Über Aufklärung und Religion (1959/60)
Von Max Horkheimer
Der Begriff von Göttern oder Gottes, so sagten die Aufklärer der Nationen, diente zur Erklärung des Unerklärten, der Schaffung und der Zusammenhänge in der Natur und der Schicksale der Menschen in der Gesellschaft. Je weiter die Naturerkenntnis fortschreitet und je gerechter und durchsichtiger die Gesellschaft wird, so daß keine gesellschaftlich bedingten Unterschiede, kein gesellschaftlich bedingtes Leid den Finger Gottes als Erklärung fordern, desto weniger werden die Menschen der Religion bedürfen. Erst dann, so konnte man den Aufklärern erwidern, erst wenn die Religion von ihrer ideologischen Funktion befreit ist, wird die Frage nach ihrer Wahrheit unzweideutig zu stellen sein. Aber, so könnten sie erwidern, werden wir dann nicht der Religion bedürfen, weil wir doch sterben müssen und weil die Kreatur, die nichtmenschliche, durch die Natur und vor allem durch die unbarmherzige Menschheit leidet? Bedarf es nicht immer der Religion, weil die Erde, auch wenn die Gesellschaft in Ordnung wäre, das Grauen bleibt?
Quelle: Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland, hrsg. von Werner Brede, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1974, S. 127.