
In seinem Aufsatz „Bruder und Nächster im Alten Testament“ skizziert Gerhard von Rad eine biblische Sozialordnung für Israel, über das der HERR sein Hoheitsrecht ausgerufen hat:
Israel müht sich, die Rechtsgleichheit aller vor dem Gesetz zu erreichen. Auch der Fremdling und der Arme und der Sklave sollen die Wohltat der Rechtssicherheit genießen. Aber in diesem unserem Lobpreis ist ein unreiner Klang. Diese Gesetzgebung erschien manchmal geradezu als eine großartige Vorwegnahme der idealsten humanitären Bestrebungen der Neuzeit. Das aber gerade ist sehr irrig. In allen sozialen Programmen seit der Aufklärung geht es um den Menschen, um sein Recht auf Glück, um seinen berechtigten Anspruch auf die Güter dieses Lebens usw. In diesen alttestamentlichen Ordnungen aber geht es nicht um den Menschen, sondern um Gott. Nicht weil der Mensch so wertvoll ist und weil er unveräußerliche Rechte hat, sondern weil Gott es nicht will, darf der Arme nicht ausgebeutet werden, darf bei der Rechtsprechung die Waise nicht benachteiligt werden — all unser humanitärer Sozialismus ist doch nur eine Äußerung der Selbstbehauptung des Menschen. Ich sagte: weil JHWH es nicht will. Warum will er es nicht? Weil er, wie gerade das Deuteronomium immer wieder ausspricht, Israel liebhat. Das ist also eine andere Begründung, als sie der edelste Sozialismus sich zu geben vermag. Anders ausgedrückt: Diese eminent brüderliche Gesetzgebung versteht sich nicht als ein Menschheitsgesetz oder ein Naturrecht, auch nicht als ein Staatsgesetz, sondern als eine Gemeindeordnung.