Christoph Schlingensief ist am 21. August 2010 verstorben. Requiescat in pace (R.I.P.). In Vorahnung seines Todes und eingedenk seines „Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ habe ich seinerzeit folgende Aschermittwochspredigt verfasst:
Eine ungehaltene Aschermittwochspredigt vom 17. Februar 2010
Schlingensief stirbt. Das ist weder eine geschmacklose Todesprophetie noch ein Vorruf zum Nachruf, sondern die ganz natürliche Wahrheit bei irgendeinem Nachnamen benannt. Egal ob man aus voller Brust tönen kann oder aber mit halber Lunge keuchen muss, hier auf Erden zieht sich die Todesschlinge über dem Leben zu. Am Ende fehlt einem schlicht der Atem. „Es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben alle einen Odem, und der Mensch hat nichts voraus vor dem Vieh; denn es ist alles eitel. Es fährt alles an einen Ort. Es ist alles aus Staub geworden und wird wieder zu Staub“ (Prediger 3,19f) sagt uns der Prediger unverblümt zu. An Aschermittwoch bieten nun bußfertige Todesungläubige dem dreifachen Erdwurf – Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub – die blanke Stirn, um selbst kreuzesförmig angeschwärzt zu werden. Dass Sterben weder sakrosankt noch ungehörig ist wird damit offensichtlich anerkannt.
Wenn es an das eigene Sterben geht, gibt es kein Recht auf Leben. Lebens- und Menschenrechte sind Abwehrrechte gegen fremdhändige Zufügungen. Lungenkarzinome müssen sich daran nicht halten. „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub.“ (Psalm 22,15f) Gegen das eigene Todesverhängnis kann man sich selbst nur mit narzisstischen Lebenszappeleien aufführen, für die es ja in den biblischen Psalmen sprachgewaltige Zeugnisse gibt. Man mag zu Leb-, oder besser, zu Stöhnzeiten mit einem authentizitätsüberschüssigen Passionsspiel andächtige Betroffenheit oder gar den Applaus seiner Mitmenschen finden. Aber selbstgestrickte Messliturgien, bei denen es auf dem Altar nicht um das corpus Christi, sondern um die eigene, morbide Seelenschau geht, enden auf Dauer im anamnetischen Leerlauf. Irgendwann hat es sich einfach ausgezappelt. Der Vorhang fällt, und für das Publikum heißt das unweigerlich: Ite, missa est, was in diesem Falle schlicht und einfach bedeutet: „Nichts geht mehr.“
Das will ja wohl jeder – sich an den flammenschwertbewaffneten Cherubim vorbeimogeln, um im Garten Eden doch noch vom Baum der Erkenntnis zu naschen. Das Lockvogelangebot gilt auch nach dem Winterschlussverkauf: Eritis sicut deus scientes bonum et malum (ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist). Wo jedoch das Projekt der eigenen Schicksalsregie bereits an einem klumpigen Karzinom kläglich scheitert, wird ein anonymer Allerweltsgott zwecks Privataudienz angegangen. Dieser zeigt sich freilich einem solchen Ansinnen gegenüber nicht erkenntlich, wie dies ja schon der unbeugsame Hiob einsehen musste: „Ach dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seinem Thron kommen könnte! Aber gehe ich nun vorwärts, so ist er nicht da; gehe ich zurück, so spüre ich ihn nicht. Ist er zur Linken, so schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich zur Rechten, so sehe ich ihn nicht.“ (Hiob 23,3.8-9) Alles, was dem spätmodernen Schmerzensmann noch verbleibt, ist der Gang ins Labyrinth eines Großklinikums, auf die Suche nach dem heiligen Gral: Ewiges Leben rein tanken, weil’s so schön war und gefälligst auf immer und ewig zu bleiben hat.
Bürgerliche Schmerzensreligion, die zur Aufrechterhaltung der eigenen Autonomie auf göttliche Lebenskraft aus ist, scheitert an sich selbst. Schließlich ist es gerade die angestrebte Selbständigkeit, die in ihrer Beziehungslosigkeit für das Individuum letztlich tödlich ist. Nachdem man sich ungewollt für den Erhalt des postlapsarischen homo sapiens verausgabt hat, gesellt sich einem im Endspiel der Evolution unweigerlich der Gevatter Tod zu. Von daher haben Christen dem orthodoxen Theologen John Meyendorff Recht zu geben, wenn er schreibt: „Da Gott »allein Unsterblichkeit hat«, lebt der Mensch nur dadurch, dass er Anteil hat am Leben Gottes, es sei denn, er entscheidet sich für Autonomie und Autarkie. Eine solche Entscheidung – vorgestellt in der biblischen Geschichte vom Sündenfall Adams und Evas – bedeutet Verfall und Tod, denn der Mensch besitzt sein Leben nicht selbst.“
Das wirkliche Drama um Leben und Tod ist nicht irgendein bestuhltes Autonomiespektakel, sondern vielmehr ein „Theodrama“ (Hans Urs von Balthasar) ohne Orchestergraben. Es sind die vermeintlichen Zuschauer, die den Chorgesang der Davongekommenen anstimmen: „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,4f) Wer selbst mit Leib und Seele vom Pascha-Mysterium Christi eingenommen ist, für den ist die Todesschlinge zerrissen – laqueus contritus est et nos liberati sumus (Psalm 124,7). Die solchermaßen Freigelassenen kriechen niemanden zu Kreuze. Dass nun dieses Drama in der Gegenwart bedauerlicherweise immer weniger Chorsänger findet, verdankt sich der bürgerlichen Religion. Religion, die mit den „Phantasiegebilden des menschlichen Herzens“ (Genesis 8,21) die ureigenen Lebenssehnsüchte bedient, verweigert sich einer dramatischen Überwältigung. Mit religiöser Fetzensprache anstelle von Katechismus-Classics sucht man dem Pascha-Mysterium zu entgehen.
Christoph – was für ein Name für einen Sterbenden, birgt er doch eine wunderliche Verheißung. Ein ruheloser Riese auf der Suche nach seinem Meister wird zum Christusträger (griechisch Christophoros). Wo die Last der Welt ihn im Todesfluss der Zeit untergehen lässt, sitzt ihm sein Retter im Genick. Was Christus selbst angenommen hat, kann für den, der ihn trägt, nicht lebensvernichtend sein.
Die Alternative heißt daher: Schlinge oder Kreuz – vom autonomen Leben zum ganz eigenen Tod oder aber von der Taufe in den Kreuzestod zum Leben in Christus. Wie es der Apostel Paulus den Geliebten Gottes zusagt: „Keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“ (Römer 14,7-9). Amen.
Mich regte der Name des Verstorbenen zu diesem nicht ganz so bibelorientierten, aber dennoch beziehungsreichen Vierzeiler an:
TOTENKLAGE
Flinker Dieb, Fingersieb
Schlimmer Tritt, Schimmelritt
Schlingel rief Schlingensief