
Alfons Deissler war katholischen Alttestamentler, der die Grundbotschaft des Alten Testaments für die kirchliche Verkündigung geltend machte. So legt er Micha 6,8 als Grundsatz biblischer Ethik wie folgt aus:
Micha 6,8 als Grundsatz biblischer Ethik
Von Alfrons Deissler
„Man hat dir verkündet, o Mensch, was gut ist und JHWH an dir sucht: nichts anderes als Gerechtigkeit üben, Güte und Treue (ḥesed) lieben und in Dienmut wandern mit deinem Gott.“ (Alfons Deissler, Die Grundbotschaft des Alten Testamentes, NA, Freiburg i. Br. 1995, 119).
Der Prophet gibt eine lapidare Antwort auf die Frage, was vor JHWH »Religion« ist. Er verweist dabei auf die wesentliche Willensoffenbarung Gottes, wie sie seit Mose von allen Propheten Israel verkündet wird. Der Angeredete wird hier ’ādām (= »Erdling«) genannt wie in Dtn 8,3; Jes 2,17; Lev 1,2; 13,2. Der Bescheid wird zuerst auf »das Gute« hin orientiert, d. h. aber im hebräischen Verständnis: was dem Menschen guttut und ihn glücken läßt. Vorab darum »sucht« Gott das Gute an ihm bzw. erwartet es von ihm. Das »Gute« besteht in nichts anderem als in dem in der Form eines Dreispruches (drei ist die Zahl Gottes) Ausformulierten und Konkretisierten: JHWHs erstes Anliegen ist »Recht und Gerechtigkeit« (mišpāṭ; Leitwort des Amos, vgl. 5,7.15.24; 6,12, vgl. auch Jes 1,10-17; 5,7 Mi 3,1.9 u. a.). Es geht aber nicht nur um in Taten geübte Gerechtigkeit: Diese Taten müssen aus inneren Entscheidungen kommen, die aus der »Liebe zur Verbundenheit« (’ahabat ḥæsæd) mit den Menschen als Gottes »Partnern« geboren sind (vgl. Hos 6,6, wobei ḥæsæd von der Septuaginta und Mt 19,13; 12,7 mit »Erbarmen« wiedergegeben wird). Beide, Gerechtigkeit und »treuer Brudersinn« (ḥæsæd) ist schwer mit einem einzigen Wort übersetzbar), sollen sich speisen aus einem achtungsvollen und aufmerksamen, d. h. ehrfürchtigen »Wandern mit (seinem) Gott« (so nur noch bei Henoch in Gen 5,24 und Noach in Gen 6,9, allerdings Hitpael mit ’æt). […]
Wir haben in Mi 6,8 die lapidarste Zusammenfassung und Gewichtung der Willensoffenbarung JHWHs vor uns. Angesichts einer Zuhörerschaft, die Religion einseitig nur im Sinn des Opferkultes zu denken vermag, muß unser Prophet verkünden, daß das mitmenschliche Ethos Gott mindestens ebenso wie der direkte Gottbezug (Glaube, Gebot, Kult) am Herzen liegt. Dieses verinnerlichte Ethos gehört konstitutiv – und nicht bloß konsekutiv – zur bundespartnerischen Existenz vor JHWH. Religion ist biblisch nicht einfachhin »Rückbindung an Gott«, sondern »Ja« zu JHWH als JHWH, d. h. nur wer in, mit und durch JHWH sich in Gerechtigkeit und Brudersinn der mitmenschlichen Gemeinschaft zukehrt, gehört zu ihm. Mi 6,8 begegnet dem verbreiteten Mißverständnis, die ersten drei Gebote seien »primär«, die sieben anderen (alle auf den Mitmenschen ausgerichtet) seien »sekundär«. Das unauflösbare »Fadenkreuz« (Vertikale und Horizontale, d. h. Gottes- und Nächstenliebe) ist wesensbestimmend für die ideale Bundespartnerschaft des Menschen. Insofern war Jesus, der Christus, der »Bund« selbst (Jes 42,6; 49,8). In ihm hat die Menschheit jenes »Ja« in Person gefunden, das gleichzeitig ein vollendetes »Ja« zu Gott wie zu den Menschen ist. Sein Leben und Sterben war Ganzhingabe an den Vater für die Brüder (Joh 12,32f). Zu seinem Vermächtnis an die Kirche gehört darum die radikale Verpflichtung zur Nächstenliebe, die der Gottesliebe gleich ist (vgl. Mt 22,39). Daß man der Versuchung widerstehe, zwischen »primär« und »sekundär« zu unterscheiden, stehen Texte wie Mt 5,23f; 25,31-46; Joh 13,1-20 (Fußwaschung); 13,34f; 15,12.17 in den Evangelien. Die Verkündigung der Apostel bleibt in diesem entscheidenden Punkt nicht hinter der des Herrn zurück: vgl. Röm 13,8ff; 1 Kor 13,1-13 (Hoheslied der [Nächsten-]Liebe!); 1 Petr 1,22; 2,17; 4,8; 1 Joh 2,10; 3,10-14; 4,7f.11f.
Quelle: Alfons Deissler, Zwölf Propheten 2: Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Die Neue Echter-Bibel 8. Echter-Verl., Würzburg 1984, 60-62.
Hier in Ergänzung Deisslers Lexikonartikel „Ethos des Alten Testaments“ als pdf.