Richard Schaeffler weiß wie kaum ein anderer Religionsphilosoph die Liturgie in seinen Gedankengängen zu berücksichtigen, so in seinem Artikel „Erinnerung/Anamnese“ aus dem Lexikon der Religionen (hrsg. v. Hans Waldenfels, Freiburg 1987):
Wie das Erinnern und Gedenken allgemein eine Bedingung der individuellen und der gemeinschaftlichen Identitätsfindung ist, so ist die religiöse Anamnese eine Bedingung für die Identitätsfindung des religiösen Individuums und der religiösen Gemeinde. Und wie ganz allgemein Individuen und Gruppen sich ihrer eigenen Identität dadurch bewußt werden können, daß sie fremde Personen oder Sachen wiedererkennen, mit Namen rufen und diese Namen-Akklamation in Erzählsätzen entfalten, so spielt die Acclamatio nominis und deren Entfaltung in Sätzen rühmenden Erzählens eine wichtige Rolle für die Entdeckung der Kontinuität der Lebensgeschichte religiöser Individuen und Gruppen.
Diese besondere Bedeutung der religiösen Anamnese für die Identitätsfindung des religiösen Individuums und der religiösen Gemeinde beruht, nach dem Selbstverständnis der Religion, darauf, daß „Erinnerung“ nicht ausschließlich als ein Akt des religiösen Bewußtseins gilt. Sie ist vor allem ein Akt der Treue Gottes selbst. Diese Treue Gottes hat zur Folge, daß die gegenwärtige religiöse Erfahrung göttlicher Präsenz nicht erst sekundär, durch einen Vorgang im Bewußtsein des religiösen Menschen, mit der erinnerten Vergangenheit göttlicher Taten vermittelt zu werden braucht; vielmehr gewinnen in jeder Präsenz Gottes auch alle seine vergangenen Taten eine augenblickshaft aufleuchtende Realpräsenz („Deus, cuius antiqua miracula etiam nostris temporibus coruscare sentimus“[1]). Religiöse Anamnese ist erst sekundär menschlicher Akt des Erinnerns; sie ist primär die durch Gottes Treue gestiftete Gegenwart seiner eigenen vergangenen Großtaten. Und die religiöse Pflicht, diese Großtaten „nicht zu vergessen“ (vgl. Ps 103,2), ist in der religiösen Zusage begründet, daß Gott selbst keines seiner Geschöpfe vergißt (vgl. die Bekenntnisformel in der Liturgie des jüdischen Neujahrstages, der auch der „Tag des Gedächtnisses“ genannt wird: „Für alle Vergessenen seit Weltzeit bist du der Gedenkende“).
Gottes Treue stiftet so verstanden eine Realpräsenz seiner vergangenen Großtaten in jeder Gegenwart, in der er Menschen begegnet. Auf dieser Realpräsenz beruht auch die kultische Anamnese und die mit ihr verbundene kultische „Vergegenwärtigung“ dessen, was im Gottesdienst anamnetisch zur Sprache gebracht wird. Dieser Realpräsenz der erinnerten Vergangenheit in der erfahrenen Gegenwart Gottes entspricht die bevorzugte sprachliche Form der Anrufung göttlicher Namen: der „hymnische Partizipialstil“, in welchem der Gottheit ihre vergangenen Taten in der Form des Partizips, also zustandhaft-präsentisch, zugesprochen werden, so daß die Erinnerung an vergangene Heilstaten Gottes sich mit der Hoffnung auf deren je gegenwärtige Erneuerung verbindet. Römische Orationen lösen dabei die partizipiale Namensanrufung in erzählende Relativsätze auf, deren Inhalte in den zukunftsgewandten Deprekationen wiederkehren: „Gott, du hast die Herzen der Gläubigen durch die Erleuchtung des Hl. Geistes belehrt, gib, daß wir in demselben Geiste erkennen, was recht ist, und, von ihm getröstet, allzeit in der Fröhlichkeit verbleiben.“ Akklamationen dieser Art stellen die religiöse Anamnese in den Zusammenhang mit erfahrener Gegenwart und erhoffter Zukunft hinein und benennen dadurch zugleich den Grund, den der so Betende „bestehen läßt“, um so selbst „Bestand zu gewinnen“ (vgl. Jes 7,9). Was über die allgemeine Bedeutung der Erinnerung für die Identitätsfindung des Individuums und der Gruppe gesagt werden konnte, findet in dieser Form der religiösen Anamnese, dem „Bestandfinden“ durch anamnetisches „Bestandgewähren“, seine intensivste Verwirklichungsform. […]
Die Glieder religiöser Überlieferungsgemeinschaften begreifen ihre je besondere Weise des Selbst- und Weltverständnisses als Folge derjenigen Ereignisse, die den Inhalt ihrer normativen Erinnerung ausmachen („Einst wart ihr Finsternis, jetzt aber Licht durch den Herrn“, Eph 5,8). Sie bewahren ihre Identität dadurch, daß sie im Licht solcher Erinnerungen zum angemessenen theoretischen und praktischen Urteil über ihre gegenwärtige Erfahrung fähig werden. Die Erinnerung an Urereignisse, die „vor aller Zeit“ geschehen sind, befähigt die Mitglieder mythischer Überlieferungsgemeinschaften dazu, Ereignisse ihrer eigenen Erfahrung als Abbild- und Gegenwartsgestalten dieser Urereignisse zu begreifen und in der eigenen Praxis neue Abbild- und Gegenwartsgestalten zu setzen. Die Erinnerung an Jesu Tod und Auferstehung befähigt die Christen, Leid und Tod als „Gestaltgemeinschaft mit Christus” zu begreifen und daraus die Hoffnung auf eine „Gleichgestaltung mit seiner Herrlichkeit“ zu gewinnen. Darum gilt die je gegenwärtige Erfahrung in dem Maße als verstanden, in welchem sie im Lichte der normativen Erinnerung gedeutet werden kann. Die normative Erinnerung aber läßt ihre Bedeutung in dem Maße erkennen, in welchem sie die je gegenwärtige Erfahrung der Überlieferungsgemeinschaft verständlich macht.
[1] Dritte Oration in der lateinischen Ostervigil, die auf die Lesung Ex 14,15-15,1 folgt.