Lera Boroditsky, Wie prägt die Sprache unser Denken?: „Die Sprachen, die wir sprechen, haben tiefgreifende Auswirkungen auf unser Denken, unsere Weltsicht und unsere Lebensführung.“

Um eine Ontologie ausformulieren zu können, bedarf es einer Grammatik mit flektierbaren Wortarten, die in vielen Sprachen wie der chinesischen jedoch nicht gegeben ist. Insofern verdankt sich die Metaphysik ganz wesentlich der indogermanischen Sprachherkunft. Zur empirischen Neubegründung der Sapir-Whorf-Hypothese einer linguistischen Relativität ist von der Kognitionswissenschaftlerin Lera Boroditsky der folgende Artikel in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Der englischsprachige Originaltext „How Does Our Language Shape the Way We Think“ findet sich hier.

Wie prägt die Sprache unser Denken?

Von Lera Boroditsky

Der Streit um die Frage ist alt, doch nur selten wurde sie bei den Menschen selbst untersucht ein Forschungsbericht

Die Vorstellung, Sprache könne das Denken prägen, galt lange als nicht überprüfbar und noch häufiger einfach als falsch. Philosophen, Anthropologen, Linguisten und Psychologen haben sich mit dem Thema beschäftigt. Doch obwohl sie viel Beachtung fanden, wurden solche Fragen bis vor sehr kurzer Zeit kaum empirisch untersucht. Die wissenschaftlichen Arbeiten meines Instituts an der Stanford University und am Massachusetts Institute of Technology haben sich jedoch genau diese Frage wieder gestellt.

Wir sammelten Daten aus China, Griechenland, Chile, Indonesien, Russland und dem Austra­lien der Aborigines. Wie wir dabei gelernt haben, denken Menschen, die verschiedene Spra­chen sprechen, tatsächlich unterschiedlich, und Besonderheiten der Grammatik haben manch­mal weitreichenden Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen.

Die Untersuchung der Frage, ob und wie Sprache das Denken prägt, beginnt meist mit dieser einfachen Beobachtung. Betrachten wir einmal ein sehr hypothetisches Beispiel. Angenom­men, Sie wollen sagen: „Bush read Chomsky’s latest book.” („Bush hat Chomskys neues Buch gelesen.”) Wir konzentrieren uns nur auf das Verb „read”. Um diesen Satz auf Englisch zu sagen, müssen wir das Tempus des Verbs kennzeichnen. Dazu sprechen wir es nicht wie „reed” aus, sondern wie „red”. Im Indonesischen muss man das Verb nicht verändern, um das Tempus zu kennzeichnen, es ist gar nicht möglich.

Im Russischen verändert man das Verb, um Tempus und Geschlecht anzuzeigen. Wenn also Laura Bush das Buch gelesen hat, bedienen wir uns einer anderen Verbform als wenn George der Leser war. Außerdem muss das Verb im Russischen auch Informationen über den Ab­schluss der Handlung enthalten: Wenn George das Buch nur zum Teil gelesen hat, benutzt man eine andere Verbform, als wenn er sorgfältig das ganze Werk durchgeackert hat. Im Türkischen muss man mit dem Verb auch sagen, woher man die Information hat: Wenn wir das unwahrscheinliche Ereignis mit eigenen Augen gesehen haben, verwenden wir die eine Verbform, haben wir dagegen nur davon gehört, darüber gelesen, oder es aus einer Bemer­kung von Bush geschlossen, benutzen wir eine andere.

Offensichtlich stellen Sprachen an ihre Sprecher also unterschiedliche Anforderungen. Die Argumentationen um die Frage, ob Sprache die Gedanken prägt, drehen sich jedoch schon seit Jahrhunderten im Kreis: Die einen sind der Ansicht, Sprache könne unmöglich das Denken gestalten, nach Meinung der anderen ist es unmöglich, dass Sprache sich nicht auf das Denken auswirkt. In jüngerer Zeit haben meine Arbeitsgruppe und andere neue Methoden entwickelt, mit denen man einige entscheidende Fragen aus dieser uralten Debatte empirisch untersuchen kann.

Beginnen wir in Pormpuraaw, einer kleinen Aborigines-Gemeinde in Nordaustralien. Dass ich dorthin kam, lag an der Art, wie die Einheimischen, die Kuuk Thaayorre, über räumliche Ver­hältnisse sprechen. Anstelle von Wörtern wie „links”, „rechts”, „vorwärts” oder „rückwärts”, die im Englischen und vielen anderen Sprachen die räumlichen Verhältnisse im Verhältnis zum Beobachter definieren, benutzen die Kuuk Thaayorre und andere Gruppen der Aborigi­nes zur Definition des Raumes allgemeine Richtungsbegriffe wie nördlich, südlich, östlich und westlich. Dies tun sie im Zusammenhang mit allen Größenmaßstäben; man sagt also beispielsweise „da ist eine Ameise neben deinem nach Süden weisenden Bein” oder „schieb die Tasse ein wenig weiter nach Nordwesten”.

Ein solcher Sprachgebrauch setzt natürlich voraus, dass man ständig die Orientierung behält, sonst kann man nicht richtig sprechen. Die normale Begrüßung in der Sprache der Kuuk Thaayorre lautet „Wohin gehst du?”, und darauf erwidert man so etwas wie „nach Südsüd­osten, in die mittlere Entfernung”. Wenn man nicht weiß, in welche Richtung man blickt, kommt man über ein „Hallo” nicht hinaus.

Die Folge sind tiefgreifende Unterschiede in der Orientierungsfähigkeit und dem räumlichen Vorstellungsvermögen bei Sprechern von Sprachen, die sich vorwiegend eines absoluten Bezugsrahmens bedienen (wie die Thuuk Thaayorre), und solchen, die (wie im Englischen) einen relativen Bezugsrahmen benutzen. Einfach gesagt, können Sprecher von Sprachen wie Kuuk Thaayorre viel besser als Sprecher des Englischen die Orientierung behalten und selbst in unbekanntem Gelände oder in unbekannten Gebäuden nachverfolgen, wo sie sich gerade befinden. Was sie dazu in die Lage versetzt – und sogar zwingt –, ist ihre Sprache. Wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf diese Weise geschärft haben, bringen sie die Voraussetzungen für Orientierungsleistungen mit, die man Menschen früher überhaupt nicht zutraute.

Da der Raum ein so grundlegender Bereich unseres Denkens ist, sind die Unterschiede im räumlichen Denken damit noch nicht zu Ende. Auf der Grundlage ihrer Kenntnisse über den Raum bauen die Menschen andere, komplexere und abstraktere Repräsentationen auf – Repräsentationen von Zeit, Zahlen, musikalischen Tonhöhen, Verwandtschaftsbeziehungen, Ethik und Gefühlen; sie alle hängen nachgewiesenermaßen von unseren räumlichen Vorstellungen ab. Wenn die Kuuk Thaayore also anders räumlich denken, denken sie dann auch anders über Dinge wie die Zeit?

Wir konfrontierten Versuchspersonen mit Bildern, die irgendeinen zeitlichen Ablauf zeigten, beispielsweise einen alternden Mann, ein wachsendes Krokodil oder eine Banane, die geges­sen wird. Die Versuchspersonen sollten die bunt gemischten Bilder auf dem Boden so neben­einander legen, dass sie die richtige zeitliche Reihenfolge wiedergaben. Jede Versuchsperson machte zwei Sitzungen mit, wobei sie jedes Mal in eine andere Himmelsrichtung blickte. Sprecher des Englischen ordnen die Bilder in einem solchen Versuch so an, dass die Zeit von links nach rechts verläuft. Hebräische Muttersprachler reihen die Karten häufig von rechts nach links auf, womit gezeigt ist, dass die Schreibrichtung einer Sprache von Bedeutung ist.

Die Kuuk Thaayorre ordneten die Karten gleich häufig von links nach rechts, von rechts nach links, zum eigenen Körper hin und vom eigenen Körper weg an. Dennoch war die Anordnung nicht vom Zufall bestimmt. Statt von links nach rechts ordneten sie die Karten von Osten nach Westen an. Mit anderen Worten: Wenn sie mit dem Gesicht nach Süden saßen, lief die Kar­tenreihe von links nach rechts, saßen sie mit dem Gesicht nach Norden, wurden die Karten von rechts nach links angeordnet. Saßen sie mit dem Blick nach Osten, lief die Kartenreihe auf den eigenen Körper zu, und so weiter. Das Prinzip wurde auch dann beibehalten, wenn wir den Versuchspersonen nicht sagten, in welche Richtung sie blickten. Die Kuuk Thaayorre wussten das nicht nur von vornherein, sondern sie nutzten diese räumliche Orientierung auch, um ihre eigene Repräsentation der Zeit zu konstruieren.

Die Vorstellungen von der Zeit unterscheiden sich bei Sprechern verschiedener Sprachen auch in anderer Hinsicht. Im Englischen und Deutschen spricht man beispielsweise mit horizonta­len räumlichen Metaphern von der Zeit (zum Beispiel »das Beste liegt noch vor uns« oder »wir haben das Schlimmste hinter uns«); Sprecher des Mandarin bedienen sich dagegen für die Zeit einer vertikalen Metapher (der nächste Monat ist beispielsweise »der untere Monat«, der vergangene ist der »obere Monat«): Sprecher des Mandarin sprechen häufiger in verti­kalen Metaphern von der Zeit als Sprecher des Englischen; heißt das, dass die Zeit in ihren Gedanken eher vertikal verläuft? Dazu kann man sich ein einfaches Experiment vorstellen. Ich stehe neben einer Versuchsperson, zeige auf eine Stelle in der Luft unmittelbar vor mir und sage: „Dieser Punkt hier, das ist heute. Wo würdest du gestern anordnen? Und wo das Morgen?” Sprecher des Englischen zeigen daraufhin fast immer auf Punkte in einer horizon­talen Linie. Mandarin-Sprecher dagegen geben sieben- bis achtmal häufiger als Sprecher des Englischen eine vertikale Richtung an.

Selbst grundlegende Aspekte der Zeitwahrnehmung werden unter Umständen von der Sprache beeinflusst. Sprecher des Englischen und Deutschen sprechen von der Zeitdauer gern als von einer Länge (zum Beispiel „Das war ein kurzes Gespräch”, „Die Besprechung dauerte nicht lange”). Im Spanischen und Griechischen spricht man von der Zeit eher als von einer Menge und benutzt dazu häufiger Begriffe wie „viel”, „groß” und „klein” an Stelle von „kurz” oder „lang”.

Unsere Untersuchungen an solchen grundlegenden kognitiven Fähigkeiten wie der Abschät­zung von Zeiträumen zeigt, dass Sprecher verschiedener Sprachen sich tatsächlich so unter­scheiden, wie man es aufgrund der Metaphorik in ihrer Sprache vorhersagen würde. In einem Versuch, in dem die Zeitdauer abgeschätzt werden soll, lassen sich Sprecher des Englischen beispielsweise leichter durch Längeninformationen verwirren: Sie schätzen, dass eine längere Linie auch längere Zeit auf dem Bildschirm zu sehen war; Sprecher des Griechischen lassen sich eher durch Mengenangaben verwirren und schätzen, dass ein voller Behälter länger ge­zeigt wurde.

Haben solche Unterschiede ihre Ursache in der Sprache an sich oder in einem anderen Aspekt der Kultur? Natürlich unterscheidet sich die Lebensweise von Sprechern des Englischen, Mandarin, Griechischen, Spanischen und Kuuk Thaayorre in vielfacher Hinsicht. Woher wissen wir, dass die Unterschiede im Denken tatsächlich auf die Sprache selbst zurückzu­führen sind und nicht auf einen anderen Aspekt der jeweiligen Kultur? Um diese Frage zu beantworten, kann man den Menschen eine neue Redeweise beibringen und dann untersuchen, ob sich dadurch auch ihr Denken verändert. In unserem Institut lernten Sprecher des Engli­schen, auf unterschiedliche Weise über Zeit zu sprechen.

In einer Studie wurde ihnen beigebracht, Mengenmetaphern wie im Griechischen zur Be­schreibung von Zeiträumen zu benutzen (zum Beispiel „ein Film ist größer als ein Niesen”), oder sie sollten die Reihenfolge von Ereignissen wie im Mandarin mit einer vertikalen Meta­pher beschreiben. Nachdem die Sprecher des Englischen gelernt hatten, auf diese neue Art zu sprechen, ähnelte ihre Kognitionsleistung allmählich immer stärker der von Griechisch- oder Mandarin-Sprechern. Dies legt die Vermutung nahe, dass sprachliche Gesetzmäßigkeiten tatsächlich eine kausale Rolle für den Aufbau unserer Denkweise spielen können. In der Pra­xis bedeutet das: Wenn wir eine neue Sprache lernen, erlernen wir nicht nur eine neue Art zu sprechen, sondern wir machen uns unbemerkt auch eine neue Denkweise zu eigen.

Neben abstrakten oder komplexen Bereichen des Denkens wie Raum und Zeit wirken sich Sprachen auch auf grundlegende Aspekte der visuellen Wahrnehmung aus, beispielsweise auf unsere Fähigkeit, Farben zu unterscheiden. Verschiedene Sprachen nehmen im Kontinuum der Farben unterschiedliche Abgrenzungen vor: Manche unterscheiden mehr Farben als ande­re, und die Abgrenzungen stimmen von einer Sprache zur anderen häufig nicht überein.

Um festzustellen, ob Unterschiede in den Sprachbezeichnungen für Farben auch zu einer unter­schiedlichen Farbwahrnehmung führen, verglichen wir die Fähigkeit von Sprechern des Englischen und Russischen, verschiedene Blautöne zu unterscheiden. Im Russischen gibt es kein einzelnes Wort für alle Farben, die wir im Englischen als „Blau” bezeichnen würden. Das Russische unterscheidet zwischen Hellblau (goluboj) und Dunkelblau (sinij). Bedeutet diese Unterscheidung, dass zwischen sinij- und goluboj-Blautönen für Sprecher des Russi­schen ein größerer Unterschied besteht?

Den Befunden zufolge ist das der Fall. Zwischen zwei Blautönen, die in ihrer Sprache unter­schiedliche Namen haben (zum Beispiel sinij und goluboj), unterscheiden Sprecher des Rus­sischen schneller, als wenn beide in die gleiche Kategorie gehören. Sprecher des Englischen bezeichnen alle diese Farbtöne als blue, und vergleichbare Unterschiede in der Reaktionszeit lassen sich bei ihnen nicht nachweisen.

Selbst Aspekte der Sprache, die man als frivol bezeichnen könnte, können weitreichende unbewusste Auswirkungen auf unsere Weltsicht haben. Ein Beispiel ist das grammatikalische Geschlecht. Im Spanischen und anderen romanischen Sprachen sind alle Substantive entweder männlich oder weiblich. In vielen anderen Sprachen gliedern sich die Substantive in wesent­lich mehr Geschlechter (womit hier Klassen oder Typen gemeint sind). Manche Sprachen der australischen Ureinwohner kennen beispielsweise bis zu 16 Geschlechter, darunter Klassen von Waffen, Hunden, glänzenden Gegenständen – oder in einer berühmten Formulierung des Linguisten George Lakoff – »Frauen, Feuer und gefährliche Dinge«. Wenn es in einer Spra­che grammatikalische Geschlechter gibt, werden Wörter unterschiedlichen Geschlechts in der Grammatik unterschiedlich behandelt, während Begriffe mit dem gleichen Geschlecht auch die gleiche grammatikalische Funktion haben.

Die Sprache erfordert dann zum Beispiel, dass die Sprecher je nach dem Geschlecht eines Substantivs andere Pronomen, Adjektive, Verbindungen, Possessivpronomina, Zahlwörter und anderes verwenden. Um beispielsweise den Satz „mein Stuhl war alt” auf Russisch zu sagen (moj stul bil’ starilj), muss man jedes Wort des Satzes an „Stuhl” (stul) anpassen, das im Russischen männlich ist. Also verwendet man die männliche Form von „mein”, „war?” und „alt”. Geht es dagegen um ein Bett (krovat) – im Russischen ein weibliches Wort –, so benutzt man die weiblichen Formen von „mein”, „war” und „alt”.

Sehen Sprecher des Russischen, für die ein Stuhl männlich und ein Bett weiblich ist, diese Gegenstände in gewisser Weise so, als wären sie einem Mann beziehungsweise einer Frau ähnlicher? Wie sich herausstellte, ist das der Fall. In einer Studie sollten Sprecher des Deut­schen und Spanischen verschiedene Gegenstände beschreiben, deren grammatikalisches Geschlecht in den beiden Sprachen unterschiedlich ist. Diese Beschreibungen unterschieden sich so, wie man es aufgrund des grammatikalischen Geschlechts voraussagen würde. Zur Beschreibung einer Brücke, die im Deutschen weiblich und im Spanischen männlich ist, verwendeten die Sprecher des Deutschen Wörter wie „schön”, „elegant”, „zierlich”, „fried­lich”, „hübsch” und „schlank”, für Sprecher des Spanischen war sie eher „groß”, „gefährlich”, „lang”, „kräftig”, „solide” und „aufragend”.

Die gleiche Gesetzmäßigkeit zeigte sich auch bei völlig nichtsprachlichen Aufgaben (bei­spielsweise wenn die Ähnlichkeit zwischen zwei Bildern beurteilt werden sollte). Und wir können auch nachweisen, dass Aspekte der Sprache als solche das Denken der Menschen prägen: Wenn Sprecher des Englischen das Geschlechtersystem einer Fremdsprache erlernen, beeinflusst das ihre mentalen Repräsentationen von Gegenständen auf die gleiche Weise wie bei Sprechern des Deutschen oder Spanischen.

Um solche Auswirkungen der Sprache zu beobachten, braucht man sich noch nicht einmal ins Labor zu begeben; man sieht sie auch, wenn man mit offenen Augen durch ein Kunstmuseum geht. Man braucht sich nur einige berühmte Beispiele für künstlerische Personifizierung anzu­sehen, das heißt für die Darstellung abstrakter Begriffe wie Tod, Sünde, Sieg oder Zeit in menschlicher Gestalt. Wie entscheidet ein Künstler, ob er beispielsweise den Tod als Mann oder als Frau darstellt? Wie sich herausstellt, lässt sich bei 85 Prozent solcher Personifi­zie­rungen anhand des grammatikalischen Geschlechts der Begriffe in der Muttersprache des Künstlers voraussagen, ob eine männliche oder eine weibliche Gestalt gewählt wird. Deutsche Maler stellen zum Beispiel den Tod gern als Mann dar, russische Maler dagegen machen ihn eher zu einer Frau.

Dass selbst grammatikalische Besonderheiten wie das Geschlecht sich so stark auf unser Den­ken auswirken können, ist eine wichtige Erkenntnis. Solche Besonderheiten durchziehen die Sprache völlig; unter anderem haben alle Substantive ein grammatikalisches Geschlecht, das heißt, es wirkt sich auf alle Gedanken aus, deren Gegenstand sich mit einem Substantiv bezeichnen lässt. Das ist wahrhaftig eine Menge!

Ich habe hier dargelegt, wie die Sprache unsere Gedanken über Raum, Zeit, Farben und Ge­genstände prägt. In anderen Studien wurde untersucht, wie die Sprache sich auf verschiedene andere Vorgänge auswirkt, so auf unsere Interpretation von Ereignissen, auf unsere Gedanken über Kausalität, auf das Nachvollziehen von Zahlen, auf das Verständnis für materielle Sub­stanzen, auf die Wahrnehmung und Erfahrung von Gefühlen, auf das Nachdenken über den Geist anderer, auf die Risikobereitschaft, und sogar auf die Auswahl von Beruf und Ehepart­ner.

Insgesamt zeigen diese Forschungen, dass linguistische Prozesse für die meisten Bereiche unseres Denkens von grundlegender Bedeutung sind. Unbewusst prägen sie uns, von den Grundlagen der Kognition und Wahrnehmung bis zu unseren abgehobensten abstrakten Vor­stellungen und wichtigen Lebensentscheidungen. Sprache spielt eine zentrale Rolle dafür, dass wir uns selbst als Menschen erleben, und die Sprachen, die wir sprechen, haben tiefgrei­fende Auswirkungen auf unser Denken, unsere Weltsicht und unsere Lebensführung.

Übersetzung: Sebastian Vogel.

Lera Boroditsky ist Assistenzprofessorin für Psychologie, Neurowissenschaften und Symbol­systeme an der Stanford University. Der Text ist dem Band „Die Zukunftsmacher – Die Nobelpreisträger von morgen verraten, worüber sie forschen” entnommen, der von Max Brockman herausgegeben wurde (S. Fischer, Frankfurt, 2010. 272 Seiten, 19,95 Euro).

Süddeutsche Zeitung, Nr. 87, 16. April 2010, Seite 12.

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

  1. Eine beeindruckende Erarbeitung dieses Themas. Sehr spannend zu lesen und äußerst informativ-aufklärend. Die Thesen werden durch die beschriebenen Versuche gut bestätigt und erläutert. Danke für die Übersetzung und erstrecht das Verfassen dieses Textes auf englisch.

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