In welche völkischen Verirrungen die Lehrunterscheidung von Gesetz und Evangelium führen kann, so sie nicht an die Heilige Schrift rückgebunden ist, zeigt sich in Werner Elerts Brief an einen unbekannten Pfarrer vom 19. August 1944. Da wird dann sogar der Kriegstod der eigenen Söhne in eine gotterbärmliche Sinnstiftung hineingenommen:
Brief an einen unbekannten Pfarrer vom 19. August 1944
Erlangen, 19.8.44.
Sehr verehrter Herr Pfarrer!
Meine Antwort auf Ihren Brief vom 14.7. hat sich verzögert, weil ich vom Verleger der Reihe Theol. Militans noch die Nummern zu erhalten versuchte, in denen ich die Sie bewegenden Fragen erörtert habe. Insbesondere hätte ich Ihnen gern Nr. 15 „Der Christ und der völkische Wehrwille“ übersandt. Leider wird mir nun mitgeteilt, daß der ganze Vorrat in Leipzig verbrannt ist. Ich kann Ihnen daher nur 2 Hefte senden, in denen die Fragen wenigstens mittelbar gestreift werden.
Ich kann mich in Ihre Situation hineinversetzen, weil ich als Feldgeistlicher 1914-18 auch oft genug im Trommelfeuer der Skepsis und der Kritik gegenüber dem Christentum gestanden bin, wenn auch die Argumente damals zum Teil andere waren. Ich stimme auch Ihrer Kritik an der von Ihnen gemeinten Theologie und mithin auch an der Haltung der Kirchen bei. Allerdings dürfen Sie nicht vergessen, daß die Kirche schon vor dem Kriege – nicht ohne eigene Schuld – aus der vorher freudig getragenen Mitverantwortung für die völkische Öffentlichkeit verdrängt und daß ihr jede politische Stellungnahme verboten wurde. Ich selbst habe, sooft ich seit Kriegsbeginn gepredigt habe – oft – meiner Schicksalsverbundenheit mit unsrem Volk bis zur letzten Konsequenz Ausdruck gegeben. Und viele andere evangelische Prediger haben das Gleiche getan.
Das Völkische Ethos hat seit der Reformation keinen Verkünder gehabt, der sich so folgerichtig und treu in allen politischen Wandlungen dafür eingesetzt hat, wie die lutherische Theologie und die lutherischen Kirchentümer. Ich habe in meiner Morphologie des Luthertums Bd. II ein, wie ich denke, erdrückendes Material dafür beigebracht, daß das Luthertum überhaupt erst für ein deutsches Volksbewußtsein Raum geschaffen und daß es zahlreichen anderen Nationen – Ungarn, Slovaken, Esten, Finnen, Schweden, Dänen, Norwegern – das Volksbewußtsein erst geschaffen hat. Es war dabei nicht von der politischen Konjunktur bestimmt. Im Freiheitskampf der Ungarn 1848/9 gehörten alle 3 Führer, Kossuth, der Politiker, Petöfi, der Nationaldichter, und Görgey, der Heerführer, der kleinen lutherischen Minderheit an. Millionen von Deutschen verdanken in Amerika und in anderen Erdteilen die Erhaltung ihres Volkstums ausschließlich der lutherischen Kirche – auch unter den Repressalien des ersten und des jetzigen Weltkriegs.
Sie sagen nun freilich, Luther verdanke sein völkisches Bewußtsein nicht dem Evangelium. Vollkommen richtig! Das Evangelium hat ihm auch nicht erst sein Verhältnis zu seinem Vater oder zu seinen Kindern „geoffenbart“. Es hat dabei eine ganz andere Funktion gehabt. Es hat ihm – das ist sein neues Verständnis im Unterschied vom mittelalterlichen und heute römischen – gelehrt, sein Volk als den Raum zu verstehen, in dem – nicht neben dem – die absolute Verpflichtung gegenüber Gott zu erfüllen ist. Die Kirche hat keinen sakralen Raum neben der Volksgemeinschaft zu beanspruchen. Erst durch die Beziehung auf Gott ist ein völkisches Ethos möglich geworden, denn nur dadurch wird unsere Verpflichtung zu einer ewigen Verpflichtung.
Dafür haben freilich die dialektischen Theologen kein Verständnis, weil sie Gott nur im Gegensatz zur Welt, den Schöpfer nur als Gegner seiner Kreaturen kennen. Demgegenüber ist uns die kreatürliche Welt, weil sie Gottes Schöpfung ist, heilig. Verdanken wir alles, was wir in irdischer Hinsicht sind und haben, unserem Volk, so verdanken wir es ebendamit unsrem Schöpfer. Unsere Bindung an unser Volk wird damit nicht kleiner sondern größer. Versündigen wir uns gegen das Volk, so sündigen wir gegen Gott. Gewinnen wir umgekehrt aus der Vergebung Freudigkeit zum Dienst und Opfer, so können wir beides nur ausüben in – nicht neben – unsrem Volk. Diese ethische Bindung an unser Volk entspricht genau der blutmäßigen nur mit dem Unterschied, daß sie dem mit klarem Wissen an Gott Gebundenen unverbrüchlich gilt und als Gnade bejaht wird, während die blutmäßige als solche unbewußt ist und, wie die Erfahrung lehrt, oft unter Zuhilfenahme von egoistischen Motiven aktualisiert werden kann.
Was ich bisher sagte, ist nicht eine Gedankenkonstruktion, sondern Jahrhundertelang im deutschen Volk durchlebt und bewährt worden. Das Luthertum hat als Glaubenskern unseres Volkes seine völkische Erprobung ausnahmslos bestanden. Die Behauptung, das völkische Ethos könnte durch irgend einen anderen Glauben eine höhere Bewährung erlangen, erkläre ich als eine Beleidigung meiner Väter und meiner Söhne. Die Könige von Preußen und nachmals das Deutsche Reich haben seit 250 Jahren keinen Krieg geführt, in dem nicht ein Elert mitgefochten hätte. Viele haben dabei geblutet oder sind geblieben. Mein älterer Sohn fiel 1940 als aktiver Offizier in Frankreich. Der jüngere wird seit dem 24.7.44 bei Jaroslau am San vermißt. Er war Schwadronsführer und das letzte, was von ihm gesehen wurde, war, daß er sich in härtestem Nahkampf mit Haufen von Russen herumschoß, denen er schwere Verluste zufügte. Ich nehme an, daß er dabei gefallen ist. Meine Väter wie meine Söhne waren überzeugte Christen. Hätten sie ihr Ethos nur aus irgend einer „Schulung“ bezogen, so wäre ich bei meinen Söhnen nicht sicher gewesen, wie sie sich schlagen und wie sie sterben würden. Ich schreibe diese persönlichen Dinge in Erwiderung Ihrer Äußerung über das Gebet christlicher Mütter. Weil sie Christen waren, wußte ich, daß sie den Tod nicht fürchteten und daß sie nicht im Strohfeuer irgendeines „Fanatismus“ oder im Stumpfsinn der Masse sondern mit freudigem Wissen Leib und Leben für die Existenz und Ehre ihres Volkes in die Schanze schlagen würden. Ihre Tagebücher beweisen es.
Ich bin nun auf 2 Einwände gefaßt, einen theologischen und einen antitheologischen. Sie können mir nämlich erstens entgegenhalten, daß das, was ich oben über die ethische Funktion des Evangeliums ausführte, doch nicht das Evangelium des Neuen Testaments sei. Wenigstens glaube ich das aus Ihren „Gedanken und Fragen“ schließen zu müssen. Sie werden von mir nicht erwarten, daß ich hier eine ganze neutestamentliche Theologie entwickle. Ich darf vielmehr an Ihre eigene theologische Erkenntais appellieren. Dann ist die entscheidende Frage, ob wir das Neue Testament als Gesetz oder als Evangelium lesen. Im ersteren Fall ist es nur ein Anhängsel zum Alten Testament und führt zur Theokratie – Rom, Calvin – oder zu einer wirklichkeitsfremden Kopie urchristlicher Lebensformen. Wir lesen es dagegen als Evangelium, das heißt als die Botschaft von der Erlösung und von der Freiheit. Sie werden sich erinnern, wie Luther das in der Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen ausgeführt hat. „Zwischen Dir und Gott ist die Freiheit rund und vollkommen.“ Das heißt: Das Evangelium entlastet uns vor Gott und es gewährt uns von Gottes Seite her die vollkommene Rückendeckung bei der Wendung zum Nächsten, zur Welt, zum Volk, zum irdischen Kampf. In dieser zentralen Hinsicht hat Luther sowohl den Jesus der Evangelien in seinem Kampf gegen die theokratische Religion wie den Antijudaisten Paulus vollkommen richtig verstanden.
Das ist freilich noch nicht das ganze Evangelium. Sie spielen in Ihren „Gedanken und Fragen“ mit Recht auf die eschatologischen Züge an. Diese Seite der Sache gehört in den Umkreis des zweiten, des antitheologischen Einwands, auf den ich gefaßt bin. Es wird uns nämlich entgegengehalten, es sei zwar richtig, daß das Christentum in der Vergangenheit eine Stütze des völkischen Ethos gewesen sei. Diese Stütze aber sei heute nicht mehr nötig – aus bekannten Gründen. Gottesglaube sei gut, aber Christus heute überflüssig oder schädlich. Hierauf sucht mein Vortrag Antwort zu geben, von dem ich Ihnen einen Durchschlag beilege. (Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich diesen Durchschlag gelegentlich zurückerhalten könnte. Der Vortrag ist manchem Kameraden, der ihn las – ich bin oft darum angegangen worden – eine Hilfe gewesen.) Am Ende dieses Vortrags (Ziffer 6) finden Sie, was ich in erster Linie über die eschatologischen Züge des Evangeliums zu sagen hätte.
Noch ein Wort über das evangelische Pfarrhaus. Daß Sie gegen den Einfluß der „biblischen Verkündigung“ auf die nationale Haltung das „natürliche Empfinden eines blutmäßig hochstehenden und führenden Kreises unseres Volkes“ ausspielen, halte ich für vollkommen abwegig. Erstens handelt es sich dabei um einen Kreis, der blutmäßig überhaupt nicht abzugrenzen ist, weil er sich stets aus sämtlichen Schichten unseres Volkes ergänzt hat. Zweitens waren seine Mitglieder nicht blutmäßig „führend“; sie sind es vielmehr nur geworden, weil sie durch die geistige Schulung der Universitätstheologie hindurchgingen und weil sie alsdann von der unsrem Volk selbstverständlichen Autorität des geistlichen Amtes getragen wurden. Da diese Voraussetzung aber auch auf den römischen Priesterstand zutrifft und doch bei diesem nicht die gleiche nationale Haltung hervorgerufen hat, kann das nationale Ethos des evangelischen Pfarrhauses nur in dem begründet sein, worin es sich vom römischen unterscheidet, d.h. in dem evangelischen Ethos.
Meine Antworten sind, das weiß ich wohl, unvollständig. Aber ich bin gewiß, daß Sie selbst, lieber Herr Pfarrer, mit daran arbeiten werden, daß unser Volk nicht den Zusammenhang mit dem Ewigen verliert. Ich meine, daß die totale Mobilmachung auch die Aktivierung des christlichen Glaubens einschließen sollte. Es kann sein, daß wir bald wieder Verständnis gewinnen für das, was unsere Alten über Kreuz und Leiden gesagt und gesungen haben.
Mit herzlicher Begrüßung
Ihr treu verbundener Elert
Quelle: Berndt Hamm, Werner Elert als Kriegstheologe. Zugleich ein Beitrag zur Diskussion ‚Luthertum und Nationalsozialismus‘, in: Kirchliche Zeitgeschichte 11 (1998), S. 206-254, hier Anhang II, S. 248-254.