Gehorchen kommt von Hören
Auch wenn man es nicht gerne hören mag; das Bekenntnis „Jesus Christus ist Herr“ impliziert Glaubensgehorsam (hypakoē pisteōs – vgl. Röm 1,5; 16,26). Ohne solchen Gehorsam bleibt dieses Kyrios-Bekenntnis ungehörig, oder wie Dietrich Bonhoeffer es apodiktisch ausgesprochen hat: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt.“[1] Christinnen und Christen sind diejenigen, die dem Herrn Jesus Christus zugehörig sind und ihm daher gehorchen. Um freilich gängigen Assoziationen wie „blinder Gehorsam“ oder „Kadavergehorsam“ zu entgehen, ist es angebracht, die „akustische“ Etymologie von „Gehorsam“ zu berücksichtigen: Wer gehorcht, horcht bzw. hört auf jemanden, was weit mehr ist als einem Befehl zu folgen. In der hebräisch- bzw. griechischsprachigen Bibel wird nicht zwischen „hören“ und „gehorchen“ semantisch differenziert. Ebenso folgt die lateinische Vulgata der „akustischen“ Tradition, wenn sie das griechische Verb akouein generell mit audire (hören) wiedergibt.[2]
Hören und Gehorchen sind ein Beziehungsgeschehen, in dem jemand sich akustisch auf den Anspruch eines anderen ausrichtet, so wie dies in der hebräischen Interjektion hinneni („hier bin ich“ – vgl. Gen 22,1.11) zum Ausdruck kommt. Wer einem Anspruch gehorcht, vertraut sich dem anderen an. Nirgends besser als im sogenannten šemă‘ jiśrā’el kommt dies zur Sprache: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (Dtn 6,4f.) Auf den Herrn hören heißt nichts anderes als von dessen Erwählung eingenommen zu sein. Von solch einem kommunikativen Anspruchsgehorsam ist ein Befehlsgehorsam zu unterscheiden, wo auf Grundlage eines externen Statusrahmens ein rangmäßig „Untergebener“ (subiectum) dem Befehl eines Superiors bedingungslos zu folgen hat (vgl. Mt 8,5).[3] Befehle richten sich nicht auf eine Beziehung aus, sondern nehmen Menschen mitunter gewaltsam für eine ihnen fremde Agenda ein. Wegen einer „höheren Sache“ hat man zu folgen, auch wenn dies das eigene Leben kosten mag. Zur Aufrechterhaltung der Befehlsgewalt müssen Befehlsverweigerung und Befehlsentzug konsequent bestraft werden.
Gehorsam in Gemeinschaft
Das Beziehungsfeld des christlichen Gehorsams ist einer mitunter lebenszerstörerischen Befehlsmilitanz diametral entgegengesetzt. Es geht nicht um eine „höhere Sache“, die menschliches Leben als Manövriermasse zu verzwecken sucht. Der Sohn des Gottes hat vielmehr unser sterbliches Leben in leiblicher Knechtsgestalt angenommen, damit wir in die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott aufgenommen werden, oder wie der Kirchenvater Athanasius über den Logos zu sagen weiß: „Er hat sich vermenschlicht, damit wir vergöttlicht werden.“[4] Wo der Sohn das menschliche Leben leiblich angenommen und von Sünde und Tod erlöst hat, dürfen sich Christen im Gehorsam vorbehaltslos seinem Wort anvertrauen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ (Joh 11,25f.)
Da es Jesus Christus selbst ist, der sich dem menschlichen Leben unterworfen hat, müssen sich Christen seiner Herrschaft eben nicht befehlsgemäß unterwerfen. Mit solch einem unterwerfungsfreien Gehorsam wird das christliche Leben nicht für eine „höhere Sache“ instrumentalisiert; vielmehr wird das eigene Leben in das Pascha-Mysterium hineingenommen und zu seiner Fülle gebracht. Sollte sich dennoch jemand dem Anspruchsgehorsam verweigern, kann es innerhalb der Kirche keine herrschaftliche Gehorsamserzwingung geben. Vielmehr wird der jeweilige Ungehorsam als selbstgewählter Beziehungsentzug angenommen und in der kirchlichen Exkommunikation – die keine Bestrafung sein kann – bestätigt (vgl. Mt 18,15-20).[5]
Anspruchsgehorsam statt Befehlsgehorsam
Dass christlicher Anspruchsgehorsam weithin als klerikaler Befehlsgehorsam missverstanden worden ist, dürfte neben dem neuplatonisch inspirierten Hierarchiebegriff Pseudo-Dionysius Areopagitas[6] wohl auch auf das koinobitische Mönchtum zurückzuführen sein, wo der Befehlsgehorsam neben Armut und Keuschheit als einer der drei „evangelischen Räte“ in das Ordensgelübde hineingenommen worden ist.[7] Der unbedingte Gehorsam (obedientia) gegenüber dem Abt bzw. Prior wird zur wesentlichen Grundlage eines monastischen Gemeinschaftslebens, das die selbstgewählte aszetische Einsamkeit (monachos) in einem regulierten Zusammenleben (koinos bios) aufrechtzuerhalten sucht. So heißt es schon im fünften Kapitel der Benediktinerregel über den Gehorsam:
„Der erste Schritt zur Demut ist Gehorsam ohne Zögern. Er ist die Haltung derer, denen die Liebe zu Christus über alles geht. Wegen des heiligen Dienstes, den sie gelobt haben, oder aus Furcht vor der Hölle und wegen der Herrlichkeit des ewigen Lebens darf es für sie nach einem Befehl des Oberen kein Zögern geben, sondern sie erfüllen den Auftrag sofort, als käme er von dem Gott. Von ihnen sagt der Herr: „Aufs erste Hören hin gehorcht er mir.“ Und ebenso sagt er den Lehrern: „Wer euch hört, hört mich.“ Daher verlassen Mönche sofort, was ihnen gerade wichtig ist, und geben den Eigenwillen auf.“[8]
Im monastischen Kontext wird der Gehorsam letztlich aus der Wortbindung und damit aus dem Annahmeanspruch Christi herausgenommen und in eine verdienstliche Tugend der willentlichen Unterordnung umgeformt, die sich nicht zuletzt am antiken Militärwesen orientiert.[9] Solch monastische Militanz bildet denn auch die Grundlage für Ignatius von Loyolas „Kadavergehorsam“:
„Wir bedenken, daß alle, die unter dem Gehorsam leben, sich von der göttlichen Vorsehung durch den Obern so tragen und lenken lassen müssen, als wären sie ein Leichnam, der sich nach überallhin versetzen und in jeder Weise behandeln läßt, oder als wären sie ein Greisenstab, der in der Hand dessen, der ihn führt und sich seiner bedienen will, überall und zu jeder gewünschten Sache dient.“[10]
Autorität der Hingabe
So sehr die kulturellen Leistungen, die aus dem monastischen Befehlsgehorsam resultierten – die Jesuitenmission in Asien eingeschlossen – beindrucken, es ist dieser Befehlsgehorsam, der in der Vergangenheit vor allem in der Westkirche den Anspruchsgehorsam gegenüber Christus entstellt und damit diskreditiert hat. Allzu leicht kann man sich in der eigenen Gehorsamsverweigerung auf persönliche Freiheitsrechte berufen und damit das Verständnis anderer finden.
In der Tat kann es keinen christlichen Gehorsam an sich gegenüber Amtspersonen in der Kirche geben, sondern nur ein Gehorchen gegenüber dem von ihnen bezeugten Wort Christi.[11] Wo jedoch im Namen einer „protestantischen Freiheit“ der Gehorsam gegenüber dem göttlichen verbum externum grundsätzlich in Abrede gestellt ist, tritt die selbstbestimmte Subjektivität ein, die der Begriffsetymologie zufolge nichts anderes als eine selbstbezügliche Unterwürfigkeit (subiectum) ist. Wer Christus nicht gehorcht, der doch das eigene Leben in Knechtsgestalt angenommen hat, realisiert damit nicht etwa Freiheit, sondern bleibt in seiner Subjektivität sich selbst unterworfen. Er zeigt sich als ein Mensch, der nach Luther „so in sich selbst verkrümmt [ist], dass er nicht nur die leiblichen, sondern auch die geistlichen Güter auf sich selbst hinbiegt und in allem sich selber sucht.“[12] Solchermaßen von sich selbst eingenommen, verbleibt man in der autistischen „Knechtschaft der Vergänglichkeit“, die der „herrlichen Freiheit der Kinder des Gottes“ diametral entgegensteht (Röm 8,21).
Freiheit der Kinder Gottes
Eine als Selbstbezüglichkeit bzw. Unabhängigkeit gedachte Freiheit[13] ist keine wirkliche Freiheit, sondern die unbewusste Affirmation der eigenen Vergänglichkeit, die in absoluter Namenlosigkeit endet, so wie es der Psalmist zur Sprache zu bringen weiß: „Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind.“ (Ps 88,6). Die Freiheit der Kinder des Gottes hingegen ist eine in der göttlichen Anerkennung des eigenen Namens empfangene Freiheit propter Christum (vgl. Jes 43,1; Joh 8,31-36), die den Menschen eben nicht in die letztendlich tödliche „Selbständigkeit“ entlässt.
Da das ewige Leben als Neuschöpfung nicht in der eigenen Selbständigkeit, sondern allein in Christus zu finden ist (vgl. 2Kor 5,17; Röm 6,23), kann man dem Gehorsamsanspruch des Evangeliums nicht entgehen. Damit jedoch solch evangelischer Gehorsam nicht als Befehlsgehorsam missverstanden wird – wie etwa als einer der „evangelischen Räte“ im Hinblick auf einen status perfectionis –, darf das Evangelium anderen Menschen nicht auferlegt werden, sondern ist ihnen vielmehr anzudienen.
Anmerkungen
[1] Nachfolge, München 111976, 35.
[2] Es sind hingegen Luthers Übersetzung bzw. die King James Version, wo schāma‘ bzw. akoúō je nach Kontext in nicht immer stringenter Weise entweder mit „hören“ (to hear) oder aber „gehorchen“ (to obey) übersetzt werden.
[3] Konsequenterweise gibt es auch innerhalb tribaler Gesellschaft, die auf rollenbestimmten Verwandtschaftsbeziehungen beruht, keine Befehle, wohl aber Gehorsam. Wenn Max Weber im Rahmen einer Soziologie der Herrschaft den Gehorsamsbegriff aufnimmt, versteht er ihn ausschließlich als Befehlsgehorsam. Vgl. Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, 28, 122f., 541-545.
[4] De Incarnatione 54 (PG 25,192 B). Ähnlich bereits Irenäus von Lyon, Adversus haereses III,19,1.
[5] In den Kirchen der anabaptistischen Tradition wie den Mennoniten hat der „Bann“ bzw. die „Meidung“ (shunning) – wie in Artikel 2 des Schleitheimer Bekenntnisses (1527) festgesetzt – eine fundamentale Bedeutung für die kirchliche Identitätswahrung. Vgl. T. Miller, Shunning, in: W.C. Roof (Hg.), Contemporary American Religion 2, New York 1999, 676-677.
[6] Maßgeblich hierzu De caelesti hierarchia bzw. De ecclesiastica hierarchia. Vgl. dazu W.-M. Stock, Theurgisches Denken. Zur Kirchlichen Hierarchie des Dionysius Areopagita, Berlin u.a. 2008, 76-86.
[7] Vgl. dazu S. Barret/G. Melville (Hg.), Oboedientia. Zu Formen und Grenzen von Macht und Unterordnung im mittelalterlichen Religiosentum, Münster u.a. 2005.
[8] Zitiert nach: Die Benediktusregel (lateinisch/deutsch), hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 1992, 95. Siehe dazu T.K. Fischedick, Das Gehorsamsverständnis der Regula Benedicti. Der Gehorsam als Grundlage für ein exemplarisch christliches Gemeinschaftsleben, St. Ottilien 1993.
[9] Vgl. Regula Benedicti, prol. 3 u. 40; cap. 1,2. Es wäre freilich grundverkehrt, den Befehlsgehorsam im Zentrum des gegenwärtigen benediktinischen Mönchtums zu sehen. Da es in der monastischen Lebensform eben nicht um einen heilsrelevanten status perfectionis geht, gibt es keine höhere Sache, die eine monastische Militanz erfordert. Man wird umgekehrt sagen können, dass es gerade das benediktinische Mönchtum ist, das mit seiner besonderen liturgischen Regelbindung der evangelischen Freiheit Raum zu geben weiß.
[10] Die Satzungen der Gesellschaft Jesu (1559), übers. v. M. Schoenenberger und R. Stalder, in: H.U. von Balthasar (Hg.), Die großen Ordensregeln, Leipzig 21981, 413-518, 477f. Im Übrigen ist anzumerken, dass das Bild des „Kadavergehorsams“ auf Franz von Assisi zurückgeht, wenn dieser einem seiner Brüder den „vollkommenen und höchsten Gehorsam“ mit folgenden Worten erklärt: „Nimm einen entseelten Leib und lege ihn hin, wohin Du magst: Du wirst sehen, dass er mit keiner Bewegung widerstrebt, seine Lage nicht ändert und sich nicht beschwert, wenn Du ihn liegen lässest […]. Das ist der wahrhaftige Gehorsam, der nicht urteilt, weshalb man ihn bewege.“ (Speculum Perfectionis seu S. Francisci Assisiensis legenda antiquissima, hg. v. P. Sabatier, Paris 1899, pars IV, cap. 48, S. 83f.)
[11] Vgl. CA 28,20-28 (BSLK 123,22-125,2) bzw. Apol 28,17-21 (BSLK 401,18-402,38). Für eine evangelische Amtstheologie, die das ministerium ecclesiasticum zu Recht vom Vorgang der Verkündigung her versteht, siehe F. Mildenberger, Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften, Stuttgart u.a. 1983, 103-106.
[12] WA 56, 356,5f. (zu Röm 8,3): „hominem […] incurvatum in se adeo, ut non tantum corporalia, sed et spiritualia bona sibi inflectat et se in omnibus quaerat.” Ähnlich WA 56, 258,27f. (zu Röm 3,21) bzw. 304,25-305,6 (zu Röm 5,4). Vgl. O. Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 32007, 164-166.
[13] Ein solches Freiheitsverständnis hat seinen Ursprung in der griechischen Idee der autarkeia (Selbständigkeit), die nach Aristoteles ein Merkmal der Eudämonie ist. Siehe Ders., Nikomachische Ethik I,5 (1097b 1ff.); bzw. X,7 (1177b 16-25).