder, Neuübersetzung durch die DPSG, Düsseldorf 1977 (im Text als Pfadfinder, neu zitiert).
Baden Powell, Pfadfinder, Zürich, 12. Auflage 1966 (im Text als Pfadfinder, alt zitiert).
Baden Powell, Pfadfinderführer, Zürich 1958.
H.-J. Baden, Die Kraft des Schweigens, Hamburg 1976.
Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt, 13. Aufl. 1976.
Entwürfe, Führungszeitschrift des DPSG, Nr. 2/78.
VCP Land Bayern, Landesordnung.
Kurt Joa, seit vergangenem Jahr Landesvorsitzender, ist Verfasser dieses Beitrags. Er fußt auf einem Referat, das Kurt Joa beim Stammesführertreffen im Mai dieses Jahres gehalten hat.
Quelle: KIM, Zeitschrift des Verbandes Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) Land Bayern, 1979.