
Es gibt einen Vortrag von Karl Barth, der im angloamerikanischen Kontext eine eigene Wirkungsgeschichte entfaltet hatte – „Die neue Welt in der Bibel“. Bei der Übersetzung ins Englische 1928 wurde nämlich noch das Adjetiv „strange“ verstärkend hinzugefügt: „The Strange New World within the Bible„. Eugene Peterson beispielsweise im ersten Kapitel zu „Eat This Book – A Conversation in the Art of Spiritual Reading“ (auf Deutsch unter dem Titel „Nimm und iss … Die Bibel als Lebensmittel“ im Neufeld Verlag erschienen) beruft sich ausdrücklich auf Barths Vortrag vom 6. Februar 1917 in der Kirche von Leutwil. Im Deutschen blieb „Die neue Welt in der Bibel“ jedoch in Karl Barths erster Aufsatzsammlung „Das Wort Gottes und die Theologie“ (1924) in Frakturschrift eingesperrt. Und auch der Wiederabdruck 2012 in der Karl Barth-Gesamtausgabe ist mit all den textkritischen Anmerkungen kein Lesegenuss. Dabei ist der Vortrag des dreißigjährigen Safenwiler Pfarrers Karl Barths viel zu gut, um nur als historisches Dokument zur Genese der Dialektischen Theologie gelesen zu werden. Barths expressive Sprache geht unter die Haut. Und seine Anti-Hermeneutik ist eine Einladung, sich selbst in die Bibel einzulesen:
Von Karl Barth
Wir sollen versuchen, uns eine Antwort zu geben auf die Frage: Was steht in der Bibel? Was ist das für ein Haus, zu dem die Bibel die Türe ist? Was tut sich uns da für ein Land auf, wenn sich uns die Bibel auftut?
Wir sind mit Abraham in Haran und hören einen gebieterischen Ruf, der an ihn ergeht: Zieh’ aus aus deinem Vaterland und von deiner Freundschaft in ein Land, das ich dir zeigen will! Hören eine Verheißung: Ich will dich zu einem großen Volke machen! Und „Abraham glaubte dem Herrn und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.“ Was hat das alles zu bedeuten? Wir spüren beim Hören von diesen Worten und Ereignissen, daß da etwas dahinter steckt. Aber was? Das möchten wir jetzt also wissen.
Wir sind bei Mose in der Wüste, vierzig Jahre lang büßt er eine Voreiligkeit und ist unter den Tieren. Was geht in ihm vor? Es wird uns nichts darüber gesagt; es soll uns das offenbar nichts angehen. Dann auf einmal auch an ihn ein Ruf: Mose, Mose! und ein großer Befehl: Gehe hin, ich will dich zu Pharao senden, daß du mein Volk, die Kinder Israel, aus Ägypten führest! und eine einfache Zusicherung: Ich will mit dir sein! Wiederum Worte, Ereignisse, die uns zunächst wie lauter Rätsel anschauen. Dergleichen lesen wir weder in der Zeitung noch in andern Büchern. Was ist da dahinter? möchten wir erfahren.
Unter der Eiche zu Ophra im Lande Kanaan in der Zeit schwerer Feindesnot der Bauernsohn Gideon. Der „Engel des Herrn“ erscheint ihm und redet ihn an: Der Herr mit dir du streitbarer Held! Er weiß nicht übel zu widerreden: Ist der Herr mit uns, warum ist uns denn solches alles widerfahren? Aber „der Herr“ weiß ihn noch besser zum Schweigen zu bringen: Gehe hin in dieser deiner Kraft, du sollst Israel erlösen aus der Midianiter Händen. Siehe, ich habe dich gesandt!
In der Stiftshütte zu Silo der junge Samuel, und wieder so ein Ruf: Samuel, Samuel! und der alte fromme Kirchenmann Eli [19] gibt ihm den klugen Rat: Gehe wieder hin und lege dich schlafen: und er gehorcht und schläft noch lange, bis er nicht mehr schlafen kann, weil der Ruf wieder und wieder kommt, weil sogar dem frommen Eli jetzt der Gedanke kommt, es könnte ….! Auch Samuel muß hören und gehorchen. — Wir lesen das alles, aber was lesen wir da eigentlich? Es ist uns, wir spürten etwas wie Erdbeben, wie Meereswellen, die unablässig donnernd gegen ihre Dämme schlagen, aber was ist’s eigentlich, das da anklopft und offenbar herein will?
Soll ich weiter daran erinnern, wie Elia im Namen des „Herrn“ der ganzen Macht seines Königs Trotz bieten und dann doch selber diesen „Herrn“ erst kennen lernen mußte nicht im Sturm und Gewitter, sondern in einem „stillen sanften Sausen“! Wie Jesaja und Jeremia nicht reden wollten und dann doch reden mußten von den Geheimnissen göttlichen Gerichts und göttlichen Segens über einem sündigen Volke! Wie dann mitten in der tiefsten Erniedrigung dieses Volkes heißer und heißer das Ringen einzelner unbegreiflicher „Knechte Gottes“ wurde um die Frage: Wo ist nun dein Gott? und um die Antwort: Israel hat dennoch Gott zum Trost! Wie sie es nicht lassen konnten, in alles Elend und Unrecht der Menschen gleichsam hinauszuschmettern die Verkündigung: Mache dich auf, werde Licht! denn dein Licht kommt und die Herrlichkeit des Herrn gehet auf über dir! Was ist das? Warum reden diese Menschen so? Aus was heraus brennt all der Zorn, all das Erbarmen, all die Freudigkeit, all die Hoffnung, all die unbedingte Zuversicht, die wir noch heute auf allen Seiten der Prophetenbücher und der Psalmen lodern sehen wie Feuer?
Und dann die unfaßbaren, unvergleichlichen Tage, wo die Zeit, die Geschichte, alle bisherige Erfahrung stillzustehen scheinen wie die Sonne zu Gibea — um einen Mann herum, der kein Prophet war, kein Dichter, kein Held, kein Denker, und doch das alles zugleich und mehr als das! Entsetzen erregen seine Worte, denn er redet gewaltig und nicht wie wir Theologen. Mit zwingender Macht ruft er den Einen: Folget mir nach! Einen unwiderstehlichen Eindruck von „ewigem Leben“ macht er auch den Mißtrauischen und Widersachern. „Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Teufel werden ausgetrieben, die Toten stehen auf und den Armen wird die frohe Botschaft verkündigt.“ „Selig ist der Leib, der dich getragen“ meint die Stimme des Volkes. Und je stiller und einsamer [20] er wird, je weniger er bei der Welt um ihn her wirklich „Glauben“ findet, um so stärker durch sein ganzes Dasein hindurch ein triumphierender Ton: Ich bin die Auferstehung und das Leben! Ich lebe — und ihr sollt auch leben!
Und dann nur noch das Echo, schwach genug, wenn wir es mit jenem Tone vom Ostermorgen vergleichen — und doch stark, viel zu stark für unsere an lauter schwache, erbärmlich schwache Töne gewöhnten Ohren: das Echo, das die Erscheinung dieses Mannes gefunden hat bei einer kleinen Schar von Aufmerkenden, Wachsamen, Wartenden. Hier das Echo der ersten mutigen Sendboten, die hinausgehen mußten in alle Welt um das Evangelium aller Kreatur zu verkündigen, hier das Echo des Paulus: Nun ist die Gerechtigkeit Gottes offenbart! Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur! Und der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollenden! Hier das stille tiefe Echo des Johannes: Das Leben ist erschienen, wir sahen seine Herrlichkeit, wir sind nun Gottes Kinder. Und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet. — Dann wird auch dieses Echo still, die Bibel ist aus. — Wer ist der Mann, der so geredet und gehandelt, der dieses Echo gefunden hat? Und noch einmal fragen wir: Was steht in der Bibel? Was bedeutet dieser merkwürdige Gang von Abraham zu Christus? Was will er und ruft er, der Chor der Propheten und Apostel? Was ist das Eine, das diese Stimmen offenbar alle sagen wollen, jede in ihrem Ton und in ihrer Lage? Was geschieht da zwischen dem seltsamen Bericht: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde! und dem ebenso seltsamen Ruf der Sehnsucht: Amen, ja komm Herr Jesu! Was ist da dahinter und was will da zum Vorschein kommen?
Es ist nicht ganz ungefährlich, sich diese Frage zu stellen. Wir könnten es uns wohl überlegen, ob wir nicht besser täten, diesem brennenden Busch nicht zu nahe zu kommen. Wenn wir verraten dabei, was — hinter uns steckt! Die Bibel antwortet auf diese Frage jedem Menschen und auch jeder Zeit, so wie sie es verdienen. Wir werden in ihr immer gerade so viel finden, als wir suchen: Großes und Göttliches, wenn wir Großes und Göttliches suchen, Nichtiges und „Historisches“, wenn wir Nichtiges und „Historisches“ suchen — überhaupt nichts, wenn wir überhaupt nichts suchen. Die Hungernden werden an ihr satt und den Satten ist sie verleidet, bevor sie sie aufgeschlagen haben. Die Frage: was steht in der Bibel? kehrt sich gerne in beschämender und be-[21]drückender Weise um in die andre Frage: ja was willst denn du? und wer bist denn du, der sich erlaubt, so zu fragen?
Aber wir müssen es uns getrauen, so zu fragen: auf die Gefahr hin, daß wir dabei sehr beschämende Entdeckungen über uns selbst machen. Ja, noch mehr: wir müssen es uns getrauen, gleich kühn nach einer Antwort zu greifen, die für uns eigentlich viel zu groß ist, für die wir eigentlich noch gar nicht reif sind; auch wenn wir uns sehr unwürdig vorkommen, eine Frucht zu pflücken, die wahrhaftig nicht etwa wir gepflanzt haben mit unserm Sehnen, Streben, Ringen und innern Arbeiten. Diese Frucht ist die Antwort, die im Thema meines Vortrags gegeben ist: in der Bibel steht eine neue Welt, die Welt Gottes. Diese gewaltige Antwort sagt das gleiche, wie das Wort des ersten Märtyrers Stephanus: Siehe, ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen! Weder durch den Ernst unsres Glaubens, noch durch die Tiefe und den Reichtum unsrer Erfahrungen haben wir uns das Recht verdient, diese Antwort zu geben. Ich werde darum auch nur Weniges und Ungenügendes darüber sagen und auch ihr werdet nur Weniges und Ungenügendes davon fassen und verstehen können. Wir müssen uns offen eingestehen, daß wir mit dieser Antwort weit über uns selbst hinausgreifen. Aber das ist’s gerade: wenn wir überhaupt dem Inhalt der Bibel näher treten wollen, müssen wir es wagen, weit über uns selbst hinauszugreifen. Der Inhalt der Bibel selber läßt das nicht anders zu. Denn die Bibel hat nicht nur das an sich, daß sie zunächst jedem das gibt, was er verdient, was ihm entspricht: dem Einen viel, dem Andern etwas, dem Dritten nichts — sondern auch das Andre, daß sie uns, wenn wir nur aufrichtig sind, gar keine Ruhe läßt, wenn wir mit unsern kurzsichtigen Augen und plumpen Fingern so eine Antwort aus ihr herausgeholt haben, wie sie uns entspricht. Wir merken dann bald: das ist etwas, aber das ist nicht alles — das konnte mir für ein paar Jahre genügen, aber dabei kann ich nun eben nicht bleiben. Die Bibel sagt uns bei gewissen „Auffassungen“, die wir uns von ihr machen, bald sehr deutlich und sehr freundlich: So, das bist du, aber nicht ich! Das ist nun das, was dir vielleicht in der Tat sehr gut paßt: zu deinen Gemütsbedürfnissen und Ansichten, in deine Zeit und in eure „Kreise“, zu euren religiösen oder philosophischen Theorien! Sieh nun hast du dich spiegeln wollen in mir und hast wirklich dein eigenes Bild in mir wiedergefunden! Nun [22] aber geh und suche auch noch mich! Suche, was dasteht! Die Bibel selbst ist’s, eine gewisse unerbittliche Logik ihres Zusammenhangs, die uns über uns selber hinaustreibt, uns einladet, ohne Rücksicht auf unsre Würdigkeit oder Unwürdigkeit nach der letzten höchsten Antwort zu greifen, mit der alles gesagt ist, was gesagt werden kann, auch wenn wir es kaum zu fassen und nur stammelnd auszudrücken wissen, eben nach der Antwort: Eine neue Welt, die Welt Gottes ist in der Bibel. Es ist ein Geist in der Bibel, der läßt es wohl zu, daß wir uns eine Weile bei den Nebensachen aufhalten und damit spielen können, wie es unsre Art ist — dann aber fängt er an, zu drängen und was wir auch einwenden mögen: wir seien ja nur schwache, unvollkommene, höchst durchschnittliche Menschen! er drängt uns auf die Hauptsache hin, ob wir wollen oder nicht. Es ist ein Strom in der Bibel, der trägt uns, wenn wir uns ihm nur einmal anvertraut haben, von selber dem Meere zu. Die heilige Schrift legt sich selbst aus, aller unserer menschlichen Beschränktheit zum Trotz. Wir müssen es nur wagen, diesem Trieb, diesem Geist, diesem Strom, der in der Bibel selbst ist, zu folgen, über uns selbst hinauszuwachsen und nach der höchsten Antwort zu greifen. Dieses Wagnis ist der Glaube und nicht mit einer falschen Bescheidenheit, Zurückhaltung und angeblichen Nüchternheit, sondern im Glauben, als die da mitgehen wollen, wohin sie geführt werden, lesen wir die Bibel recht. Und jene Einladung: wag’s nur und greif’ nach dem höchsten, obwohl du’s nicht verdienst! ist eben die Gnade in der Bibel, und da geht uns die Bibel recht auf, wo uns in ihr die Gnade Gottes begegnet, leitet, zieht und wachsen läßt.
Was steht in der Bibel? Geschichte! Die Geschichte eines merkwürdigen, ja einzigartigen Volkes, die Geschichte gewaltiger, geistesmächtiger Persönlichkeiten, die Geschichte des Christentums in seinen Anfängen. Ein Stück Geschichte von großen Männern und Ideen, für das man sich „als gebildeter Mensch“ interessieren muß, schon wegen seiner Wirkungen auf die Folgezeit und Jetztzeit. Man kann sich eine Zeitlang bei dieser Antwort beruhigen, und viel Schönes und Wahres daran finden. Es ist ja so: die Bibel ist voll Geschichte: Religionsgeschichte, Literaturgeschichte, Kulturgeschichte, Weltgeschichte, dazu Menschengeschichten aller Art. Ein Bild von größter Lebendigkeit und Farbe entrollt sich, sowie man ihr aufmerksam nahetritt. — Aber die Freude wird nicht lange dauern: das Bild ist bei genauerem Zusehen völlig unverständlich [23] und ungenießbar, wenn das wirklich sein tiefster Sinn ist: ein Stück Geschichte. Wer aus Geschichte und auf Geschichten aus ist, der wird sich nach kurzem Verweilen gerne wieder von der Bibel ab- und der Zeitung oder andern Büchern zuwenden. Denn wenn wir Geschichte studieren oder uns mit Geschichten unterhalten wollen, dann möchten wir doch immer gerne wissen: wie ist das alles so gekommen? Wie folgt das eins aufs andre? Was sind die natürlichen, begreiflichen Ursachen der Dinge? Warum haben die Menschen so und nicht anders geredet und gehandelt? Die Bibel aber gibt uns gerade an den entscheidendsten Stellen ihrer Geschichte keine Antwort auf unser: Warum? So verhält es sich übrigens nicht nur mit der Bibel, sondern eigentlich mit allen wirklich großen entscheidenden Menschen und Ereignissender Geschichte. Je größer eine Wendung, um so weniger Antwort bekommen wir auf unser neugieriges: Warum? Und umgekehrt: je kleiner eine Zeit oder ein Mensch, um so mehr finden die „Historiker“ zu erklären und zu begründen. Aber die Bibel stellt da dem Geschichtsliebhaber doch ganz unvergleichliche Schwierigkeiten entgegen. Warum ist das israelitische Volk in der ägyptischen Knechtschaft nicht untergegangen, sondern ein Volk geblieben, ja vielmehr gerade aus tiefster Not heraus geworden? Warum? Darum!! Warum hat Mose ein Gesetz schaffen können, das durch die Reinheit und Menschlichkeit seiner Bestimmungen noch uns heutige Menschen nur beschämen kann? Darum!! Warum steht ein Jeremia während der Belagerung Jerusalems mit seiner Unheilsbotschaft da als ein Volksfeind und vaterlandsloser Geselle? Warum die Krankenheilungen, das Messiasbewußtsein, die Auferstehung Jesu? Warum wird aus einem Saulus ein Paulus? Warum dieses überirdische Christusbild des vierten Evangeliums? Warum sieht Johannes auf der Insel Patmos das neue Jerusalem, die Stadt Gottes, vom Himmel auf die Erde fahren als eine geschmückte Braut ihrem Manne — mitten in der Glanzzeit des Römerreichs, als ob das alles nichts wäre? Darum!! Arme, arme Geschichtsforscher, was für Mühe macht ihnen die Bibel! Darum!! ist doch gar keine rechte Antwort in einer Geschichte und wenn man bei der biblischen Geschichte alle Augenblicke nur Darum!! sagen kann, mit zwei „!!“, dann ist diese Geschichte ja lauter Unsinn. Oder aber sie sind gezwungen, Gründe und Erklärungen zu suchen, wo keine sind, und was dabei schon alles herausgekommen ist, das ist eine Geschichte für sich und zwar eine schreckliche Geschichte, auf die ich jetzt nicht [24] eintreten will. Die Bibel selbst allerdings antwortet auf alle unsre wißbegierigen „Warum?“ weder wie eine Sphinx mit Darum!! noch wie ein Advokat mit tausend Begründungen, Ableitungen und Parallelen, sondern sie sagt uns: Gott ist die entscheidende Ursache. Weil Gott lebt, redet, handelt, darum ….!! Aber freilich, wenn wir hören „Gott“ so kann das zunächst dasselbe für uns sein, wie wenn wir hören würden: Darum!! Da hört eben die Geschichte vorläufig auf, da gibt’s nichts mehr zu fragen, da fängt etwas völlig Anderes, Neues an, eine Geschichte mit ganz eigentümlichen Gründen, Möglichkeiten und Voraussetzungen — in den Leitartikeln unsrer Blätter oder in den Geschichtlein der aargauischen Schullesebücher heißt es mit gutem Grund nie: Gott schuf, Gott sprach! Da fragt es sich eben vor allem, ob wir für dieses Andre, Neue, Verständnis haben oder doch guten Willen, darüber nachzudenken und innerlich darauf einzugehen. Wollen wir uns auf „Gott“ einlassen? Wagen wir es, dahin zu stehen, wohin wir da offenbar geführt werden? Was wäre also „Glauben“! Eine neue Welt ragt da in unsre gewöhnliche, alte Welt hinein. Wir können das ablehnen, wir können sagen: das ist nichts, das ist Einbildung, Wahnsinn: „Gott“ — aber wir können nicht leugnen und verhindern, daß wir durch die biblische „Geschichte“ weit über das hinausgeführt werden, was wir sonst „Geschichte“ heißen: in eine neue Welt, in die Welt Gottes hinein.
Wir könnten auch damit anfangen, daß wir sagen: Moral steht in der Bibel! Sie ist eine Sammlung von Beispielen und Lehren der Tugend und der menschlichen Größe. Auch das ist wahr. Es ist noch nie im Ernst bestritten worden, daß die Menschen der Bibel in ihrer Art gute vorbildliche Menschen gewesen sind, von denen wir unendlich viel zu lernen haben. Ob es uns nun um praktische Lebensweisheit zu tun ist, oder um begeisternde Vorbilder eines gewissen Heldentums, wir finden zunächst, was wir suchen. — Und dann doch auf die Länge auch wieder nicht. Große Partien der Bibel sind z. B. für die Schule und ihre im besten Fall moralischen Ziele fast unbrauchbar, weil sie an solchen Weisheitslehren und „guten Vorbildern“ recht arm sind. Die Helden der Bibel — ja, sie sind wohl alle in einer gewissen Richtung ganz respektabel, aber gerade als Vorbilder des lieben, tüchtigen, arbeitsamen und sogar noch staatsbürgerlich unterrichteten schweizerischen Normalmenschen eignen sich ein Simson, ein David, ein Amos, ein Petrus eigentlich recht wenig; da sind denn doch Rosa [25] von Tannenburg oder die Figuren von Amicis „Herz“ oder die herrlichen Gestalten der neueren Schweizergeschichte ganz andere Leute! Die Bibel ist für die Schule und in der Schule eine Verlegenheit, ein Fremdkörper. Wie soll denn aus dem Vorbild und aus der Lehre Jesu etwas zu „machen“ sein für das „praktische Leben?“ Ist es uns nicht, als wolle er uns auf Schritt und Tritt zurufen: was geht mich das an, euer „praktisches Leben?“ Ich habe nichts damit zu tun, folget ihr mir nach oder laßt mich meiner Wege gehen! Ja, gerade auf gewissen Höhepunkten bereitet uns die Bibel die Überraschung, daß sie gegen unsere Begriffe von Gut und Böse eine merkwürdige Gleichgültigkeit zeigt: Abraham, der als höchste Probe seines Glaubens Gott seinen Sohn opfern will, Jakob, der das Recht der Erstgeburt erwirkt durch einen raffinierten Betrug an seinem blinden Vater, Elia, der die 450 Baalspfaffen schlachtet am Bache Kison, das sind alles nicht gerade sehr löbliche Vorbilder. Und wieviel moralischen Stoff läßt uns die Bibel schmerzlich vermissen, wie wenig Belehrung bietet sie im Grunde über die großen schwierigen Fragen des Geschäftslebens, der Ehe, der Kultur, des Staatslebens, mit denen wir zu ringen haben. Man denke nur an das eine, uns heute besonders Fatale: wie ungeniert in der Bibel beständig Krieg geführt wird! Immer wieder ist der Lehrer oder Pfarrer, wenn er im Unterricht an diese Fragen kommt, genötigt, zu allerhand außerbiblischem Stoff zu greifen, weil das Neue sowohl wie das Alte Testament da einfach nahezu völlig versagen. Immer wieder machen auch ernste christliche Menschen, die etwa in persönlichen Schwierigkeiten ihres Lebens „Trost“ und „Anregung“ suchen, in aller Stille ihre Bibel zu und greifen nach der biederen Leier eines Christian Fürchtegott Gellert, nach den Büchern von Hilty, wenn nicht gar nach der Psychoanalyse, wo alles so viel praktischer, deutlicher und faßbarer wird. Immer wieder macht uns eben die Bibel ganz mit Recht den Eindruck, es werden da gar keine Wiesungen, Ratschläge und Vorbilder gegeben zu einem guten rechten Leben, weder für die einzelnen Menschen, noch gar für die Völker und Regierungen, sie biete uns also gar nicht das, was wir zunächst bei ihr suchen! Ja, da stehen wir eben wieder vor diesem „Andern“, dem Neuen das in der Bibel anhebt. Es ist so: ihr ist nicht das Tun der Menschen die Hauptsache, sondern das Tun Gottes — nicht die verschiedenen Wege, die wir einschlagen können, wenn wir guten Willen haben, sondern die Kräfte, aus denen ein guter Wille erst geschaffen [26] werden soll — nicht wie das, was wir unter Liebe verstehen mögen sich entfaltet und bewährt, sondern daß eine ewige Liebe, die Liebe wie Gott sie versteht, da ist und hervorbricht — nicht wie wir in unsrer alten gewohnten Welt und unter ihren Ordnungen fleißig, ehrlich und hilfreich sein können, sondern daß eine neue Welt gegründet ist und wächst: die Welt, in der Gott herrscht und seine Moral. Im Lichte dieser kommenden Welt ist ein David ein großer Mann trotz seinem Ehebruch und seinem bluttriefenden Schwert: Selig ist der Mann, welchem Gott die Sünde nicht anrechnet! In diese Welt werden die Zöllner und Huren eher eingehen als ihr zehnmal Feinen und Gerechten der guten Gesellschaft! In dieser Welt ist der wahre Held der verlorene Sohn, der eben nichts als verloren ist und mitten unter den Säuen — und nicht sein moralischer älterer Bruder! Seht, das steckt hinter Abraham und Mose, hinter Christus und seinen Aposteln: die Welt des Vaters, in der das Moralische erledigt ist, weil es selbstverständlich ist. Und das ist das Blut des Neuen Testaments, das in unsre Adern übergehen möchte: der Wille des Vaters, der geschehen will auf Erden wie im Himmel! Haben wir das einmal begriffen als den Sinn der Bibel, als ihre Antwort auf unsre großen und kleinen Fragen, so können wir dann immer noch sagen: ich brauche, ich begehre das nicht! das sagt mir nichts! damit kann ich nichts anfangen! Es kann ja sehr wohl sein, daß wir wirklich vorläufig nichts damit anzufangen wissen auf unsem Wegen und Weglein, z. B. auf unsern bisherigen Kirchen- und Schulweglein, und für so manches Einzelne auf dem persönlichen Lebensweglein, das es bis jetzt so beharrlich gerannt ist. Es gibt eben tausenderlei Sackgassen, aus denen der Weg ins Himmelreich zunächst nur rückwärts führen könnte. Aber das ist sicher, daß uns die Bibel, wenn wir sie aufmerksam lesen, gerade auf diesen Punkt losführt, wo es zu dieser Entscheidung kommen muß: Annahme oder Verwerfung der Königsherrschaft Gottes. Das ist eben die neue Welt in der Bibel. Was sie uns bietet, ist das herrliche, treibende hoffnungsvolle Leben des Samenkorns, ein neuer Anfang, aus dem heraus alles neu werden soll. Die neue Welt, das Leben des göttlichen Samenkorns kann man nicht lernen, nicht nachahmen. Da kann man nur mitleben, mitwachsen, mitreif werden. Da kann man nur glauben: hinstehen, wohin man geführt worden ist. Oder eben nicht glauben. Aber kein drittes.
Laßt uns noch von einer andern Seite aus suchen: Wir könnten auch davon ausgehen, daß uns in der Bibel die wahre Religion [27] offenbart ist: was wir von Gott denken, wie wir den rechten Weg zu ihm finden und wie wir uns in der Gemeinschaft mit ihm zu halten haben, also etwa das, was man jetzt gerne „Frömmigkeit“ nennt. Die Bibel, eine „Urkunde der Frömmigkeit“, wieviel ist darüber gesagt und geschrieben worden in den letzten 20 Jahren. Und auch das ist ja ganz wahr. Wie sollte darüber der Bibel nicht allerlei zu entnehmen sein: über das rechte Verhältnis der Menschen zum Ewigen, zum Göttlichen? — aber auch da ist’s nicht anders: Wir müssen nur aufrichtig suchen in der Bibel, dann finden wir ganz sicher etwas Größeres in ihr als Religion und „Frömmigkeit“. Das ist wiederum nur so eine Kruste, in der wir nicht stecken bleiben wollen. Es hat uns doch gewiß auch schon Gedanken gemacht, daß es so schrecklich viele Arten von Christentum gibt: katholisches und protestantisches und solches von allerlei Gemeinschaften und „Richtungen“, altmodisches und modernes — und alle, alle diese Christentümer berufen sich mit gleichem Ernst und Eifer auf die Bibel, alle behaupten: wir haben die rechte Frömmigkeit, wie sie in der Bibel offenbart ist oder doch ihre legitimste Fortsetzung, was sollen wir dazu sagen? Es braucht schon ein starkes Stück Unverfrorenheit, um darauf einfach zu antworten: nun wir Protestanten, oder wir Angehörigen der und der Gemeinschaft oder Gruppe, wir haben eben aus den und den Gründen Recht und alle andern Unrecht. Wenn man einmal weiß, wie leicht diese „Gründe“ zu haben sind, macht man dieses ewige Spiel nicht mehr gerne mit. Aber dann kämen wir ja darauf, daß am Ende alle das Recht hätten, sich mit ihrer Frömmigkeit auf die Bibel zu berufen!? Da ist es uns denn doch, es sei mit Händen zu greifen, wie sich der Geist der Bibel stumm abwendet von dem allgemeinen Toleranzsüpplein, das besonders in unsrer Landeskirche nachgerade als höchstes Gut ausgerufen wird! Oder sollten gar wir alle mit allen unsern „Frömmigkeiten“ samt und sonders — Unrecht haben? Ja, irgendwie in dieser Richtung werden wir die Antwort schon suchen müssen: „Es bleibe vielmehr also, daß Gott sei wahrhaftig und alle Menschen Lügner.“ Es sind eben — alle Religionen in der Bibel, wenn man so will, aber wenn man dann genau zusieht, auch wieder keine einzige, sondern — ja eben wieder das „Andere“, Neue, Größere! Wenn wir zu der Bibel kommen mit unsern Fragen: wie soll ich denken von Gott und der Welt? Wie an das Göttliche herankommen? Wie mich einstellen? dann antwortet sie uns gleichsam: Ja, lieber Mensch, das ist deine Sache, [28] da mußt du nicht mich fragen! Ob es besser sei, die Messe zu hören oder die predigt, ob die Heilsarmee das rechte Christentum hat oder die „christliche Wissenschaft“, ob der alte Herr Pfarrer Müller den rechten Glauben hat oder der junge Herr Pfarrer Meyer, ob deine Religion mehr eine Religion des Verstandes, des Willens oder des Gefühls sein soll, das kannst und mußt du alles mit dir selbst ausmachen! Wenn du nicht eingehen willst auf meine Fragen, dann kannst du bei mir wohl allerhand Gründe und Gründlein finden für den einen oder andern Standpunkt, aber was eigentlich dasteht, das bekommst du auf diese Weise nicht heraus. Das Ende wird immer nur eine große menschliche Rechthaberei sein, weit weit weg von dem, was eigentlich wahr ist und was wahr werden möchte in unserm Leben! Merkst du, was kommt? Den Inhalt der Bibel bilden eben gar nicht die rechten Menschengedanken über Gott, sondern die rechten Gottesgedanken über den Menschen. Nicht wie wir mit Gott reden sollen, steht in der Bibel, sondern was er zu uns sagt, nicht wie wir den Weg zu ihm finden, sondern wie er den Weg zu uns gesucht und gefunden hat, nicht das rechte Verhältnis, in das wir uns zu ihm stellen müssen, sondern der Bund, den er mit allen, die im Glauben Abrahams Kinder sind, geschlossen und in Jesus Christus ein für allemal besiegelt hat. Das steht in der Bibel. Das Wort Gottes steht in der Bibel. Unsre Großväter hatten doch recht, wenn sie sich so hitzig dafür wehrten, Offenbarung sei in der Bibel und nicht nur Religion und wenn sie sich sogar von einem so frommen und scharfsinnigen Mann wie Schleiermacher die Sache nicht auf den Kopf stellen ließen. Und unsre Väter hatten recht, wenn sie sich mißtrauisch davor hüteten, sich auf den schwankenden Boden der religiösen Persönlichkeitskultur zu begeben. Je aufrichtiger wir suchen in der Schrift — nach Frömmigkeit, umso sicherer bekommen wir früher oder später die Antwort: Was da Frömmigkeit? — „sie ist’s die von mir zeugt“! Uns selbst suchen wir — Gott finden wir und stehen dann mit unsern Religionen, Christentümern und Standpunkten allesamt da als ABC-Schüler und Stümper und können nicht einmal traurig darüber sein, sondern freuen uns, haben wir doch statt aller Nebensachen die Hauptsache gefunden, ohne die ja alle Frömmigkeit, auch die tiefste, nur Schein und Betrug ist. In dieser Hauptsache ist dann wiederum das lebendige Samenkorn enthalten, aus dem ein rechtes Verhältnis zu Gott, ein Dienst Gottes „im Geist und in der Wahrheit“ notwendig von selbst hervorgehen muß, gleichviel, ob [29] wir nun mehr auf das oder mehr auf jenes Gewicht legen. Das Wort Gottes! Der Standpunkt Gottes! Auch da haben wir ja wieder alle Freiheit zu wählen. Wir können sehr wohl erklären: Damit kann ich nichts anfangen, der Begriff „Wort Gottes“ kommt in meiner Weltanschauung nicht vor, ich bleibe eben doch lieber bei meinem gewohnten alten „frommen“ Christentum und Standpünktlein dieser oder jener Farbe. Oder aber wir können hören wollen, was „höher ist als alle Vernunft“, können begehren danach in den Kräften Gottes und des Heilandes mitzuwachsen und mitzureifen in dem großen Lebensprozeß, der den Inhalt der Bibel bildet, können dem Geist dieses Buches gehorchen und einmal Gott Recht geben, statt selber Recht haben zu wollen, können es wagen zu — glauben. Ja, da stehen wir eben wieder vor der Glaubensfrage. Aber darüber sollten wir uns, ohne dieser Entscheidung vorgreifen zu wollen, verständigen können, daß jedenfalls in der Bibel alten und neuen Testamentes die Frömmigkeit Gottes — um es so zu sagen — das Thema ist und nie und nirgends die Frömmigkeit der Juden oder Christen oder Heiden, daß uns die Bibel eben auch in dieser Beziehung aus der alten Menschenatmosphäre heraus und an die offenen Tore einer neuen Welt, der Welt Gottes geleitet.
Aber wir sind noch nicht ganz zu Ende. Also das steht in der Bibel: eine neue Welt! Gott! Gottes Herrschaft! Gottes Ehre! Gottes unbegreifliche Liebe! Nicht Menschengeschichte, sondern Gottesgeschichte. Nicht Menschentugenden, sondern die Tugenden dessen, der uns berufen hat aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Lichte! Nicht menschliche Standpunkte, sondern der Standpunkt Gottes! — Aber nun könnte ja von einer Seite die Frage kommen: Wer ist denn Gott? Was ist sein Wille! Was sind seine Gedanken? Was ist das geheimnisvolle „Andere“, Neue, Größere, das da in der Bibel hinter und über allem Menschenwesen auftaucht und uns auffordert zu der Entscheidung: Glauben oder Unglauben? An wen hat Abraham geglaubt? Für wen haben die Helden gekämpft und gesiegt? Wen haben die Propheten geweissagt? In wessen Kräften ist Christus gestorben und auferstanden? Wessen Namen haben die Apostel verkündigt? „Gott“ sei der Inhalt der Bibel! Aber was ist der Inhalt des Inhalts? Ein „Neues“ breche da hervor! Aber was ist das Neue? — Und auf diese Fragen kommen nun von anderen Seiten eine Reihe von raschen, fix und fertigen Antworten, die wir nur gleich anhören wollen; denn es sind alles ernste, wohlbegründete und der Bibel selbst entnommene [30] Antworten: — Gott ist der Herr und Erlöser, der Heiland und Tröster all der Seelen, die sich zu ihm kehren und die neue Welt ist das Reich der Seligkeit, das der kleinen Herde, die dem Verderben entrinnt, bereitet ist. Steht’s nicht so in der Bibel? — Oder: Gott ist die Lebensquelle, die zu rauschen beginnt, wenn wir uns von den Äußerlichkeiten der Welt abwenden und einmal still werden vor ihm, und die neue Welt ist eben der unvergleichliche Friede dieses verborgenen Lebens mit Christo in Gott. Steht nicht auch das in der Bibel? — Oder: Gott ist der Herr des Himmels, der unser wartet und in dem wir unser Bürgerrecht haben und genießen werden nach wohlvollbrachter Wanderung durch die Leiden und Unvollkommenheiten dieser Zeit, und die neue Welt ist eben dieses selige Jenseits, die „stille Ewigkeit“, die die Gläubigen einst aufnehmen wird. Ja, auch das sind lauter aus der Bibel genommene Wahrheiten.
Wie sollten sie nicht wahr sein. Aber sind sie die Wahrheit? Ist das nun alles? Können wir die Bibel oder auch nur ein paar Kapitel daraus lesen oder hören und dann mit gutem Gewissen sagen: Dafür ist Gottes Wort an die Menschheit ergangen, dazu hat er diesen wunderbaren Weg gemacht durch ihre Geschichte von Abraham zu Christus, dazu mußte der heilige Geist am Pfingstfest niederfallen auf die Apostel in feurigen Zungen, dazu mußte ein Saulus zum Paulus werden und Länder und Meere bereisen — damit da und dort oder auch an vielen Orten so ein Menschlein wie du und ich sich „bekehre“, innern „Frieden“ finde und nach einem erlösenden Tod einst „in den Himmel“ komme! Ist das alles? Ist das nun wirklich Gott und seine neue Welt, der Sinn der Bibel, der Inhalt des Inhalts? Stehen die gewaltigen Mittel, die in der Bibel zur Entfaltung kommen, die Völkerbewegungen, Kämpfe und Erschütterungen, die sich da vor uns abspielen, die Wunder und Offenbarungen, die sich da beständig ereignen, die unermeßlichen Zukunftsverheißungen, die uns da immer aufs neue gemacht werden — steht das alles nicht in einem gar zu seltsamen Verhältnis zu dem Wenigen, was dabei herauskommt — wenn dieses wenige eben alles ist? Ist nicht Gott — größer als so?! Haben wir nicht auch bei diesen Antworten, so ernst und fromm sie sein mögen, Gott gemessen mit unserem Maß, Gott begriffen mit unsern Begriffen, uns einen Gott gewünscht nach unsern Wünschen? Müssen wir nicht, wenn wir die Bibel anfangen aufmerksam zu lesen, auch über diese Antworten hinauswachsen? — [30] Ja, und eben damit dann auch hinauswachsen über die seltsame Frage: Wer ist Gott? Als ob wir überhaupt noch so fragen könnten, wenn wir uns aufrichtig und willig an die Pforte der neuen Welt, auf die Schwelle des Reiches Gottes haben führen lassen. Da fragt man doch nicht mehr. Da sieht man. Da hört man. Da hat man. Da weiß man. Da gibt man doch keine zu kleinen, zu kurzen, zu engen Antworten mehr. Die Frage: wer ist Gott? und unsere zu kleinen Antworten darauf kommen doch nur davon her, daß wir irgendwo stecken geblieben sind auf dem Weg durch die offene Pforte in die neue Welt hinein, daß wir die Bibel irgendwo nicht unbefangen mit uns reden lassen, daß wir irgendwo nicht recht — glauben wollen. Da wird dann die Wahrheit eben sofort wieder unklar, verworren, problematisch — oder aber eng, dumpf, kirchlich, kapellenmäßig, langweilig, unbedeutend, „Wer mich siehet, der siehet den Vater!“ Das ist’s ja eben: Wenn wir uns treiben lassen bis zu der höchsten Antwort, wenn wir in der Bibel Gott gefunden, wenn wir es mit Paulus gewagt haben, der himmlischen Stimme nicht ungehorsam zu sein, dann steht Gott vor uns, als der, der er ist. „Glaubst du, so hast du!“ Gott ist Gott.
Aber wer darf sagen: ich glaube!? „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!“ Darum sind wir alle noch so verlegen bei der Frage: Wer ist Gott? so klein und beschämt neben der Fülle der Gottheit, die die Männer und Frauen der Bibel geschaut und verkündigt haben. Darum kann auch ich jetzt nur in ein paar Worten etwas stottern, andeuten, verheißen von dem was sich uns auftun würde, wenn die Bibel ungehindert, in vollem Strom ihrer Offenbarungen mit uns reden könnte.
Wer ist Gott? Der himmlische Vater! Ja, recht. Aber der himmlische Vater auch auf der Erde, und auf der Erde wirklich der himmlische Vater! Der das Leben nicht will spalten lassen in „Diesseits“ und „Jenseits“! Der es nicht dem Tod überlassen will, uns von Sünde und Leid frei zu machen! Der uns segnen will, nicht mit Kirchenkräften, sondern mit Lebenskräften! Der in Christus sein Wort hat Fleisch werden lassen! Der die Ewigkeit für die Zeit und wahrhaftig schon in der Zeit hat anbrechen lassen — denn was wäre das für eine Ewigkeit, die erst „nachher“ käme! Der nicht irgend etwas im Sinn hat, sondern die Aufrichtung einer neuen Welt!
Wer ist Gott? Der Sohn, der „der Mittler meiner Seele“ geworden ist. Ja, recht. Aber mehr als das: der Mittler der ganzen [32] Welt, das erlösende Wort, das im Anfang aller Dinge war und auf das alle Dinge ängstlich harren. Also auch der Erlöser meiner Brüder und Schwestern. Also auch der Erlöser der verirrten, von bösen Geistern und Mächten beherrschten Menschheit, also auch der Erlöser der seufzenden Kreatur um uns. Machtvoll verkündet uns die ganze Bibel, daß Gott werden muß alles in allem, und was in der Bibel geschieht, das ist schon der glorreiche Anfang davon, der Anfang einer neuen Welt!
Wer ist Gott! Der Geist in seinen Gläubigen, der „Geist, der uns vom Sohne eröffnet und kristallenrein von Gottes und des Lammes Throne in stille Herzen fließt hinein“. Ja, ja! Aber auch der, der als Geist und das heißt als Liebe und guter Wille aus den stillen Herzen hervorbrechen will und muß auch ins Äußere, daß es offenbar, sichtbar, greifbar wird: Siehe da, eine Hütte Gottes bei den Menschen! Der heilige Geist, der einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft und darum neue Menschen, neue Familien, neue Verhältnisse, eine neue Politik, der keinen Respekt hat vor alten Gewohnheiten, nur weil sie Gewohnheiten sind, vor alten Feierlichkeiten, nur weil sie feierlich sind, vor alten Mächten, nur weil sie mächtig sind! Der heilige Geist, der nur vor der Wahrheit, nur vor sich selber Respekt hat! Der heilige Geist, der mitten in der Ungerechtigkeit der Erde die Gerechtigkeit des Himmels aufrichtet und der nicht ruhen noch rasten wird, bis alles Tote lebendig geworden, eine neue Welt ins Dasein getreten ist.
Seht, das steht in der Bibel. Das steht auch für uns in der Bibel. Darauf sind wir ja getauft worden. O wenn wir’s im Glauben wagen würden, zu nehmen, was Gnade uns anbietet!
Brauche ich euch erst zu sagen, daß wir alle gerade das nötig haben? Wir leben in der alten, kranken Welt, deren Seele schreit aus tiefster Not: Heile du mich, Herr, so werde ich heil! In allen Menschen, mögen sie sein, wer und wo und was und wie sie sein wollen, ist eine Sehnsucht gerade nach dem, was da steht in der Bibel. Ihr wißt es so gut wie ich.
Und nun hört: „Es war ein Mann, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu und sandte seinen Unecht aus zur Stunde des Gastmahls, zu sagen den Geladenen: „Kommt, denn es ist alles bereit! — —“
Vortrag gehalten am 6. Februar 1917 in der Kirche von Leutwil.
Quelle: Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München: Chr. Kaiser 21929, S. 18-32. Vgl. Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921 (Karl Barth-Gesamtausgabe, III/48), in Verbindung m. F.-W. Marquardt (†) hrsg. v. H.-A. Drewes, Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012, S. 317-343.
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