Die Lesungen zur Predigt sind 5Mose 7,6-11 bzw. Lukas 3,7-14.
In der biblischen Urgeschichte wird erzählt, wie uns Menschen die göttliche Schöpfung abhandengekommen ist. Am sechsten Tag der Schöpfung – nachdem die Landtiere und der Mensch geschaffen worden sind – heißt es abschließend: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ (1Mose 1,31) Das Gottesurteil über seine Schöpfung gilt, aber die Menschen, Mann und Frau, Adam und Eva wollen selbst beurteilen, was gut und böse ist, essen vom Baum der Erkenntnis und verlieren damit vor Gott ihre Unschuld. Und wir als deren Nachfahren folgen ihnen immer noch. Wir meinen ja selbst zu wissen, was für uns gut ist. Jeder soll so leben, wie er es für sich selbst richtig findet. Da leben wir nicht länger im Garten Eden bzw. im Paradies, und doch scheint die Frucht vom Baum der Erkenntnis immer noch unseren Geschmack zu treffen. Das Gute selbst in die Hand nehmen und für sich behalten – so entfremden sich Geschöpfe von ihrem Schöpfer und gehen eigene Weg.
Was uns gemeinsam an göttlicher Güte zugesprochen ist, können wir miteinander teilen. Aber wo Menschen das Gute für sich selbst bestimmen und behalten wollen, suchen sie sich voneinander zu unterscheiden. Wessen Güte sich dem eigenen Urteil verdankt, kann nicht länger freigiebig geteilt werden. So fehlt es an Verbindendem und Gemeinsamen, wenn Menschen mit ihren eigenen Gütern für sich leben wollen. Ruinös ragt der Turm von Babel in den Himmel, aber seine Bauleute sind über den ganzen Erdboden verstreut. Jeder lebt für sich, als Volk, als Familie oder als Individuum. Mit den Urteilen über die anderen grenzt man sich ab, hält den Fremdgeschiedenen auf Distanz. Jede Begegnung, jede zwischenmenschliche Beziehung steht fortan unter einer Vertrauensfrage: „Kann ich dir wirklich vertrauen bei dem, was mich selbst angeht?“ „Lässt Du mich mit meinen Gütern leben?“ Wo zwischenmenschliches Vertrauen verlorengegangen ist, müssen wir alles Gute für uns selbst behalten wollen. Man wird sich selbst zum Nächsten und hält sich am eigenen Grund und Boden und an Abgrenzungen fest. So denken und handeln wir in je eigenen Lebensräumen und können darin keinen Bezug zum Schöpfer finden. Am Ende steht eine gottlose Welt fest. Es scheint, dass auch Gott seine Schöpfung verloren hat.
Nach der Urgeschichte wird nun in 1Mose 12 ein Neuanfang der Geschichte Gottes mit den Menschen erzählt. Sie beginnt mit einer göttlichen Berufung. Unter all den Völkern auf der Erde ergeht der Ruf an einen Menschen, „Abraham“ sein Name, auf Deutsch „Vater der Völker“. Dieser Abraham lebt in Haran am Nordrand der fruchtbaren mesopotamischen Ebene in der heutigen Türkei nahe an der Grenze zu Syrien. Er scheint ein wohlhabender Viehzüchter mit großen Herden zu sein. Da trifft ihn ein göttlicher Aufruf mitten in seinem eigenen Lebensraum:
„Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.“ (1Mose 12,1-2)
Warum Gott ausgerechnet Abraham – damals noch „Abram“ gerufen – erwählte, wissen wir nicht. Aber was diese Erwählung für das Leben Abrahams bedeutete, wird in den folgenden Kapiteln erzählt. Ohne Widerspruch und ohne Rückfrage bricht Abraham mit seiner Frau und dem Neffen Lot auf. Eine unstete Wanderschaft beginnt. Vor ihm ein unbekanntes Land Kanaan und ein göttliches Versprechen: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ (1Mose 12,3) Zurück bleiben alle Sicherheiten und Gewohnheiten. Er vertraut dem ihm unbekannten Gott, lässt sich auf dessen Zusage ein und wird darin zum Hoffenden. Im Brief an die Hebräer wird sein Glaube herausgestellt:
„Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.“ (Hebräer 11,8-10)
In Kanaan leben Abraham und seine Nachkommen als Viehnomaden in Zelten. Und als in der dritten Generation eine Hungersnot ausbricht, werden sie nach Ägypten und dessen Kornkammern getrieben. Pharao mit seiner Militärmacht versklavt die Flüchtlinge, zwingt sie zum Frondienst für den Städtebau von Pitom und Ramses. Zum Schluss vergreifen sich die Ägypter an den männlichen Neugeborenen und töten sie. Doch einer der Neugeborenen mit dem Namen Mose entkommt in einem Papyruskorb im Schilf versteckt dem Todesschicksal und wird von der Tochter des Pharao aufgezogen. Er ist von Gott ausersehen, die Israeliten aus der Sklaverei herauszuführen.
Doch der Lebensweg Moses scheint in ganze andere Richtungen zu führen, zunächst in den Palast des Pharao und damit in die Kultur Ägyptens. Dort, wo er sich zu seinem Volk halten will und einen prügelnden Sklavenaufseher totschlägt, kann er seinem Volk keinen Dienst tun, muss nach Midian fliehen und heiratet in die Sippe des Priesters Jitro ein. Aber der Gott vergisst nicht sein Versprechen, das er dem Stammvater Abraham gegeben hatte. Als Mose eines Tages Jitros Schafe am Berg Horeb auf dem Sinai weidet, kommt es zur lebensentscheidenden Begegnung. Aus dem brennenden Dornbusch trifft ihn die göttliche Stimme:
„Mose, Moses, […] ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. […] Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus diesem Lande in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter […]. Ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.“ (2Mose 3,4.6-8.10)
Ungläubig wendet Mose ein: „Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen?“ (2Mose 3,13) Woher soll ein Niemand nur die Autorität hernehmen, um ein ganzes Volk in die Freiheit zu führen?
Da sagt sich Gott mit seinem eigenen Namen Mose zu: „Ich werde sein, der ich sein werde. […] So sollst du zu den Israeliten sagen: HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name auf ewig, mit dem man mich anrufen soll von Geschlecht zu Geschlecht.“ (2Mose 3,13-15)
Der Name dieses Gottes – für uns unaussprechliche vier Buchstaben, das sogenannte Tetragramm JHWH – ist Machtname, dessen sich kein Mensch für eigene Zwecke bemächtigen kann. Die Macht dieses Namens zeigt sich in zehn gottgewirkten Plagen, die den mächtigen Pharao schließlich in die Knie zwingen. Nach der Tötung des eigenen Erstgeborenen muss Pharao das Volk Israel unter Moses Führung ziehen lassen. Durch das Schilfmeer hindurch führt der Auszug aus Ägypten in den Sinai. Wo es in der Steinwüste an Lebensmitteln und Wasser fehlt, murrt das Volk und droht Mose den Rückzug nach Ägypten an. Besser als Sklaven leben als in der Wüste zu sterben heißt es. Aber der Gott lässt sein Volk nicht zugrunde gehen, versorgt es mit Wachteln und Manna von Himmel und lässt den Stab des Mose Felsquellen aufschlagen. Schließlich gelangen die Israeliten zum Gottesberg, dem Sinai, wo sie ihrem Befreier, dem Gott mit dem unaussprechlichen Namen JHWH, begegnen:
„Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.“ (2Mose 19-4-6)
Israel ist kein vogelfreies Flüchtlingsheer, das sich einen neuen Lebensraum suchen muss, sondern Gottes auserwähltes Volk. Der Gott will es am Berg Sinai in einen persönlichen Bund hineinnehmen. Dazu verkündet er Israel die zehn Gebote und stellt sich selbst als erstes vor:
„Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“ (2Mose 20,2-6)

Israel ist Gottes besonderes Volk, das er in einen innigen Bund hineingenommen hat. Zehn Gebote gelten diesem Volk, wollen es in dem Bund mit dem lebendigen Gott halten. In der alleinigen Anbetung Gottes, im Loben, im Danken, selbst in der Klage, und im mitmenschlichen Verhalten, im Tun und im Lassen, zeigt es sich, ob Israel seinem Gott die Treue hält. Mit gutem Grund zitiert Jesus selbst als höchstes Gebot:
„»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5Mose 6,4-5). Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“ (Markus 12,29-31)
Wer Gottes Weisungen gehorcht, lebt vor Gott auf Rufweite und findet seinen Segen. So lädt Psalm 1 ein:
„Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen /
noch tritt auf den Weg der Sünder
noch sitzt, wo die Spötter sitzen,
sondern hat Lust am Gesetz des HERRN
und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!
Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, /
der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht.
Und was er macht, das gerät wohl.“
(Psalm 1,1-3)
Wer hingegen selbst entscheiden will, was für ihn gut ist, muss für sich selbst leben und sterben. Das Gottesvolk Israel lebt nicht aus eigener Entscheidung, weiß sich nicht selbst von anderen Völkern zu unterscheiden. Was zählt ist, dass der Gott es ausgesondert und von all den anderen Völkern unterschieden hat – als sein Eigentum, als „Königreich von Priestern“ und als „Licht der Völker“ (Jesaja 49,6). Schließlich steht ja schon Abrahams Erwählung unter der göttlichen Zusage: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ (1Mose 12,3) Was der Gott zu unserem Heil vorsieht, dürfen wir im Gottesbund mit Israel erkennen.