Im Hinblick auf das Reformationsjubiläum wimmelt nur so von neuen Luther-Büchern, manche eher mit Gimmick-Qualität. Eine Neuerscheinung ist nun wirklich anschaffens- und lesenswert: Martin Luther – Das große Lesebuch, eine Anthologie von deutschsprachigen Texten Luthers, die von Karl-Heinz Göttert neu herausgegeben und in modernes Deutsch gebracht worden sind. Die Auswahl ist klassisch. Im Unterschied zu Luther lesen. Die zentrale Texte, wo Martin H. Jung auf der Basis von Kurt Alands Luther Deutsch eine Fülle von markanten Texten exzerpiert hat, gibt Göttert jedoch die jeweiligen Luther-Texte meist vollständig wieder.
Götterts Übersetzung in modernes Deutsch überzeugt. So wird nicht nur Luthers Sermon Von den guten Werken in neuer Weise verständlich. Wo nämlich Theologen wie Aland Luthers deutschsprachige Texte neu herausgegeben haben, sind deren orthographische, sprachliche und grammatikalische Korrekturen für das gegenwärtige Sprachverständnis (zumindest eines Nichttheologen) oft nicht ausreichend. Göttert hingegen ist als Germanist selbst ausgewiesener Experte für ältere deutsche Literatur sowie für deutsche Sprachgeschichte. Bei Reclam gibt es von ihm gar einen Grundkurs Mittelhochdeutsch. Zudem ist er in Sachen Rhetorik (und Orgelkunst) bestens bewandert.
In einem Interview zur Anthologie erklärt er einleuchtend, warum man Luthers Deutsch tatsächlich übersetzen muss (hörenswert ist auch das Domradio-Interview mit Göttert). Und er kann es mit Sorgfalt und Sprachliebe. Als Beispiel ein längeres Zitat aus dem oben genannten Sermon zur Auslegung des ersten Gebots:
„Sechstens: Das können wir an einem groben fleischlichen Beispiel ablesen: Wenn ein Mann oder eine Frau vom andern Liebe und Wohlgefallen erwartet und fest daran glaubt — wer lehrt ihn dann, wie er sich verhalten, was er tun, lassen, sagen, schweigen, denken soll? Die Zuversicht allein lehrt ihn das alles, und zwar mehr als nötig. Da kennt er keinen Unterschied in den Werken, tut das Große, Lange, Viele so gern wie das Kleine, Kurze, Wenige und umgekehrt und all das mit fröhlichem, friedlichem, sicherem Herzen — als freier Mensch. Wo aber ein Zweifel besteht, da sucht er danach, was am besten ist, da fängt er an, sich Unterschiede der Werke auszumalen, womit er Huld finde, und geht dennoch mit schwerem Herzen und großer Unlust hinzu und ist gleich am Ende seiner Kräfte, mehr als halb verzweifelt, und wird oft zum Narren darüber. Ein Christenmensch, der in wirklicher Zuversicht zu Gott lebt, kennt dagegen alle Dinge, vermag alle Dinge, nimmt alle Dinge auf sich, die zu tun sind, und tut alles fröhlich und frei, nicht um Verdienste und Werke anzusammeln, sondern weil es ihm eine Lust ist, Gott auf diese Weise zu gefallen. Er dient Gott ganz umsonst und ist zufrieden, wenn es diesem gefällt. Wer dagegen mit Gott nicht eins ist oder daran zweifelt, der fängt an, sucht und sorgt sich, wie er es richtig macht und Gott mit vielen Werken beeindrucken kann. “
Zum Vergleich der gleiche Absatz in Alands Fassung aus Luther Deutsch, Bd. 2 (S. 99):
„Zum sechsten: Das können wir an einem groben fleischlichen Exempel sehen: Wenn ein Mann oder Weib vom andern Liebe und Wohlgefallen erwartet und das fest glaubt – wer lehret denselben, wie er sich stellen soll, was er tun, lassen, sagen, schweigen, denken soll? Die Zuversicht allein lehret ihn das alles, und mehr als not ist. Da ist ihm kein Unterschied in Werken, er tut das Große, Lange, Viele so gern wie das Kleine, Kurze, Wenige und umgekehrt und dazu mit fröhlichem, friedlichen, sicheren Herzen und ist ganz ein freier Geselle. Wo aber ein Zweifel da ist, da sucht er sichs, welches am besten sei; da hebt er an, sich Unterschiede der Werke auszumalen, womit er möge Huld erwerben, und geht dennoch mit schwerem Herzen und großer Unlust hinzu und ist gleich gefangen, mehr als halb verzweifelt und wird oft zum Narren darüber. Ein Christenmensch, der in dieser Zuversicht gegen Gott lebt, weiß ebenso alle Dinge, vermag alle Dinge, nimmt alle Dinge auf sich, was zu tun ist, und tuts alles fröhlich und frei, nicht um gute Verdienste und Werke zu sammeln, sondern weil es ihm eine Lust ist, Gott auf diese Weise gut zu gefallen; er dienet Gott ganz umsonst, daran zufrieden, daß es Gott gefällt. Wer umgekehrt mit Gott nicht eins ist oder daran zweifelt, der hebt an, sucht und sorget, wie er doch genugtun und Gott mit vielen Werken bewegen wolle.“
Man darf gespannt sein, was das für Februar 2017 bei S. Fischer angekündigte Buch von Karl-Heinz Göttert, Luthers Bibel. Geschichte einer feindlichen Übernahme, zu bieten hat.
Karl-Heinz Göttert: Martin Luther. Das große Lesebuch, Fischer-Taschenbuch, 12,99 Euro