
Über die not-wendige Praxis des Gebets
In seiner Schrift „Das schöne Confitemini“ von 1530 hat Martin Luther Psalm 118 ausgelegt. Bezüglich Vers 5 „In der Angst rief ich den HERRN an; und der HERR erhörte mich und tröstete mich“ führt er aus:
Darum lerne hier, wer nur lernen kann! Ein jeder werde darüber hinaus ein Falke, der sich in solcher Not in die Höhe schwingen kann. Er wisse zuerst gewiss, zweifle auch nicht, dass ihm Gott solche Not nicht zum Verderben zuschickt […]. Er will ihn damit vielmehr zum Gebet, zum Anrufen Gottes und zum Kämpfen antreiben, damit er seinen Glauben übt und Gott in einer anderen Sicht erkennen lernt, als er das bisher getan hat. Er soll sich so auch gewöhnen, mit dem Teufel und den Sünden zu kämpfen und durch Gottes Hilfe zu siegen. Sonst lernten wir niemals, was Glaube, Wort, Geist, Gnade, Sünde, Tod oder Teufel sind, wenn immer Frieden wäre und es ohne Anfechtung zuginge. Wäre es wirklich so, dann würden wir Gott selbst niemals kennenlernen. Kurz: wir würden niemals rechte Christen, könnten auch nicht Christen bleiben. Not und Angst zwingen uns dazu und erhalten uns wirksam im Christentum. Deswegen sind uns Trübsal und Kreuz so notwendig wie das Leben selbst, ja noch viel nötiger und nützlicher als aller Welt Gut und Ehre.
Es heißt: „Ich rief den Herrn an“. Rufen musst du lernen — das hörst du [96] wohl! — und nicht selbstversunken dasitzen oder auf der Bank liegen, den Kopf hängen lassen und ihn schütteln und in deinen Gedanken dich martern und verzehren, dich sorgen und suchen, wie du es loswirst, und nichts anderes vor Augen haben, als wie übel es dir geht, wie weh dir ist, ein wie unglücklicher Mensch du bist. Stattdessen heißt es: „Wohlauf, du fauler Schelm! Auf die Knie gefallen, die Hände und Augen gen Himmel gehoben, einen Psalm oder Vaterunser vorgenommen und deine Not mit Weinen vor Gott dargelegt, geklagt und angerufen!“ So lehrt es hier dieser Vers, und im 142. Psalm (V. 3) heißt es auch: „Ich schütte mein Herz vor ihm aus und zeige vor ihm meine Not an.“ Ebenso Psalm 141,2: „Mein Gebet müsse vor dir gelten wie ein Räucheropfer, und mein Händeaufheben sei wie ein Abendopfer!“ Hier hörst du: Das Beten, Notanzeigen und Händeaufheben sind Gott die allerangenehmsten Opfer. Er begehrt es, er will es haben, dass du deine Not ihm vorlegen, nicht auf dir liegen lassen und dich selbst damit schleppen, zernagen und martern sollst, womit du aus einem Unglück zwei, ja zehn und hundert machst. Er will, dass du zu schwach sein sollst, solche Not zu tragen und zu überwinden, damit du in ihm stark zu werden lernst und er in dir durch seine Stärke gepriesen wird. Siehe, daraus werden Leute, die da Christen heißen, andernfalls [97] nur Schwätzer und Wortemacher, die viel über Glauben und Geist von sich geben, aber nicht wissen, was es ist oder wovon sie selbst reden.
WA 31/I, 95,3-97,2.