
Von 1946 bis 1951, also während seiner Zeit als Professor für Systematische Theologie in Göttingen hatte Hans Joachim Iwand ab und an Artikel in der Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlicht. Hier seine „Weihnachtsbesinnung“ von 1950:
Von Hans Joachim Iwand, Göttingen
Viele Menschen haben sich gewundert, daß Weihnachten – im Unterschied zu den anderen großen christlichen Festen – eine so breite Ausstrahlung unter den Menschen unserer Tage hat. Viele haben sich gewundert und gefreut. Gewundert darum, weil man sich kaum denken kann, daß all die Menschen, die auf dieses Fest in irgendeiner Weise reagieren, das glauben und begreifen, worum es sich bei diesem Fest eigentlich handelt, das Wunder der Weihnacht. Und doch müssen wir uns freuen in dem Gedanken, daß dies ja nur ein Zeichen ist für die unzerstörbare, bis in unsere Tage hinein wirkende Kraft dieses zentralen christlichen Geheimnisses von der Menschwerdung Gottes. Alle, die in diesen Tagen einmal innehalten und stille werden, die irgendwie und irgendwo miteinstimmen in den alle Sphären umspannenden Lobgesang, stehen wie vor einer geschlossenen Tür und warten. Sie warten vor der Tür Gottes wie die Kinder am Festabend daheim vor der Tür der Gaben und der Geschenke, des Lichtes und der Freude warten, die wir ihnen bereiten. So stehen wir Menschen heute wieder vor dem Wunder der Heiligen Nacht und warten darauf, daß uns die Tür dahinein aufgetan wird. Wir stehen alle im Advent – denn einmal, vielleicht schon sehr bald, wird diese Tür von neuem aufgehen, und wir werden im Lichte, das hier leuchtet, stehen. Hier und da ist schon eine Bewegung dahin feststellbar, kündigt sich neue Erfüllung an, neues Ergreifen und Ergriffenwerden von dem, was mit diesem Fest gemeint ist.
Offenbar wissen das auch die anderen, die gerade auf diesen Punkt ihren Angriff richten. Ist es nicht seltsam, daß die großen europäischen Revolutionen gerade Weihnachten den Menschen aus den Händen winden wollen? Dort scheint man es besser zu wissen, als unter den Christen, daß hier die entscheidende Bastion liegt. Ist sie erobert, dann fällt das Ganze. Darum der unablässige Versuch der Feinde des Menschengeschlechts, dem Volk einen anderen Inhalt unter dem Schein dieses Festes anzubieten, es zu säkularisieren oder ins Heidnische umzuformen. Als ob jemand zu diesen Wartenden, Suchenden, Hoffenden spräche: Was steht ihr hier! Hinter dieser Tür ist nichts. Ihr habt lange genug gewartet. Der Himmel tut sich für euch nicht mehr auf. Seid endlich nüchtern, rechnet endlich damit daß der Mensch aus Gemeinem gemacht und den Gesetzen dieser seiner Herkunft unterworfen ist. Das Licht, das ihr hier erwartet, ist längst erloschen. Wir – eine ganz [279] andere Generation freier Geister – haben es ausgeblasen. Wir haben euch andere Lichter angezündet, die das Dunkel vor euren Füßen erhellen werden. Das Wunder, von dem ihr redet, haben wir aufgebrochen. Ihr redet von der Nähe des Menschen zu Gott. Wir haben eine andere Nähe entdeckt: die Nähe zum Tier.
Aber nun tritt das Erstaunlichste zutage: die Ohnmacht solcher Reden und infolgedessen die Nutzlosigkeit der ihnen zugeordneten Aktionen. Es gehört zu den hoffnungsvollsten Zeichen der Zeit, wie hohl und leer dieser Spott geworden ist; nur noch mühsam hält er sich auf dem Throne einer fahl gewordenen Aufklärung. Er wirkt das Gegenteil dessen, was er möchte. Die Menschen, seitdem sie das vernommen haben, halten das Fest der Weihnacht nur noch zäher, mit einer geradezu verzweifelten Entschlossenheit in ihren Händen, wie ein letztes Gut, das sie nicht hergeben. Sie ahnen, daß hier die Entscheidung fallen wird, nicht nur in Kirche und Theologie, sondern durch Kirche und Theologie auch für die Welt, die Gesellschaft, den Staat und unser Leben auf Erden. Denn das Wunder der Weihnacht ereignet sich auf der Erde und für die Erde, es ereignet sich mit dem Menschen und für ihn, nicht für seine Idee, sondern für seine verzweifelte Wirklichkeit. „Welt ging verloren, Christ ward geboren, freue dich, o Christenheit.“
Wenn manche Idealisten aber träumten, die Nähe des Menschen zu Gott sei etwas von Natur Gegebenes, etwas in uns Liegendes, so wissen wir, daß dieser Traum zu Ende geht. Wohl uns, dies zu wissen, damit das Wunder der Gnade neu erwartet und begriffen werden kann: die Nähe Gottes zu den Menschen in einem Menschen! Wenn man es recht sagen wollte, dann müßte man es zweimal sagen: einmal so, daß man das Wort Mensch betont. Der Gottwerdung des Menschen, seiner Selbsterhöhung, setzt Gott die Menschwerdung entgegen. Er übernimmt des Menschen, von diesem selbst negierte, übersprungene Wirklichkeit. Er wird wahrer Mensch, und gerade darum wird er mit uns und so für uns leiden und sterben müssen. Aber dann müßte man es noch einmal sagen und jetzt müßte man betonen, daß dies in einem einzigen Menschen geschah. Ein Mensch, der Sohn der Jungfrau Maria, ist Gottes Nähe zu uns. So heißt es in der Ankündigung des Engels: „des Name sollst du Jesus heißen“.
Das Wunder der Weihnacht liegt in diesem Namen beschlossen. In ihm liegt das Geheimnis des ganzen Menschengeschlechts; seine Geburt gibt erst allem, was ist, den bleibenden und wahren Sinn seines Daseins. Unsere Geburt ist Geburt zum Tode, seine Geburt ist Erscheinung unbesieglichen Lebens mitten in unserer Todeswelt. Mögen sich die Spötter rühmen, sie hätten das Geheimnis des Menschen aufgebrochen, es sei nichts mit der [280] Nähe des Menschen zu Gott. Das Geheimnis, das im Wunder der Weihnacht kund wird, nimmt den Spott auf, aber wandelt ihn um in das Wunder der Gnade. Wenn nicht Nähe zu Gott, dann doch Nähe Gottes zu uns und darum auch eine durch nichts in Frage zu stellende Nähe des Menschen, gerade des gottfernen Menschen, zu Gott. Das Wunder der Weihnacht heißt: Gott selbst hat aller Gottesferne ein Ende gemacht. Darum nennen die Verheißungen den Gottessohn Immanuel, das heißt: Gott ist mit uns.
Man kann nicht hinfort an Gott glauben, ohne an die Menschen, an den Menschen im Menschen zu glauben. Wir verlieren unseren Glauben an Gott durch die Menschen, vielleicht am stärksten durch den Menschen, der uns am nächsten und – leider – am bekanntesten ist. Aber wir gewinnen unseren Glauben an die Menschen wieder durch Gott, durch sein wunderbares Ja zur Menschheit, das er in der Menschwerdung seines Sohnes gesprochen hat. Man kann nicht an der Krippe stehen und anbeten, um hernach herauszugehen und sein altes, böses, menschenfeindliches Urteil wieder aufzunehmen. Tritt man dahin, wo dies Wunder leuchtet, so ist die Welt verwandelt. „Das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.“ Darum steht über dieser einen Stelle der Menschheitsgeschichte der Lobgesang himmlischer Heerscharen: Gloria in altissimis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis. Was an dieser lateinischen (Vulgata) Übersetzung so schön ist, ist dies: sie hält das Gegenüber des Urtextes, der nicht drei-, sondern zweigegliedert ist: Im Himmel das Lob zur Ehre Gottes, auf Erden die Friedensbotschaft den Menschen, über denen Gottes Wohlgefallen steht. Das ist die Wendung um 180 Grad, die im Wunder der Heiligen Nacht beschlossen liegt. Der Abgrund zwischen Gott und Mensch ist geschlossen. Gott, sein Leben, seine Wahrheit und Gerechtigkeit, sind mitten unter uns getreten.
Die Bestimmung des Menschen ist etwas, das jenseits des Todes liegt. Der Mensch und der Tod, dieses Ineinander und Beieinander, ist das tiefste Dunkel unserer Existenz. Denn der Mensch und das Leben gehören zusammen, und zwar das ewige, das todgefeite, das Gottes ewige Gedanken denkende und liebende Leben. Das Wunder der Weihnacht ist dies: Das, was für den natürlichen Menschen jenseits des Todes liegt, ist in dem Gottmenschen diesseits der Todesgrenze, ist mitten in dieser Todeswelt erschienen und hat eben damit diese gesprengt und aufgehoben. Das ist die Wendung, die mit der Geburt des Sohnes Gottes in Bethlehem Ereignis geworden ist: Alles, was wir Menschen als Wirklichkeit anzusprechen uns gewöhnt haben, ist nun in Frage gestellt, und alles, was wir verloren zu haben schienen, ist Gegenwart geworden. „Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradies, der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr [281] und Preis.“ Wie es der Prolog des Johannes-Evangeliums sagt, diese an Tiefe und Kraft unerreichte Ouvertüre für die Worte und Werke des Gottessohnes auf Erden: In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen …
DIE ZEIT, Nr. 51, 21. Dezember 1950. Wieder abgedruckt in: Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke. Neue Folge, Bd. 5: Predigten und Predigtlehre, Gütersloh: Chr. Kaiser. Gütersloher Verlagshaus 2004, Seiten 278-281.
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