
Da weiß der katholische Professor für die Exegese des Neuen Testaments Helmut Merklein (1940-1999), dass die Krebserkrankung ihn an das eigene Sterben herangebracht hat. Zum letzten Mal predigt er am 8. August 1999 vor der eigenen Gemeinde und stellt sich dazu dem Evangelium vom Seewandel Jesu (Mt 14,22-33):
Predigt über Matthäus 14,22-33
Die Jünger fahren über das Wasser, Petrus geht über das Wasser. Die Fahrt, der Gang über das Wasser ist seit alters her ein eindrückliches Sinnbild für die menschliche Existenz. Aus der Bibel kennen wir das Wasser als Sinnbild des Lebens. Die Bibel kennt aber auch die gegenteilige Bedeutung: das Wasser als Symbol des Chaos und des Todes. Das Wasser ist nicht greifbar, nicht fassbar. Es hat keine Form und Gestalt wie das Chaos, aus dem die Schöpfung entstanden ist und in das zurückzufallen sie immer gefährdet ist. Das Wasser trägt, lässt nicht untergehen, verschlingt wie der Tod, der das Leben verschlingt. Das Wasser als Symbol des Chaos und des Todes: das ist die Voraussetzung, unter der sich das heutige Evangelium erschließt.
Unser ganzes Leben ist eine Fahrt über das Wasser. Wir leben ständig am Rande des Chaos und des Todes. Wir bemerken das meistens nur nicht. Aber hin und wieder wird uns unser Grenzgang zwischen Tod und Leben bewusst. Wenn unsere Welt, die wir uns so schön zurechtgelegt haben, zerbricht. Wenn Krisen in den Beziehungen auftreten. Wenn wir hilflos und machtlos unser Leben nicht mehr gestalten können, wie wir es eigentlich wollen. Wenn schwere Krankheit uns überfällt.
Die meisten Menschen verdrängen die Grenzsituation, wollen nicht wahrnehmen, dass sich ihr Leben am Rande des Abgrunds bewegt. Geben der Illusion des Bootes nach, das sie scheinbar sicher über die Wasser trägt. Wir Christen haben das nicht nötig. Davon spricht das Evangelium. Wir wissen, dass der, der die Schöpfung aus dem Chaos herausgeholt hat, sie nicht wieder im Chaos versinken lässt.
Wir Christen haben sogar die Kraft, gelegentlich aus dem Boot unserer illusionären Sicherheit auszusteigen und in der Kraft dessen, der uns zu halten verspricht, über die Wasser zu gehen wie Petrus. Dies geschieht, wenn Menschen um eines höheren Zieles willen ihr angepasstes Leben verlassen, sich auf neue Herausforderungen einlassen. Dies geschieht, wenn Menschen sich in der Liebe nicht entmutigen lassen, Hass mit Liebe erwidern und immer wieder die Fähigkeit finden, selbst zum Feind hin den ersten Schritt zu tun.
Wer religiöse Erfahrung machen will, muss die Grenzerfahrung des Übers-Wasser-Gehens vielleicht sogar bewusst herbeiführen, muss sie spirituell einüben. Es tut uns jedenfalls gut, uns gelegentlich von allem zu lösen, alle Vorläufigkeit, die unser Leben immer nur bieten kann, beiseite zu schieben, uns auf das zu besinnen, was uns letztlich allein tragen kann. Dann sind wir in der Situation des Petrus, der aus dem Boot ausgestiegen und auf seinen Herrn zugegangen ist. Wer Gott erfahren will, muss sein Leben wagen. Wer nicht den Mut hat, alles loszulassen und alles auf den zu setzen, der ihn allein halten kann, wird nie erfahren, dass Gott die Versinkenden rettet.
Das Beispiel des Petrus lehrt uns freilich auch, dass es gar nicht einfach ist, übers Wasser zu gehen. Sobald wir uns wirklich in der Situation befinden, in den Abgrund zu blicken und das Unbegehbare begehen zu müssen, stehen wir in Gefahr, den Mut zu verlieren. Wir werden zu Kleingläubigen und beginnen zu sinken wie Petrus. Es ist tröstlich zu wissen, dass es auch dann noch Hilfe gibt: die Hand, die der Herr uns entgegenstreckt. Das ist keineswegs nur schöne Theorie. Der Herr hat viele Hände, die uns ergreifen und halten: Eigene Erfahrungen, gute Erinnerungen, Menschen, die zu uns halten. Dies alles kann uns ermutigen, der unsichtbaren Hand zu trauen, die uns letztendlich hält.
Seinen Beerdigungsgottesdienst, der am 5. Oktober 1999 in Ebensfeld stattfand, hatte Merklein selbst vorbereitet. Er begann mit allen sieben Strophen des Liedes „O Haupt voll Blut und Wunden“. Und am Schluß stand dann das österliche Lied „Freu dich, erlöste Christenheit„.
Quelle: Bibel und Kirche 75, Nr. 3/2020, S. 175f.