
Wiedigitale Höhlenmenschen zumwahren Lichtkommen. Predigt zum Christfest
Wir hier sind doch keine Höhlenmenschen. Wir leben in eigenen Häusern oder zumindest auf Miete in den eigenen vier Wänden. Wenn es nicht gerade Winter ist, haben wir es tagsüber fensterlichthell zuhause. Das Feuer qualmt nicht durch unsere Räume, sondern knistert im Kaminofen. Der Rauch zieht geruchsneutral über den Schornstein ab. Die Kleidung ist uns auf den Leib geschnitten, die Haare sind fettfrei gewaschen, die frisierte Haarlänge hat schon längst wieder Ohren- und Nackenfreiheit erreicht, zumindest bei den Männern. Zivilisierte Menschen sind wir, keine neandertaligen Höhlenmenschen.
Und doch, über Höhlenmenschen lassen sich Gleichnisse erzählen, die uns gerade heute angehen. In Dialog Politeía des antiken Philosophen Platon führt Sokrates in eine ganz besondere Lebenssituation ein: Menschen finden sich da in einer unterirdischen Höhle ohne Tageslicht wieder. Sie sind dabei so gefesselt und fixiert, dass sie nur auf die dunkle Höhlenwand vor ihnen schauen können. Hinter ihrem Rücken wird ein Schattenspiel aufgeführt, wo das Feuerlicht vorübergetragene Gegenstände schattenhaft auf die Höhlenwand projiziert. So sehen also die Menschen nicht die materiellen Gegenstände hinter ihnen, sondern nur Schattenbilder vor ihnen. Mangels eigener Vergleichsmöglichkeit müssen sie diese Bilder für allein wirklich halten. Das eigene Leben solchermaßen auf die Höhlenwand fixiert wird ganz und gar zur Kinoveranstaltung: Das eigene Leben bewegt sich nicht, nur die Schattenbilder.
Da führt Sokrates den Gedanken weiter. Wenn einer aus seinen Fesseln frei käme und sich umdrehte, müsste er die vorbeigetragenen Gegenstände hinter ihm erkennen und damit das feuerlichtige Schattenspiel durchschauen. Und wenn er dann noch zum Höhlenausgang aufstiege und schlussendlich mit eigenen Augen das Tageslicht mit der Sonne erblickte, würde er vernünftigerweise einsehen, dass die Sonne selbst die allumfassende, einzigwahre Lichtquelle, die höchste Idee, das wahrlich höchste Gut (summum bonum) wäre. In die Höhle zurückgekehrt könnte er seinen gefesselten Mithöhlenmenschen von den materiellen Dingen hinter ihnen, vom Feuer, vom Weg nach draußen ans Tageslicht und schließlich von der einzig wahren Sonne erzählen. Aber sie würden diesem „Emporkömmling“ nicht glauben und würden weiterhin das Schattenspiel auf der Höhlenwand für die einzige Wirklichkeit nehmen. Wo Menschen in bewegten Schattenbildern gefangen sind, ist ihnen mit Vernunft nicht beizukommen.
Da sind wir nun auch schon in der Gegenwart angelangt. Ihr habt es ja auch bemerkt, wie die Blickwinkel und Blickrichtungen von Menschen sich zunehmend verändern. Wir verlieren mehr und mehr die freie Sicht in die Horizontale, schauen uns immer weniger um. Stattdessen fixiert sich unser Blick schräg nach unten in 25 cm Abstand auf einen handbreiten Bildschirm. Was unser Smartphone an bewegten oder auch unbewegten Bildern zu bieten hat, lässt schwerlich ein Entkommen zu: Alles was ich wissen will, alles was mir wichtig ist, alles worum sich das Leben dreht, taucht auf einem 4,7-Zoll-Bildschirm auf – direkt vor mir.

Was sich um mich herum bewegt, wer auf mich zukommt, wer mich zu berühren sucht, wer mir etwas zeigen will, kommt nicht länger durch zu mir. Denn alles was ich für meine Sinnesbefriedigung brauche, spielt sich auf diesem kleinen Bildschirm ab und kommt mir zusätzlich über die Earphones zu Gehör.
Was wir uns selbst auf dem Smartphone alles vor Augen führen können ist einfach gigantisch. Im Netz kann uns das Sinnesfutter nie ausgehen. Und wir dürfen dabei scheinbar frei wählen. Was für eine Versuchung für unser Leben – mir fingerfertig selbst diejenigen Bilder zu suchen, die mich einnehmen. Mit unserem Körper bewegen wir uns zwar immer noch im Tageslicht, aber unsere Sinne haben sich von der realen Welt um uns herum verabschiedet. So sind wir dabei digitale Höhlenmenschen zu werden. Die abgeschirmte Bilderwelt wird zur alles bestimmenden Wirklichkeit. Im wahrsten Sinne des Wortes bilden wir uns unser Leben selbst ein. Doch am Ende steht sowohl für digitale wie auch für Platons Höhlenmenschen das gleiche Schicksal: Das „eingebildete“ Leben wird schlussendlich zum Staub werden. Bilderwelten sind trügerisch; sie enthüllen kein ewiges Leben. So sind digitale Bilder weder Lösung noch Erlösung für unser Leben.
Die bleibende Wahrheit unseres Lebens muss anders ans Licht kommen. Und dazu sind wir heute am Heiligen Abend hier in der Kirche am richtigen Ort. Im Weihnachtsevangelium haben wir von der Krippe gehört, in die das Jesuskind gelegt worden ist. Maria und Josef sind anwesend, die Hirten kommen herzu. Nur der Stall fehlt. Im Weihnachtsevangelium ist keine Rede von ihm. Wo Menschen sich auf die Suche nach dem Geburtsort Jesu machen, treffen sie auf eine Höhle. Die Geburtskirche in Bethlehem ist ja über der Geburtsgrotte gebaut. Unterirdisch also ist der Gottessohn zur Welt gekommen. So wird auch heute noch in der orthodoxen Kirche der Geburtsort Jesu ausschließlich als Höhle dargestellt.[1]

Der Gottessohn ist in einer judäischen Höhle Mensch geworden, um uns von uns selbst zu erlösen. Mit dieser Aussage gewinnt die Weihnachtsbotschaft eine neue Bedeutung: Wie in einer Höhle ist unser Leben von vergänglichen Schattenbildern eingenommen. Und wir kommen einfach nicht selbst aus trügerischen Bilderwelten raus, können nicht über uns selbst hinausgehen, uns jenseits der Sinneswelt in die göttliche Ewigkeit aufschwingen.
Was auch immer wir uns selbst denken können, was auch immer wir für Vorstellungen vom ewigen Glück haben – all unser Denken, Sehnen, Wünschen bringt uns schlussendlich nicht aus unserer Lebenshöhle heraus. In Gedanken mag man mitunter woanders sein – und doch bleibt unser Menschsein dem Irdischen, gar Unterirdischen verhaftet. Vorübergehende Aufhellungen mögen uns zwar gegönnt sein, wo wir in den sozialen Netzwerken den Like-Button anklicken. Aber für die Erdschwere unseres bebilderten Lebens gibt es keine digitale Himmelfahrt.
Am Heiligen Abend sind keine besonders schönen Bilder angesagt, sondern eine nackte Botschaft: Der Gottessohn ist in die Dunkelheit unseres menschlichen Lebens eingetreten, hat Fleisch und Blut angenommen, um unser irdisches Dasein ins wahre göttliche Licht zu bringen. Unser Leben ist bei Gott nicht zum „eingebildeten“ Höhlendasein bestimmt. Als Gottes Geschöpfe, als seine Ebenbilder sind wir vielmehr von unserer Geburt her angelegt auf Begegnung und Berührung – Berührung, die in Liebe verbindet; die für uns verbindlich wird, die uns keine Wahl mehr lässt, die nicht einfach wie auf einem Smartphone fingerfertig weggewischt werden kann, damit ein neues, vermeintlich attraktiveres Bilderangebot sich vor uns auftut.
Der Gottessohn Mensch geworden berührt uns leiblich. Göttliche Liebe nimmt unser Leben für sich ein. Seine Hingabe für uns in die Krippe zu Bethlehem und am Kreuz von Golgatha geht unter die Haut, reißt uns von uns selbst los, entfesselt uns von selbstverliebten Bilderwelten, nimmt uns mit auf den Weg des Glaubens, dass wir dem einem, dreieinigen Gott unser ewiges Heil zutrauen. Was bei Gott für unser Leben als Ziel vorgesehen ist, wird auf keinem Smartphone enthüllt.

Die Zukunft unseres christlicher Glaube wird mit davon abhängen, ob wir Smartphones (und deren zukünftigen Nachfolgegeräte) bewusst und gewollt weglegen können, ob wir neu hinhören können, ob wir hinzukommen können, gerade auch zur Kirche, ob wir uns tatsächlich versammeln können, ob wir uns wirklich vom Weihnachtsevangelium berühren lassen. Jesus Christus, Gottes Sohn Mensch geworden, fordert uns heraus mit unserer Seele, mit unserem Körper und mit unserem Glauben. Im Glauben treten wir vor Jesus und sprechen ihm zu: Du bist mein Heiland, mein Erlöser, mein Befreier, du bist das „wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9), du bist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Dir vertraue ich mich mit meinem Leben an.
Wo uns diese persönliche Begegnung und dieses Gottvertrauen fehlen, wachsen uns die digitalen Bilder immer mehr über den Kopf: Die digitale Lebenshöhle wird immer tiefer, macht uns noch einsamer. Ja, unser Leben ist bei Gott nicht als Höhlenmensch vorgesehen. An Weihnachten dürfen wir gemeinsam singen:
Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und laß dir’s wohlgefallen.
Ich lag in tiefster Todesnacht,
du warest meine Sonne,
die Sonne, die mir zugebracht
Licht, Leben, Freud und Wonne.
O Sonne, die das werte Licht
des Glaubens in mir zugericht‘,
wie schön sind deine Strahlen!
[1] Vgl. Ernst Benz, Die Höhle in der alten Christenheit und in der östlich-orthodoxen Kirche, Eranos-Jahrbuch 22, Zürich 1954, 365-432, wieder abgedruckt in: Ernst Benz, Urbild und Abbild: Der Mensch und die mythische Welt. Gesammelte Eranos-Beiträge, Leiden: Brill 1974, 1-68.