Richard Schaeffler wusste wie kaum ein anderer Religionsphilosoph die Liturgie in seinen Gedankengängen zu berücksichtigen, so in seinem Artikel „Erinnerung/Anamnese“ aus dem Lexikon der Religionen (hrsg. v. Hans Waldenfels, Freiburg 1987):
Von Richard Schaeffler
1. Allgemein anthropologisch
Für die Akte des Sich-Erinnerns sind zwei Momente charakteristisch: Etwas Vergangenes wird ausdrücklich als solches, von aller Gegenwart Verschiedenes, in einem gegenwärtigen Akte intendiert („Ich erinnere mich heute, daß dies damals geschah“); zugleich aber wird es als Inhalt des eigenen, wenn auch vergangenen Erlebens dessen identifiziert, der die gegenwärtige Intention vollzieht und sich deshalb das Vergangene als seine Vergangenheit, z. B. als Inhalt seiner eigenen Wahrnehmung, zurechnet („Ich erinnere mich heute, dies damals gesehen zu haben“). Durch diese doppelte Intention – auf Vergangenes als solches und auf ein Erlebnis, das der Intendierende sich als das Seine zurechnet – gewinnt der Erinnernde zugleich ein Bewußtsein von der Identität seiner selbst im Wechsel seiner Erlebnisse. Auf solche Weise gewinnt die Erinnerung eine unersetzliche Funktion für das Identitätsbewußtsein von Personen. Erinnerungsverlust bedeutet demgegenüber stets Identitätsverlust.
Die Art, wie der Erinnernde sich vergangene Ereignisse als Teile seiner Vergangenheit zurechnet (nicht nur sagt: „Ich erinnere ein Ereignis“, sondern: „Ich erinnere mich an das Ereignis“ und noch präziser: „Ich erinnere mich, daß ich das Ereignis damals erlebt habe“), und die Art, wie er die Gegenwart als die seine aneignet (die Fülle der Umstände – circumstantia – zur Einheit einer Lebenslage – situatio – zusammenfügt), bedingen sich gegenseitig. Wir „organisieren“ (gliedern und gestalten) unsere Gegenwart durch Blick auf eine Vergangenheit, die wir uns als die unsere zuschreiben; und wir „organisieren“ zugleich die Vergangenheit, indem wir unsere Gegenwart derjenigen Person, deren Vergangenheit wir beschreiben, als ihre Zukunft zurechnen. Wir erzählen z. B. unsere Kindheit als die unsere, indem wir dem Kind, von dem wir sprechen, unsere Gegenwart als Erwachsene als seine Zukunft zuschreiben. Diese doppelte „Organisation” der Gegenwart und der Vergangenheit durch das Erinnern ist die logische Funktion von „Erzählsätzen“ (vgl. Danto, Analytische Geschichtsphilosophie).
Das Gesagte gilt, mit gewissen Abwandlungen, nicht nur für Individuen, sondern auch für Gruppen. Obgleich die Angehörigen späterer Generationen sich an die Ereignisse im Leben ihrer Vorfahren nicht als an ihre eigenen vergangenen Erlebnisse erinnern können, können sie ihrer doch gedenken. Und auch dadurch rechnen sie die Ereignisse, die sie als Vergangene intendieren, sich selbst als ihre gemeinschaftliche Vergangenheit zu, ebenso wie sie ihre Gegenwart den Vorfahren, deren sie gedenken, als deren gemeinschaftliche Zukunft zurechnen. (Schon wer von „unseren Vätern” spricht, hat diese Vergangenheit dadurch gedeutet, daß er die gegenwärtig lebenden „Söhne“ als diejenige Zukunft versteht, im Hinblick auf welche die Väter erst „Väter“ genannt werden können.)
Aber nicht immer gelingt es, erinnerte Vergangenheit im Hinblick auf die Gegenwart, erfahrene Gegenwart im Rückblick auf erinnerte Vergangenheit so zu „organisieren“, daß dadurch Identitätsfindung bzw. Identitätsbewährung des Individuums oder der Gruppe gewonnen wird. Eine wichtige Hilfe dazu (in vielen Fällen sogar die unerläßliche Bedingung) besteht darin, daß der, der sich gegenwärtig an ein vergangenes Ereignis erinnert (bzw. seiner gedenkt), einer Person oder Sache wiederbegegnet, die er als diejenige identifizieren kann, an die er sich erinnert. Die damals gesehene Person oder Sache steht „heute“ nicht nur vor dem geistigen Auge des Erinnernden, sondern steht leibhaftig vor ihm. Der sprachliche [150] Ausdruck für diese Identifikation des gegenwärtig Begegnenden mit dem als vergangen Erinnerten ist die Nennung des Namens. Eine Person oder Sache beim Namen rufen heißt: sie wiedererkennen und so als gegenwärtig begegnende mit der als vergangen erinnerten Person oder Sache identifizieren.
Der Wiedererkennende schreibt dann die erinnerte Vergangenheit nicht nur sich selbst als seine Vergangenheit zu, sondern auch dem Wiedererkannten als die ihm zugehörige. Er sagt beispielsweise nicht nur: „Ich erinnere mich“, sondern fragt den Wiedererkannten: „Erinnerst nicht auch du dich?“ Und er deutet die erfahrene Gegenwart nicht nur als Zukunft dessen, der er selbst in der Vergangenheit gewesen ist (z. B. seine gegenwärtige Lebensphase als das Erwachsenenalter desjenigen Kindes, das er einmal war); er deutet sie auch als die Zukunft dessen, der der Wiedererkannte in der Vergangenheit gewesen ist („Du hättest dir damals nicht träumen lassen, daß du mich in meinem Alter wiedersehen würdest“ – eine rückschauende Aussage über die damals noch unbekannte Zukunft des damals noch jungen Menschen). Auch diese Art, Vergangenheit und Gegenwart zu „organisieren“, entfaltet sich in Erzählsätzen, aber nun in solchen, die die gemeinsam erinnerte Vergangenheit mit einer gemeinsam erfahrenen Gegenwart verknüpfen, zumeist auf zwei verschiedenen Wegen, die die beiden Partner zwischen „damals“ und „heute“ durchlaufen haben („Wo bist du nur all diese Zeit hindurch gewesen?“). Dabei gibt es Fälle, in welchen erst die Identität des Wiedererkannten und beim Namen Gerufenen den Bezugspunkt schafft, von dem her es auch dem Wiedererkennenden möglich wird, sich seine erinnerte Vergangenheit als die seine anzueignen („indem ich dir begegne, ist mir meine Jugend nicht ganz verloren“). Die Anrufung des Namens, durch die der gegenwärtig Begegnende mit dem Erinnerten identifiziert wird, stiftet dann auch für den Wiedererkennenden erst die Kontinuität zwischen seiner eigenen Vergangenheit und seiner Gegenwart („dir kann ich meine ganze Lebensgeschichte erzählen; und dabei wird sie auch mir selbst erst begreiflich“).
Diese Weise, am vertraut gebliebenen Anderen die eigene, fremdgewordene Lebensgeschichte wieder als die eigene zu entdecken, hat im religiösen Kontext besondere Bedeutung gewonnen: Religiöse Anamnese stellt dem Individuum wie der Gruppe in der Anrufung des göttlichen Namens und also im Wiedererkennen des „alten“ Gottes in einer „neuen“ Stunde erst den Grund bereit, auf dem sie auch ihre eigene Identität im Wandel der Zeiten wiederfinden können („Himmel und Erde vergehen wie ein Gewand. Du aber bleibst, und deine Jahre altern nicht“[1]).
2. Religionswissenschaftlich
Wie das Erinnern und Gedenken allgemein eine Bedingung der individuellen und der gemeinschaftlichen Identitätsfindung ist, so ist die religiöse Anamnese eine Bedingung für die Identitätsfindung des religiösen Individuums und der religiösen Gemeinde. Und wie ganz allg. Individuen und Gruppen sich ihrer eigenen Identität dadurch bewußt werden können, daß sie fremde Personen oder Sachen wiedererkennen, mit Namen rufen und diese Namen-Akklamation in Erzählsätzen entfalten, so spielt die Acclamatio nominis und deren Entfaltung in Sätzen rühmenden Erzählens eine wichtige Rolle für die Entdeckung der Kontinuität der Lebensgeschichte religiöser Individuen und Gruppen.
Diese besondere Bedeutung der religiösen Anamnese für die Identitätsfindung des religiösen Individuums und der religiösen Gemeinde beruht, nach dem Selbstverständnis der Religion, darauf, daß „Erinnerung“ nicht ausschließlich als ein Akt des religiösen Bewußtseins gilt. Sie ist vor allem ein Akt der Treue Gottes selbst. Diese Treue Gottes hat zur Folge, daß die gegenwärtige religiöse Erfahrung göttlicher Präsenz nicht erst sekundär, durch einen Vorgang im Bewußtsein des religiösen Menschen, mit der erinnerten Vergangenheit göttlicher Taten vermittelt zu werden braucht; vielmehr gewinnen in jeder Präsenz Gottes auch alle seine vergangenen Taten eine augenblickshaft aufleuchtende Realpräsenz („Deus, cuius antiqua miracula etiam nostris temporibus coruscare sentimus“[2]). Religiöse Anamnese ist erst sekundär menschlicher Akt des Erinnerns; sie ist primär die durch Gottes Treue gestiftete Gegenwart seiner eigenen vergangenen Großtaten. [151] Und die religiöse Pflicht, diese Großtaten „nicht zu vergessen“ (vgl. Ps 103,2), ist in der religiösen Zusage begründet, daß Gott selbst keines seiner Geschöpfe vergißt (vgl. die Bekenntnisformel in der Liturgie des jüdischen Neujahrstages, der auch der „Tag des Gedächtnisses“ genannt wird: „Für alle Vergessenen seit Weltzeit bist du der Gedenkende“).
Gottes Treue stiftet so verstanden eine Realpräsenz seiner vergangenen Großtaten in jeder Gegenwart, in der er Menschen begegnet. Auf dieser Realpräsenz beruht auch die kultische Anamnese und die mit ihr verbundene kultische „Vergegenwärtigung“ dessen, was im Gottesdienst anamnetisch zur Sprache gebracht wird. Dieser Realpräsenz der erinnerten Vergangenheit in der erfahrenen Gegenwart Gottes entspricht die bevorzugte sprachliche Form der Anrufung göttlicher Namen: der „hymnische Partizipialstil“, in welchem der Gottheit ihre vergangenen Taten in der Form des Partizips, also zustandhaft-präsentisch, zugesprochen werden, so daß die E. an vergangene Heilstaten Gottes sich mit der Hoffnung auf deren je gegenwärtige Erneuerung verbindet. Röm. Orationen lösen dabei die partizipiale Namensanrufung in erzählende Relativsätze auf, deren Inhalte in den zukunftsgewandten Deprekationen wiederkehren: „Gott, du hast die Herzen der Gläubigen durch die Erleuchtung des Hl. Geistes belehrt, gib, daß wir in demselben Geiste erkennen, was recht ist, und, von ihm getröstet, allzeit in der Fröhlichkeit verbleiben.“ Akklamationen dieser Art stellen die religiöse Anamnese in den Zusammenhang mit erfahrener Gegenwart und erhoffter Zukunft hinein und benennen dadurch zugleich den Grund, den der so Betende „bestehen läßt“, um so selbst „Bestand zu gewinnen“ (vgl. Jes 7,9). Was über die allg. Bedeutung der Erinnerung für die Identitätsfindung des Individuums und der Gruppe gesagt werden konnte, findet in dieser Form der religiösen Anamnese, dem „Bestandfinden” durch anamnetisches „Bestandgewähren“, seine intensivste Verwirklichungsform.
3. Normative Erinnerungsinhalte
Unter den vielen Inhalten derartigen Erinnerns und Gedenkens gibt es solche, die für Individuen und Gruppen normativen Charakter haben. Es handelt sich dabei um die Erinnerungen an inhaltliche Erfahrungen im individuellen oder gemeinschaftlichen Leben, aus denen eine veränderte Form des Bewußtseins und der Praxis hervorgegangen ist. So kann beispielsweise die Dialoggemeinschaft der Philosophierenden sich nur durch die Erinnerung an jene Krise der antiken, durch den Mythos geprägten Form des gemeinschaftlichen Lebens verstehen, aus der neue Weisen des argumentierenden Denkens und des öffentlichen Disputes über Normen und Ziele gemeinsamer Praxis hervorgegangen sind. Das philosophische Bekenntnis zur „je größeren Wahrheit“ im Gegensatz zur Fraglosigkeit des „Wissens von göttlichen Dingen“ und die aus diesem Bekenntnis resultierenden Regeln der krit. Argumentation würden ohne derartige Erinnerungen zum leeren Formalismus entarten. Ähnliches gilt für die spezifische Rationalität neuzeitl. Wissenschaft. Sie ist aus der Erfahrung jener Konflikte zwischen den christl. Bekenntnissen entstanden, die im 16. Jh. aufbrachen und nicht mehr durch Argumentationen (Religionsgespräche) beigelegt werden konnten, so daß sie schließlich, im Bündnis mit politischen Interessen, sich in Religionskriegen entluden. Ohne diese „normative Erinnerungen“ entartet neuzeitl. Rationalität zur „szientistischen Konvention“. So ist sogar die Forschergemeinschaft eine Überlieferungsgemeinschaft, die bei Verlust ihrer normativen Erinnerungen das Bewußtsein von ihrer spezifischen Aufgabe verliert. Daß dies noch mehr von politischen und religiösen Gemeinschaften gilt, liegt auf der Hand.
Wie das Erinnern und Gedenken überhaupt zur Identitätsfindung von Individuen und Gruppen unentbehrlich ist, so werden die Inhalte normativer Erinnerung zum Maßstab für die Identitäts-Bewährung. Diese Bewährung besteht nicht in dem Versuch, die erinnerte Vergangenheit im jeweils gegenwärtigen Leben zu kopieren, sondern darin, erinnerte Vergangenheit und gegenwärtige Erfahrung in ein Verhältnis gegenseitiger Auslegung zu bringen. Denn die je gegenwärtige Erfahrung läßt ihre Bedeutung (z.B. das Gewicht der Entscheidung, die in der Gegenwart zu fällen ist) in dem Maße [152] erkennen, in welchem sie in diejenige Form des Denkens und der Praxis aufgenommen wird, die in der erinnerten Vergangenheit gestiftet worden ist. So kann die Bedeutung gegenwärtiger Erfahrungen von „Wissenschaftsgläubigkeit“ auf der einen, „Wissenschaftsfeindschaft“ auf der anderen Seite in ihrer Bedeutung für den, der selber Wissenschaft betreibt, nur angemessen gedeutet werden, indem diese Erfahrung in ein selbstkritisch-hermeneutisches Verständnis der Wissenschaft aufgenommen wird. Dieses Wissenschaftsverständnis aber ist exemplarisch dort gestiftet worden, wo Sokrates unter den Verdacht geriet, entweder „neue Götter einzuführen“ (also Wissenschaft an die Stelle des überlieferten mythischen Glaubens zu setzen) oder aber „den schlechteren Logos zum stärkeren zu machen“ (also den gesellschaftlichen Konsensus zu untergraben und je partikuläre Interessen als allg. verbindliche Wahrheit auszugeben). Die Erinnerung an die Gestalt des Sokrates, der diesem doppelten Verdacht ausgesetzt war, sich selbst aber in seinem kritisch-argumentierenden Denken als Diener der „je größeren Wahrheit“ verstand, kann dazu helfen, daß die Forschergemeinschaft sich selber kritisch überprüft, ob sie jene Form des Denkens gefunden und bewahrt hat, durch die sie in der heutigen Situation diesen doppelten Vorwurf als ungerechtfertigt erweisen kann. Die so verstandene gegenwärtige Erfahrung von „Wissenschaftsgläubigkeit“ und „Wissenschaftsfeindschaft“ wird so zur Bewährungsprobe für die Identität der Forschergemeinschaft. Und indem die Forschergemeinschaft der so erinnerten Vergangenheit Maßstäbe ihrer gegenwärtigen Bewährung entnimmt, gewinnt auch die erinnerte Vergangenheit selbst für sie neues Bedeutungsgewicht. Erinnerte Vergangenheit und erfahrene Gegenwart legen sich so gegenseitig aus.
Und wiederum liegt es auf der Hand, daß dies für religiöse Überlieferungsgemeinschaften in ausgezeichnetem Maße gilt. Denn die Glieder dieser Überlieferungsgemeinschaften begreifen ihre je besondere Weise des Selbst- und Weltverständnisses als Folge derjenigen Ereignisse, die den Inhalt ihrer normativen Erinnerung ausmachen („Einst wart ihr Finsternis, jetzt aber Licht durch den Herrn“, Eph 5,8). Sie bewahren ihre Identität dadurch, daß sie im Licht solcher Erinnerungen zum angemessenen theoretischen und praktischen Urteil über ihre gegenwärtige Erfahrung fähig werden. Die Erinnerung an Urereignisse, die „vor aller Zeit“ geschehen sind, befähigt die Mitglieder mythischer Überlieferungsgemeinschaften dazu, Ereignisse ihrer eigenen Erfahrung als Abbild- und Gegenwartsgestalten dieser Urereignisse zu begreifen und in der eigenen Praxis neue Abbild- und Gegenwartsgestalten zu setzen. Die Erinnerung an Jesu Tod und Auferstehung befähigt die Christen, Leid und Tod als „Gestaltgemeinschaft mit Christus” zu begreifen und daraus die Hoffnung auf eine „Gleichgestaltung mit seiner Herrlichkeit“ zu gewinnen. Darum gilt die je gegenwärtige Erfahrung in dem Maße als verstanden, in welchem sie im Lichte der normativen Erinnerung gedeutet werden kann. Die normative Erinnerung aber läßt ihre Bedeutung in dem Maße erkennen, in welchem sie die je gegenwärtige Erfahrung der Überlieferungsgemeinschaft verständlich macht.
Lit.: J. B. Metz, Art. Erinnerung: HPhG II, 386-396; C. v. Bormann, Art. Erinnerung: HWP II, 636-643; L. Oeing-Hanhoff, Art. Anamnesis: HWP I, 263-266; O. Nußbaum, Die Eucharistiefeier als Anamnese (Opfer und Mahl): BiLi 44 (1971), 2-16.
Quelle: Hans Waldenfels (Hg.), Lexikon der Religionen. Phänomene – Geschichte – Ideen (Freiburg: Herder 1987), 149-152.
[1] Nach Psalm 102,27f.
[2] Dritte Oration in der lateinischen Ostervigil, die auf die Lesung Ex 14,15-15,1 folgt.