
In dem aus Karteizetteln Franz Overbecks von Carl Albrecht Bernoulli ausgewählten und herausgegebenen Nachlaßband „Christentum und Kultur“ (1919) findet sich ein Abschnitt „Das Religionsproblem der Gegenwart“, der mit folgenden Worten beschlossen ist:
„Am Christentum ist das Interessanteste seine Ohnmacht, die Tatsache, daß es die Welt nicht beherrschen kann. Das Christentum will uns Menschen helfen und verdient schon darum unsern Haß nicht, auch wenn es das Vermögen dazu, uns zu helfen, nicht hätte. Dieses Vermögen aber hat es ohne Zweifel nicht, und wäre es auch nur aus dem Grunde, weil es uns allen Ernstes auf die Letzten Dinge, d. h. über uns selbst hinaus verweist und damit nur Todesweisheit ist. Um an das Christentum zu glauben, wissen wir zuviel davon, und um im Sinne der Kirche davon zu wissen, beruht zuviel davon nur auf Glauben.“
Das Religionsproblem der Gegenwart
Von Franz Overbeck
Kann man zu den Dingen, die man liebt, ohne sie verteidigen zu können, also wirklich liebt, auch Religion rechnen? Die Antwort des Christentums macht die Bejahung fraglich: wir sollen werden wie die Kinder. Hat diese Forderung den geringsten Anspruch, von uns ernst genommen zu werden? Ist alsdann nicht bloß unter Kindern Religion möglich? Man kann ja sagen: ein gewisses Maß von Kindlichkeit erfordert das Bestehenbleiben der Liebe bei allen unsern Beziehungen. Mit dem Aufbringen dieses Maßes bei der Religion dürfte es aber jetzt anders stehen wie sonst. Was kann uns darüber weniger beruhigen als der nervöse, in der modernen Welt so stark hervortretende Drang, die Religion zu verteidigen? Man fühlt eben die Liebe schwinden, die sonst alle Verteidigung so leicht macht. Heißt das aber nicht soviel wie daß die Grundlagen menschlicher Liebe bei der Religion zu versagen beginnen? Und zwar weil wir die Kinder, die wir nach dem urchristlichen Befehl sein müßten, um wirklich religiös zu sein, nicht mehr sind und nicht mehr sein können. [264]
Gemeinhin gilt die Ableitung der Religion aus menschlicher Furcht für die eigentlich nihilistische Deutung des ganzen Phänomens. Wer dies anerkennt, wird aber zugleich anzuerkennen haben, daß die eigentlichen Herolde und Propheten dieser Deutung die Theologen sind. Nicht nur bei ihrer gemeinen terroristischen Ablehnung des Atheismus, sondern bei ihrer Begründung der Religion und des Gottesglaubens. Denn was ist selbst Schleiermachers Definition der Religion als eines Erzeugnisses des menschlichen Abhängigkeitsgefühles mehr als eine sophistisch sublimierte Form der epikuräischen Zurückführung der Religion auf Deisidämonie? (Der Ritschl’sche Religionsbegriff ist wiederum nur eine aus einem gewissen Reaktionsbedürfnis hervorgegangene Vergröberung des Schleiermacherschen.) In der Tat ruht auch auf keinem anderen Gedanken die ultima ratio einer theologischen Vertretung der Religion. Die Theologie hat eben für weiter nichts zu sorgen als für die mehr oder weniger dürftigen Mäntelchen, die man der Sache umhänge. Die moderne Theologie ist dabei so weit gekommen, nicht viel mehr als das Ausgehen des Stoffes merken zu lassen, aus dem sie ihre Produkte herausschneidert. Ihr anmaßliches Beginnen als Fürsprecherin der Religion rächt sich damit, daß sie mit ihrer immer zunehmenden Unfähigkeit die Blöße der Religion zu decken, nur immer vollkommener auch die eigne Blöße, den Nihilismus ihrer eignen Grundlagen, aufdeckt. Die Theologie ist schließlich darauf angewiesen mit Grundannahmen schonend und vorsichtig zu verfahren, die sie zu verabscheuen sich den Anschein geben muß.
Agnostizismus pflegt man gegenwärtig die Denkweise zu nennen, welche eine dem Menschengeschlecht in die Wiege gelegte Lösung des Welträtsels nicht anerkennt. Nun ficht zwar die Erfindung dieses Namens viele Menschen in dem Glauben, den sie besagter Denkweise zollen, nicht an. Aber dem ist nicht allgemein so. Gemäß der Struktur der menschlichen Denkorgane gibt es immer Leute, die mindestens in allen Welträtseln ihre Lösung gefunden zu haben meinen, wenn sie nur für die von ihnen verworfene einen Namen haben. Dieser wird ohne Weiteres Schimpfname, das ist insbesondere theologische Streitmethode. Und so steht es auch mit dem Namen Agnostizismus. Anerkennen, daß man [265] nicht weiß, was man gern wüßte, ist gewiß nicht angenehm. Aber daß man für die Feststellung dieser Empfindung einen Namen hat, ist noch nicht für jedermann ein Beweis, daß man mit dem Grunde der Empfindung oder der Sache selbst fertig ist. Daher man, über Agnostizismus sich unterhaltend, vor allem sich verständigen muß, welche Meinung hinter dem Wortgebrauch steckt und ob er als Ketzername gelten soll. Ist es der Fall, dann braucht man die fernere Unterhaltung nicht ernst zu nehmen — und ob man sie fortsetzen will oder nicht. Und so bei allen Ketzernamen.
Das Grauen vor dem Atheismus braucht sich nicht unmittelbar auf ihn zu beziehen oder aus ihm unmittelbar hervor. zugehen. Er kann auch an der Unzertrennlichkeit des Atheismus und des radikalen Individualismus hängen, welche wenigstens in den modernen Gestalten dieser Denkweise häufig besteht. Jenes Grauen braucht nicht schlechtes Gewissen über den Atheismus an und für sich zu sein, sondern kann auch aus dem Gefühl der Vereinsamung hervorgehen, das am radikalen Individualismus hängt, und den Atheismus lediglich als Konsequenz dieses Individualismus, ja als Korrelatbegriff dazu erscheinen läßt. Was grauenvoll empfunden wird, ist nicht sowohl der Atheismus selbst, als sein unausweichliches Ergebnis: die radikale Isolierung des menschlichen Individuums. Dieser Atheismus ist ja der einzig ernste. Denn als objektives Dogma besteht der Atheismus nicht mehr als der Theismus. Was er wirklich ist, ist er nur als was er subjektiv empfunden wird. — So weit der Atheismus keine Negation ist, kann man ihn weder begründen noch widerlegen und insofern freilich hängt seine Kritik lediglich an der des Gottesglaubens. Mit der Frage nach Gottes Dasein ist noch nicht zugleich die Notwendigkeit ihrer Lösung anerkannt und bewiesen, geschweige denn irgend eine Beantwortung derselben. — Das Dasein Gottes aus den durch die Negation in menschlichen Gemütern erregten Empfindungen zu folgern, daran können nur Theologen denken. Denn Religionsstifter folgern nicht. Sie sind wenigstens, tuen sie es, einfachen Betrügern gleich zu achten. Theologen aber sind aus anderen Gründen nicht ernst zu nehmen.
Die beste Schule, um an dem Dasein eines Gottes als Weltlenkers zu zweifeln, ist die Kirchengeschichte, vorausgesetzt, diese sei die Geschichte der von Gott in die Welt gesetzten Religion des [266] Christentums und es werde demnach angenommen, er habe ihre Geschichte gelenkt. Augenscheinlich hat er dies nicht getan, in der Kirchengeschichte ist nichts wunderbar, in ihr erscheint das Christentum der Welt so unbedingt preisgegeben wie nur irgend ein anderes Ding, das in ihr lebt. Sofern Christentum auf dem Gebiets des geschichtlichen Lebens auch nicht Eine der Korruptionen und Verirrungen erspart geblieben ist, denen die Dinge unterworfen sind, hält die Kirchengeschichte keine Vorstellung ferner als die eines besonderen über der Kirche waltenden Schutzes. Gegen die Kirchengeschichte ist also das Dasein Gottes nur zu behaupten bei der Annahme, Gott habe seine Hand vom Christentum in seinem geschichtlichen Dasein abgezogen. Eine Annahme, die noch nichts die Gott oder dem was wir Menschen so nennen schuldige Ehrfurcht Verletzendes zu haben brauchte. Denn sie schließt nur eine menschliche Beobachtung eines menschlicher Erfahrung unterliegenden Hergangs ein, noch nicht das geringste Urteil über ein daraus erschlossenes Verhalten Gottes. Wenn wir Menschen schon uns die Meinung anmaßen, etwas zur Erhaltung des Gottesglaubens tun zu können, so sollten wir ihn dann doch wenigstens vor Uebertreibung bewahren, vor unserer Hitze und Maßlosigkeit. Schätzen wir überhaupt diese Hitze nicht allzu hoch ein.
Die Religion bringt uns weniger Kunde von Gott (— wo haben wir die?), als daß sie uns dessen vergewissern will, Gott kenne uns. Auch könnte uns das Kennen Gottes unsererseits an sich nichts helfen, soweit wir uns hilfsbedürftig fühlen; auf sein Bekanntsein mit uns käme dabei doch alles an. Und darum schadet uns auch jener unser Mangel nicht.
Der Gott des Christentums ist der Gott des Alten Testaments. In seiner reifen Jugend verkündeten Himmel und Erde die Ehre dieses Gottes. Kein Wunder, daß er sich allmählich zu einem Sultan auswuchs, der sich im Alter die Zeit damit vertrieb, eine Vasensammlung anzulegen und die ihm zusagenden Töpfe durch Aufnahme in die Sammlung zu „ehren“, die andern, die meisten, denn es gefielen ihm wenige, zu zerschlagen. Diese Geschichte hat dieser Gott, wie alle seines Gleichen die ihrige, nur in den Köpfen seiner Verehrer erlebt. Man denke aber bei dieser Geschichte an die der vielen kleinen Götter, die in den Köpfen der [267] Menschen groß werden, und was aus ihnen schließlich im Dunste des ihnen gespendeten Weihrauchs werden mag.
Gott und Seele — zwei Dinge, mit welchen die Theologen, moderne namentlich, wie Kinder mit ihren Puppen, mit derselben Sicherheit in Hinsicht auf ihr Eigentums und Verfügungsrecht darüber, spielen. So werden denn diese Theologen am besten über diese Dinge befragt werden, um zu erfahren, daß sie darüber nichts wissen und auch nichts wissen können, aus dem einfachen Grunde, weil kein Mensch etwas davon weiß, Begriff und Ding in diesem Fall lediglich menschliche Erfindungen sind.
Der Glaube, es lasse sich für Menschen mit Gott und in seinem Namen alles machen, mit ihm finde man sich vollkommen in der Welt zurecht, man fahre damit am besten, ist unter Menschen, welche der We1t Nachdenken gewidmet haben, nur der Glaube der Theologen gewesen. Sonst haben gerader Menschenverstand und höchste Weltweisheit stets entgegengesetzt gedacht. Diese haben in dem Rat an die Menschen übereingestimmt, mit Gott zu machen was sie wollen, auch an ihn zu glauben, nur ihn in der Welt, die er nichts angeht, aus dem Spiel zu lassen.
Gott sei Dank! Ich, so wenig ich mit Religion zu tun habe, bin für die mit diesem Ausruf ausgedrückte Empfindung nicht unempfänglich, schrecke eher vor ihr und vor ihrem Ausdruck, als einem Mißbrauch des Namens Gottes zurück, als daß ich mich dabei gerne aufhielte. So geht es mir etwa im Briefschreiben, wo ich besagten Ausdruck, sobald er mir in die Feder fließt, unter drücke, ganz fallen lasse oder umschreibe. Womit ich durchaus nicht sagen will, zu dieser Operation besonders häufig veranlaßt zu sein. Anderen mag sich die Gelegenheit dazu viel öfter aufdrängen, ich konstatiere weiter nichts als ihr Vorkommen. Unter allen Abmachungen vor der damit bekannten Neigung ist mir aber jedenfalls die rhetorische der Theologen die am wenigsten imposante. Ihr ältestes historisches Vorbild mag bei Tertullian vorliegen, der mir mein „Gott sei Dank!“ als eine echte und reife Frucht der anima naturaliter christiana gedeutet und deren Beseitigung als einen schweren Frevel vorgehalten hätte. „Natürlich“ ist hier weiter nichts als unsere Gegnerschaft. Ich vermag bei Tertullian und jenem seinem Begriff nur eine abortiv-frühreife und vorzeitig zu Boden gefallene Frucht der leidigen modernen Theo-[268]logie zu finden, die eben auch meint, Gott täglich bei sich im Sack zu haben.
Das Christentum aller Zeitalter hat sich gleich unfähig erwiesen., einer universellen Botschaft an die Menschenwelt genug zu tun. Nur einzelnen hilft es jetzt und hat anders auch nie geholfen; in der Gemeinschaft herrschte zu allen Zeiten Durchschnittschristentum. Das ist aber eine Einsicht, in die man sich die moderne Theologie, mit dem größten Staunen, so gelassen finden sieht, sie scheint keine Bedenken darüber zu haben, ob sie, indem sie diese Einsicht verkündet, noch dem Christentum dient. Woher solche Beruhigung? Doch nicht aus dem bloßen Bewußtsein, jene Einsicht sei wahr? Denn dieses Bewußtsein würde zur Beruhigung hier nicht hinreichen. Eine praktische Wissenschaft wie die Theologie kommt nun einmal mit der Wahrheit nicht aus; sie hat sich jedesmal, wo sie dergleichen vorbringt, auch darüber auszuweisen, was sie mit Vorgebrachten will, was sie damit zu beweisen und anzufangen gedenkt.
Keine Wissenschaft darf weniger als die Theologie vergessen, daß, wie es auch mit der Pflicht stehe, die Wahrheit zu sagen, doch keinenfalls jeder die Wahrheit sagen darf. Wer das Christentum zu vertreten hat, hat eben darum nicht „die Wahrheit“ zu vertreten, er sei denn unerschütterlich überzeugt und zeige sich auch so, daß Beides identisch. Dagegen ist die moderne Theologie, man kann fast sagen beflissen, Christentum und Wahrheit auseinanderzureißen, Steine zum Bau des Beweises heranzuschleppen, welche die Kluft zwischen Christentum und „Wahrheit“ an den Tag bringen. Das mit gelassener Miene zu tun, mag höchst praktisch sein, vielfach wenigstens wird es auch wirklich imponieren, aber doch nicht überall und immer. Auch sind die Baumeister mit dem Untergang unter den Trümmern ihres eignen Hauses bedroht.
Aber ist es denn, hiervon abgesehen, so durchaus wahr, daß das Christentum in der Welt heute so gar nicht anders steht als vor bald zweitausend Jahren? Das kann Niemand, der historisch denkt, zugeben Wer so denkt, kann zweitausend Jahre nicht aus der Welt wie ein Nichts streichen lassen. Das Christentum, das so lange gelebt hat, kann gar nicht mehr in der Welt so stehen, wie es am Anfang darin stand, nach allen Erfahrungen, die es [269] damals noch vor sich hatte und jetzt hinter sich hat! Die Begriffe jung und alt kann keine historische Denkweise als leeren Wahn preisgeben. In einer Disziplin, welche von der Anwendbarkeit historischer Betrachtungsweise auf das Christentum so durchdrungen ist wie die moderne Theologie und sich damit jeder Möglichkeit so vollkommen entäußert hat, wie sie, solche Betrachtungsweise vom Christentum fernzuhalten, darf eben darum auch den Satz, daß es mit dem Christentum heute nicht anders steht als im Anfang, gar nicht zulassen, ohne damit das Christentum grundsätzlich preiszugeben.
Keine andere Meinung als die begründete Autorität, und eben darum hat die öffentliche keine. Denn sie spricht sich das Prädikat nicht der Begründung, sondern der Oeffentlichkeit zu, welches selbst (implicite) das der Begründung nicht in sich schließt, vielmehr an sich nichts damit zu tun hat. Mit sehr vielen Gründen kann die öffentliche Meinung ihre Autorität stützen, nur nicht mit dem einzigen, auf den es ankommt. Wie sollte hienach die öffentliche Meinung immer begründet sein, während damit durchaus nicht ausgeschlossen ist, daß sie es bisweilen wäre und also auch nicht aller Autorität entbehrte. Nur heißt das eben so viel wie keine Autorität haben.
Kann irgendwelche grundsätzliche und absichtliche Herabsetzung der öffentlichen Meinung, nach allen was dafür schon geschehen und auch schon längst erreicht ist, noch eine vernünftige, die Mühe lohnende Aufgabe sein? Wer bezweifelt denn noch Fama’s Großmäuligkeit? Wer hat sie je bezweifelt? Und kann es ein verachteteres Wesen als sie geben, sie, gegen die nicht nur die ausgezeichnetsten Leute unzählige der beredesten Libellen gerichtet haben, sondern deren Anbeter selbst sich unter Umständen kaum besinnen, ihr ihre Verachtung zu bezeugen! Liegt doch diese Verachtung zu jedermanns Gebrauch auf der Gasse! Seltsam genug zwar, wenn anders die öffentliche Meinung dafür gelten zu müssen scheint, von Amtswegen der Reinhaltung der Gasse obzuliegen, und doch ganz in der Ordnung, wenn man bedenkt, daß sie weniger als sonst ein Wesen in der Lage sein mag, Schweigen über sich zu vertragen, dagegen häufiger darauf angewiesen ist, eher auch einmal mit schmähender Berücksichtigung vorlieb zu nehmen. [270]
Ist aber, daß Autorität nur die begründete Meinung habe, in Hinsicht auf die öffentliche so wahr? Eben nicht. Weder als Zeugnis für einen Tatbestand, noch als Postulat. Daß nicht bloß begründete öffentliche Meinung Autorität hat, ist augenscheinlich, liegt tatsächlich vor; aber daß manche unbegründete öffentliche Meinung die Autorität, die sie hat, auch verdient, nicht minder. Eben sich darin auszukennen, zu wissen, wann die öffentliche Meinung Begründung missen kann, Ja in deren Mangel sogar ihre Starke hat und wann nicht, darauf kommt es eben an. Die Welt lebt nun einmal nicht von Logik. Das ist aber ein Satz, für den die augenblickliche Gegenwart nur zu viel Sinn hat. Er kommt mir manchmal wie der fruchtbare Mutterschoß für eine förmliche Renaissance des Aberglaubens vor, in welcher unserer ganze moderne Bildung noch ihr Grab finden könnte. Ich mußte noch heute (29. Mai 1902) daran besonders denken, als Rudolf Burckhardt[1]) mir von der Mächtigkeit gewisser Eindrücke sprach, die er neuerdings von Restaurationbestrebungen des Katholizismus hatte. Wäre nicht in der Tat die heutige Welt die vollkommenste ὕλη für einen großen Papst? Was sie auch bleibt, so lange man mit dem ganzen Antagonismus von Katholizismus und Protestantismus nicht fertig ist und nicht eins sieht, daß die religiösen Probleme überhaupt auf ganz neue Grundlage zu stellen sind, eventuell auf Kosten dessen was bisher Religion geheißen hat. Nur daß man nicht etwa meine, dieses Ding ersetzen zu können, und gar mit dem bloßen rhetorischen Taschenspielerstück zum Ziel zu gelangen, daß man ein noch unbestimmtes neues Gemächte, wieder mit dem alten Namen Religion bekleidet, auftreten läßt.
Bildung ist heute eine courante Münze geworden, und ein modernes Gretchen könnte, paßte es nur besser in den Vers, dem echten ohne Weiteres von der Bildung nachsingen, was die echte vom Golde besungen hat. Das scheint nun zwar wie ein höchster Triumph der Bildung, ist aber in Wahrheit ihr größtes Unglück. Gerade die modernen Gretchen mögen nicht die schlechtesten Mahnerinnen der Bildung sein, um sie dessen inne werden zu lassen. — Bildungsphilister sind Menschen, die für Bildung wohl [271] passioniert sind, aber keinen Beruf dazu haben, wohl gebildet sein möchten, der Bildung indessen nur mit halbem Herzen und gewissermaßen nur anstandshalber anhängen. Und eben darum sind Theologen die geborenen Bildungsphilister aller Zeiten, nicht nur des heutigen Tages. Am Christentum, mit dem sie geboren sind oder das ihnen anerzogen ist, schleppen sie beständig den Dämpfer mit sich, der sich auf alle ihre Bildungsaspirationen legt. Ihre Bildung ist daher die Bildung mit schlechtem Gewissen.
Bei der historischen, wissenschaftlichen Behandlung der Frage des Verhältnisses der christlichen Kirche zur Bildung ist nicht zu vergessen, daß Bildung für diese Kirche nichts anderes war als ein Stück der Welt, in die sie sich im Beginn ihrer historischen Laufbahn gestellt sah und zu dem sie ein Verhältnis nicht erst zu geben hatte. So gut wie die Welt, war auch die Bildung älter als die Kirche. Die Fragen, ob Bildung unter Menschen sei oder nicht, ob sie unter ihnen Wert habe oder nicht und welchen — das alles hatte die Kirche nicht erst zu entscheiden. Mit weltlicher Bildung eignete sich die Kirche auch die weltliche Denkweise über sie an. Es gehörte für sie dazu, die Frage nach dem Werte, den sie selbst der Bildung zuerkennen wollte, nur von ihren Interessen im Kampf mit der Welt abhängen zu lassen. Daraus ergab sich ganz natürlich die Unabhängigkeit ihrer allgemeinen Ansichten über Bildung, von denen des Christentums. Das Christentum mag man im allgemeinen asketisch und bildungsfeindlich nennen, für die Kirche wäre solche Bezeichnung ganz falsch. Kirche ist keineswegs dem Christentum gleichzusetzen, es ist die weltliche Form, welche das Christentum während seiner historischen Laufbahn angenommen hat und deshalb von demselben wohl zu unterscheiden. Die Kirche gibt sich das Christentum für seine in der Geschichte unentbehrliche Weltpolitik und ein Kapitel dieser Politik ist eben auch der Bildung gewidmet, zu der sich die Kirche eher eine indifferente als eine sie für oder gegen die Bildung einnehmende und in ihrer Weltpolitik bindende Stellung gegeben hat. Die Politiker, deren sie für die Handhabung dieses Stücks ihrer Politik bedurfte, sind ihr ihre Theologen gewesen. Ueber diese hat sie indessen allmählich alle Gewalt verloren und muß sie, zu ihrer Disziplinierung unfähig geworden, den Folgen ihres von ihr selbst großgezogenen Hochmutes überlassen. Als moderne sind diese Theologen näm-[272]lich übergeschnappt und haben, indem sie sich des Schlüssels zum Hause der Kirche, des Christentums selbst, bemächtigten, bald dieses selbst in blindem Trachten nach seiner Modernisierung, seinem Untergang entgegengeführt (Harnack und seine Schule), oder, und zwar unter dem Banne desselben Wahnes, nämlich der Geschichte nachzugehen, gemeint, die Kirche sei überflüssig und ohne sie das Christentum selbst am Vorabend seines noch im laufenden Jahrhundert ausbrechenden Triumphes in dieser Welt (so H. Faber, Das Christentum der Zukunft, 1904). Letztere Richtung führt das Christentum, das der schützenden Schule der Kirche in der Welt nicht entraten kann, sicher in denselben Abgrund, dem Harnack und Konsorten mit so seltener Freudigkeit zueilen. Allein das Unglück ist in der Kirchengeschichte stets gewesen, daß während das Christentum über Bildung seine sehr entschiedene Meinung hatte dies zwar auch bei den Theologen der Fall war, die der Kirche ihre Dienste aufdrängten, nur, daß diese Meinung die gerade entgegengesetzte war. Ohne Sinn, vielleicht selbst tiefen Sinn, ist diese Geschichte nicht gewesen, das mag schon ihre Langwierigkeit beweisen, doch ist es kein unbegreifliches Wunder, sie zu guter Letzt da auslaufen zu sehen, wo wir heute stehen: in den kurzen Traum von großartigem Erfolg einer Theologengruppe. Streit erhält die Welt, ernster Streit, welcher zwischen großen und ihres Namens werten Gewalten wie zwischen Christentum und Welt entbrennt. Mag auch für reine extravagant idealisierende Betrachtung der Dinge der augenblicklich von der modernen Theologie geführte Kampf wie ein gegen die Wahrheit der sogenannten Gesamtheit der Dinge geführter Streit erscheinen, solche Träume sind schon viele ausgeträumt, unsinnige Erfolge in der Welt erlebt worden. Dies genügt nicht, um die moderne Theologie zur Höhe einer dem Christentum ebenbürtigen und zur Höhe eines ernsten Streites mit der Welt würdigen Gegenmacht zu erheben.
Wozu sind Theologen überhaupt gut? Zu Lehrern der Moral taugen sie auf jeden Fall nicht. Zu Lehrern der Religion freilich nicht mehr. Offenbar dazu, um zwischen Moral und Religion zu vermitteln. Zu dieser Vermittlung drängen sie sich, was denn noch ihr bester Titel auf ein Bürgerrecht im Zwischenreich zwischen [273] Religion und Moral sein mag, so zweifelhaft er ist. Die Theologen gelten für unentbehrlich, und das ist nun einmal nahezu gleichviel, als ob sie es auch wären.
Die Theologen sind freilich der Regel nach Christen, doch auf keinen Fall einfache Christen, Menschen, deren Verhältnis zum Christentum ein einfaches und unzweideutiges ist, sondern Diener des Christentums, deren bloße Existenz die Existenz einer Welt neben und außer dem Christentum zur Voraussetzung hat. Sie sind im günstigsten Fall Unterhändler des Christentums mit dieser Welt, und eben darum traut ihnen auch Niemand recht über den Weg, wenn auch die Dinge wohl so liegen können, daß ein großes Interesse besteht, ihnen darüber zu trauen, wie das in diesem Augenblick der Fall sein mag. Aber immer bleibt es dabei, daß sie selbst Unterhändler sind — eine Menschensorte, die ein begründetes Vorurteil gegen sich hat —, dann aber auch dabei, daß das Christentum selbst Unterhändler verschmäht und, da es in seinen Ansprüchen absolut ist, keine Welt neben sich anerkennt. Mit diesem Anspruch aber können sich die Theologen in einer Welt am allerwenigsten decken, welche einen solchen Anspruch nicht anerkennt. Eine solche Welt ist die moderne; anders als kritisch verhält sie sich zum Christentum nicht, und zwar nicht bloß theoretisch, sondern praktisch erst recht. Oder wer dürfte heute noch, ohne sofort der Lächerlichkeit zu verfallen, behaupten, die Welt, in der wir leben, sei eine christliche, d. h. eine vom Christentum beherrschte? Im günstigsten Falle ist diese Welt eine solche, die ihre eigenen Rechte auf das Christentum als eines Stückes, das zu ihrem Besitzstande gehört, nicht preisgeben, sich davon nicht lossagen mag. Ihr können denn die Theologen als Unterhändler sehr hoch im Werte stehen, vielleicht als nahezu unentbehrlich erscheinen, ohne darum doch den Makel des Berufs überwinden zu müssen. Man nimmt die Dienste, die sie anbieten zu können meinen unter Umständen mit verbindlichstem Danke an, ohne darum den Grundschaden dieser Dienste zu übersehen, daß sie nämlich aus derselben Ecke einer nur relativen Schätzung des Christentums kommen, in der man gemeinhin selbst steht und aus der man sich heraushelfen lassen möchte. Daß uns aber diesen Dienst ein Anderer leistet, der in der allgemeinen Not nur unseres Gleichen ist, zieht begreiflicher Weise eine sehr gebrechliche Er-[274]kenntlichkeit nach sich. Am allerwenigsten kann sich natürlich aus der Mißlichkeit dieser Lage eine Theologie retten, wie die moderne, welche eben mit ihrer Modernität in eitler Selbstverblendung und Zudringlichkeit die Not, die sie mit aller Welt teilt, geradezu affichiert und damit, was sie nur zu verbergen Ursache hätte, für Aller Augen heraussteckt.
Man kann die Theologen die Figaros des Christentums nennen. Auf jeden Fall sind die modernen die höchst anstelligen und brauchbaren, aber auch höchst unzuverlässigen Faktoten desselben. Das ist was im Grunde ihres Herzens alle ehrlichen Pietisten von ihnen denken, nur daß Pietisten von Figaros des Christentums nicht zu reden pflegen und auch nicht wohl reden können. Im Stillen ist es doch das eigentliche Bedenken, das sie gegen die moderne Theologie hegen, und daß es nur im Stillen geschieht, ist wiederum das Bedenkliche an ihrer Art, dem Christentum in der Welt zu dienen.
Die Orthodoxie ist das Produkt des Ideals, das Christentum durch Theorie (Dogmatik) zu erweisen, der Pietismus das des Ideals, diesen Erweis aus dem Leben (der Praxis) zu bringen. Es ist kein Wunder, daß die moderne Welt so sehr nach Orthodoxie lechzt und sich so wenig aus dem Pietismus macht, daß eine Dogmatik wie die Ritschls solchen Erfolg hatte, während die Rothesche so kläglich Schiffbruch litt. In der Tat freilich liefert das moderne Christentum auf diesem Wege nur den schlagendsten Beweis, daß es ihm lediglich, um die Modernität zu tun ist, daß in ihm nur diese sich selbst will, das Christentum aber Nebensache ist. Denn die innerste und reale Not des Christentums der Gegenwart sitzt in der Praxis; was das Christentum vor allem bedarf, um sich in der Welt noch zu behaupten, ist der Erweis seiner praktischen Durchführbarkeit im denn eben dieses ist seiner Zucht an allen Ecken und Enden entwachsen. Ganz anders die Not der Modernität in ihrem Verhältnis zum Christentum, wenigstens so weit sie in ihrer Auffassung ihrer selbst nicht über die Schranken des ihr mit dem Christentum gegebenen religiösen Problems hinaussieht. Ihr ist es vor allem darum zu tun, sich möglichst in der Illusion des Christentums zu erhalten; dazu ist aber, wie leicht zu begreifen, die Orthodoxie viel brauchbarer als der Pietismus. Sich mit diesem einzulassen, heißt, das fühlt die christ-[275]liche Modernität sehr wohl und instinktiv, ihre Aufgabe gerade am hoffnungslosesten, am schwierigsten Ende anfassen, und so wirft sie sich denn der Orthodoxie in die Arme und wendet dem Pietismus den Rücken. Sie gibt die Ansprüche des Christentums auf das Leben (die Praxis) preis, und sucht sich mit Orthodoxie, d. h. im Bereich der Theorie schadlos zu halten. Begreiflich genug, daß sie dabei, wie es auch mit dem stehe, was sie für sich erreicht, in Hinsicht auf das Christentum nur Totengräberarbeit leistet. Indem die christliche Modernität sich der Orthodoxie in die Arme wirft, während das Interesse des Christentums ganz entgegengesetzten Weg weist, denkt sie eben nur an sich. Im modernen Leben dürstet das Christentum nach dem Leben und insofern nach Pietismus, im modernen Christentum die Modernität nach Orthodoxie, denn mit dem Leben hat sie sich schon vollgetrunken. Und so erhält im modernen Christentum das Christentum nichts zu trinken. Denn der Sitz seines Durstes ist ein ganz anderer als bei der Modernität. Die trinkt natürlich nur, wo sie Durst hat und gerade in Hinsicht auf die Erhaltung ihrer Beziehungen zum Christentum ganz wo anders als wo es das Christentum dürstet. Sollte diese Tragikomödie aber wirklich Aussicht haben, noch lange sich vor der Welt abzuspielen?
Soweit der moderne Katholizismus nichts anderes ist als der gegenwärtige Kulturkatholizismus, wie er in der Tagespolitik Deutschlands in der Partei des Zentrums mit allen zwischen ihr und der römischen Kurie laufenden Verbindungsfäden besteht, und in der Theologie die Reformtheologie den heutigen Katholizismus darstellt, so ist dieser Kulturkatholizismus nichts anderes als eine Parallelerscheinung zum modernen Christentum und zur modernen Theologie unseres Protestantismus. Wobei doch wohl nichts Wunderbares daran zu finden ist, daß diese beiden zeitgenössischen Phänomene für einander sich interessieren. Daran wenigstens ist kein Anlaß zu pathologischer Betrachtung der Gegenwart.
Wenn aber der Protestantismus mit der Modernität seines Christentums, wer weiß wie viel besser daran zu sein sich einbildet als der Katholizismus, so erscheint die Berechtigung dieser Einbildung zweifelhaft. Vielleicht hat der Katholizismus gerade in unserem Zeitalter weit ernsteren Grund auf seine Ansprüche an Modernität zu pochen als der Protestantismus. Die Dinge einfach historisch [276] betrachtet, könnte am Katholizismus gemessen Modernität die Grundschwäche des Protestantismus sein. Nicht nur aus dem einfachen Grunde, weil der Protestantismus jünger als der Katholizismus, sondern selbst aus dem anderen, daß gerade in unserem demokratischen Zeitalter der Katholizismus zu seiner Selbstbehauptung im Namen des Christentums und als Kirche einfacher gestellt erscheint als der Protestantismus.
Damit kommen wir wieder auf die überkonfessionell gemeinsame Tendenz der beiden großen christlichen Religionsbekenntnisse zu sprechen. Indem ich hier noch einmal von Jesuitierung des Christentums rede, denke ich an nichts weniger als daran konfessionelle Polemik zu treiben. Der katholische Orden, der hierbei jedem in die Sinne kommt, gilt mir dabei ganz gleich. Ueber ihn habe ich Niemanden etwas zu sagen als was von einem reinen Historiker zu vernehmen ist, als welcher ich vom Jesuitenorden anders nicht zu reden wüßte, denn mit der Empfindung der Verehrung, die ein so sublimes Denkmal der Kirchengeschichte des in der Kirche sich auslebenden Christentums verdient und stets verdienen wird. Der Jesuitismus, den ich meine, ist eine durchaus interkonfessionelle Erscheinung, deren wenn auch bis jetzt anonyme Existenz ich doch aus Kenntnis der Kirchengeschichte mit nicht minderer Gewißheit entnehmen zu können meine als die des Jesuitenordens. Auf Grund folgender Erwägungen: Das Christentum ist ein Ding, das in der Kirche eine Geschichte nur wider Willlen gehabt hat. Es hat ursprünglich guten Grund gehabt, diese Geschichte zu scheuen. Sie sich gefallen lassen, hieß nichts anderes als den Kampf mit der Welt, der es den Krieg erklärte, aufnehmen. Dieser Krieg ist wie alle Kriege ums Leben und mit wechselndem Glück geführt worden. Nun glauben wir Protestanten Alle und ich mit ihnen, daß um die Reformationsperiode oder am Schluß des Mittelalters das Christentum von der Welt völlig überwältigt am Boden lag und der Wiedererweckung durch den Protestantismus zur Fortsetzung seines Kampfes mit der Welt bedurfte. Die Mahnung durch den Protestantismus nahm sich der Katholizismus zu Herzen, er raffte sich zusammen und erzeugte zur Wiederaufnahme des Kampfes und nun zunächst zur Zurückdrängung seines neuen Widersachers, des Protestantismus, in den Wehen der katholischen Reaktion des ausgehenden [277] sechzehnten Jahrhunderts und auf Grund uralter historischer Vorbereitung dazu, im Laufe seiner als Katholizismus alten und mittelalterlichen Kämpfe, den Jesuitenorden, mit dem er gewaltige Erfolge errang und die Kraft zu seiner Selbstbehauptung in der modernen Geschichte. Seitdem ist der Jesuitenorden der unzertrennliche Begleiter des Christentums in allen seinen im Kampf mit der Welt erlittenen Niederlagen geworden. So oft das Christentum wieder einmal von der Welt bewältigt am Boden liegt und sich nicht aufgeben will, weiter kämpfen zu können meint, besinnt es sich auf seine alten als Katholizismus gemachten Erfahrungen, wird selbst wieder halb katholisch und insbesondere halb jesuitisch, d. h., es paktiert wiederum mit der Welt nach dem Muster, das sich dafür im Jesuitenorden findet. So steht es jetzt wieder in der Gegenwart. Wiederum ist das Christentum auf den Grund einer seiner im Kampfe mit der Welt erlittenen Niederlagen gekommen und sucht als deutscher Protestantismus die alten aus der Rüstkammer des Katholizismus geerbten Waffen hervor, fälscht sich lieber bis in sein Innerstes, um sich nur seinen weltlichen Besitzstand zu erhalten. Mit dieser Interkonfessionalität des Jesuitismus und historischen Solidarität der Konfessionen hängt die Interkonfessionalität der modernen Theologie zusammen, bei welcher modern die Theologie aller Kirchen wird. Das konfessionelle Knochengerüst oder die konfessionellen Charakterzüge, bleiben in jeder Kirche bestehen, die darüber schmierte moderne Tünche ist überall dieselbe und nivelliert nach Möglichkeit die fortbestehenden Differenzen der einzelnen Kirche. Die katholische Theologie lehnt sich nach Möglichkeit an die protestantische moderne an, mit der für solche Operationen durch die Jesuiten besonders erlangten Uebung, und auch die protestantische Konfession sieht sich für ihre christlich apologetischen Zwecke nach jesuitischen Rezepten um, scheut dazu die Wiederannäherung an den Katholizismus nicht. Im Brei der Modernität geht heute das Christentum unter und vermag, dank jesuitischer Leitung seiner Weltpolitik, sich nicht einmal mehr soweit in seiner ursprünglichen Energie zu behaupten, daß es sich in der Differenz seiner Konfessionen noch fortlebend zeigt. Für die hier vorgetragene Anschauung, insbesondere so weit sie die Ausgleichung des Protestantismus gegen den Katholizismus betrifft, hätte ich [278] unter protestantischen modernen Theologen, die besten Eideshelfer anzurufen (so E. Förster, Die Rechtslage des deutschen Protestantismus 1800 und 1900. Gießen 1900, S. 21 ff.).
Der Mangel an Beruf zu den Dingen ist oft ein besonders wirksamer Antrieb sich ihnen zu ergeben, eine besonders üppige Quelle des Eifers der Befassung damit. Man sollte etwa meinen, Deutschlands geringer Beruf in seiner gegenwärtigen Weltlage, das Christentum zu verteidigen, liege auf der Hand. Und dennoch werden der Leute immer mehr, die sich dazu drängen. Das liegt eben in dem ganz richtigen Instinkt, der die Eiferquelle nicht üben sieht, die Mangel an Beruf abgeben kann. Man hat im Grunde mit dem Christentum wenig zu tun, aber eben darum doch einen besonderen Stachel dazu, „etwas damit anzufangen“. Das mag wie eine Art spekulativer Geschäftspunkt erscheinen. Sieht es doch gegenwärtig überhaupt darnach aus, als beginne Deutschland seine Wanderschaft in der Welt, um nun auch seine Geschäfte in ihr zu machen.
Diese Betrachtung des Begriffs Beruf stimmt allerdings wenig zu der festlichen Miene, welche die Ritschl’sche Theologie bei seiner Behandlung anzunehmen pflegt. Das Christentum ist kaum nötig, um ihn in den Augen der Leute mit einem Heiligenschein zu umgeben, die gemeine bürgerliche Moral möchte dazu genügen. Wie steht es vollends damit, wenn man dem Begriff etwas schärfer hinter die Kulissen guckt? Wie wir Menschen einmal beschaffen sind, scheint Beruf der Weltweisheit letztes Wort wirklich nicht zu sein. Auch dahinter kann sich manches verstecken, selbst Mangel an Beruf.
Beruf ist zur Zeiteiner der trügerischsten Begriffe im landläufigen Idealismus. Aus der religiösen Sphäre ursprünglich stammend, ist er, wie alle Abkommen von dort, so problematisch und so machtvoll zugleich. Denn in Wahrheit besteht für ein menschliches Subjekt kein anderer Beruf als der, den dieses Subjekt sich selbst gibt. Was man gemeinhin Beruf nennt, ist aber etwas dem Subjekt von einem anderen Wesen verliehenes, setzt mithin die ganze Mythologie der religiösen und der aus der Religion hervorgegangenen idealistischen Weltspaltung voraus. Uebrigens beruht schon Pascals Kritik des Berufsbegriffs auf der [279] Erkenntnis von dessen reiner Subjektivität. Es ist für die Charakterisierung dieses seltenen Menschen von vorzüglichem Interesse, daß man sie gerade bei ihm, dem unvergleichlichen religiösen Denker, findet.
Ein Angriff auf das Christentum wie der Kierkegaard’sche kann mit Erfolg niemals anders abgewiesen werden, als indem der Angreifer selbst angegriffen wird, sei es nun, daß er wie in Kierkegaards Fall, sich im Angriff als Vertreter des Christentums geberdet, so daß er nur der Anmaßung seines Verteidigeramtes überwiesen wird, sei es daß er selbst aufgefordert wird, der Größe, die er angreift, sich vorerst zu unterwerfen. Verloren sind auf jeden Fall gegen Kierkegaard die Christen, die nur sich selbst verteidigen, während doch ein schwacher Punkt seines Vorgehens die falsche, rhetorisch-paradoxe Etikette seines Angriffs auf das Christentum ist angesichts der bloßen Affektation der Angreifermaske. Es sieht dabei so aus, wie wenn sich Kierkegaard auf sich selbst stellte und nun gegen das Christentum losführe — das tut er doch erst, nachdem er zuvor innerhalb des Christentums Fuß gefaßt hat. Er jedenfalls darf das Christentum nicht angreifen, und das in gewissem Sinne noch weniger als die von ihm Angegriffenen. Ein schlechter Vertreter des Christentums ist zu dessen Kritik immer noch besser legitimiert als ein unanfechtbarer, selbst in seinen eigenen Augen unanfechtbarer.
Am Christentum ist das Interessanteste seine Ohnmacht, die Tatsache, daß es die Welt nicht beherrschen kann.
Das Christentum will uns Menschen helfen und verdient schon darum unsern Haß nicht, auch wenn es das Vermögen dazu, uns zu helfen, nicht hätte. Dieses Vermögen aber hat es ohne Zweifel nicht, und wäre es auch nur aus dem Grunde, weil es uns allen Ernstes auf die Letzten Dinge, d. h. über uns selbst hinaus verweist und damit nur Todesweisheit ist.
Um an das Christentum zu glauben, wissen wir zuviel davon, und um im Sinne der Kirche davon zu wissen, beruht zuviel davon nur auf Glauben.
Quelle: Franz Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, aus dem Nachlass herausgegeben von Carl Albrecht Bernoulli, Basel 1919, 263-279.
[1] [Außerordentlicher Professor für Zoologie in Basel, gest. Jan. 1908.]