Jedes Mal, wenn ich im seelsorgerlichen Gespräch die Geschichte vom verlorenen Sohn erzählend vorstelle, entdecke ich sie selbst neu.
Ist väterlich-göttliche Liebe für einen selbst wirklich? Am Anfang der Geschichte scheint sie für den jüngeren Sohn nicht erfahrbar zu sein. Er lässt sich das Erbe auszahlen, um sich aus dem väterlichen Lebensraum in die Eigenständigkeit zu verabschieden. Solche Selbständigkeit braucht ein eigenes Vermögen. Und Jesus erzählt uns, wie der junge Mann eigensinnig sein Vermögen verspielt, um schließlich in einem hungerleiderischen Dienstverhältnis am unreinen Schweinetrog kläglich zu enden.
Wo er sich auf sein Unvermögen besinnt und aus dem eigenen Verloren-Sein umkehrt, visiert er ja nur ein besseres Dienstverhältnis als Tagelöhner (místhios) bei seinem Vater an. Was jedoch bei seiner reumütigen Rückkehr passiert, stellt alles bislang Dagewesene auf den Kopf: In seiner Ankunft wirft sich ihm die väterliche Liebe um den Hals. Dieser Vater hat seinen Sohn wahrlich nie verlorengegeben, auch wenn er ihm nicht nachgeeilt ist. Er wusste wohl selbst, dass der Sohn nur in dessen eigenen Umkehr für seine Liebe empfänglich werden konnte. Hätte er nämlich den Sohn in dessen Unvermögen gestellt, wäre diesem eine väterliche Bevormundung widerfahren.
Wo nun aber der Sohn aus seinem Unvermögen selbst umgekehrt ist, überströmt ihn bei der Rückkehr die väterliche Barmherzigkeit. Die Wiedereinkleidung und das Wiedersehensfest stellen den Sohn in den Machtraum göttlicher Liebe, die sein Leben auf das Innerste durchdringt: „Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.“ So wird das Mahl „ein Fest der Auferstehung von den Toten“ (Thomas Söding).
Und genau da zeigt sich für den älteren Sohn, dass auch für ihn die väterliche Liebe bislang unwirklich gewesen ist: „Siehe, so viele Jahre knechte (douleúō) ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre.“ Wer durch eigene Knechtschaft sich beim Vater in eine wohlgefällige Stellung bringen will, vermag nicht als Sohn zu leben. Er versäumt, was ihm der Vater „alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit“ (Martin Luther) schon längst gewährt hat.
So muss nunmehr der ältere der beiden Söhne draußen vor der Tür bleiben und sich selbst der väterlichen Liebe verweigern. Wenn nun der Vater auch auf ihn mit den Worten „Alles, was mein ist, das ist dein“ zugeht, bleibt am Ende fraglich, ob die väterliche Liebe für ihn wirklich werden kann. In einer knechtischen Selbstgerechtigkeit kann jedenfalls das eigene Leben nicht zur Umkehr in den Machtraum der väterlichen Liebe kommen.
Und schließlich noch ein weiterer Gedanke: Das Gleichnis stellt uns göttliche Gerechtigkeit als Gemeinschaftstreue bzw. als dessen wiederaufrichtende Gerechtigkeit (restorative justice) vor Augen. Gottes Gerechtigkeit rechnet nicht verlustentsprechend mit der Vergangenheit ab, sondern erweist sich in Jesus Christus als zukunftsmächtig: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ (Lukas 19,10)