Wer sind wir eigentlich?

Gnostizismus

Da kennt man, Gäste beim Kirchenkaffee im Anschluss an den Gottesdienst können ihre ganz eigene Geschichte haben, mit der sie einen zu vereinnahmen suchen. Als ich heute in der Kowloon Union Church den einen schmalgesichtigen Gast wohl Anfang Fünfzig mit der amerikanischen Flagge am Revers bezüglich seiner Herkunft gefragt habe, gibt er sich als Jude zu erkennen. Das überrascht, wenn es um die Teilnahme an einem christlichen Gottesdienst geht. Habe ich ihm vielleicht gar das Abendmahl gegeben? Er fängt an, seine Erfahrungen aus seinem vorgestrigen Synagogenbesuch in Kowloon zu erzählen, wo sein kopfbedeckungsfreies Gebet auf wenig Gegenliebe bei seinen orthodoxen Brüdern gestoßen ist. Er verweist jedoch auf die innere Gebetshaltung, die entscheidend sei, unterscheidet zwischen Gesetzlichkeit und Gnade und beruft sich auf Paulus, der ja auch auf ein kopfbedeckungsfreies Gebet insistiert hat. Nachtigall, ich hör dich trapsen, also ein messianischer Jude. Er lehnt jedoch solch eine Bezeichnung für sich ab. O.k., einer der liberalen „Cross-Currents“-Religionisten jüdischen Ursprungs also, die von Äußerlichkeiten und Gesetzesobservanz nicht viel halten, aber da fängt er doch an in unerbittlicher Weise den Irak, Saddam, Iran und Russland der geplanten Zerstörung von Erez Israel zu bezichtigten. Das ist unser Land, sagt er (obwohl gebürtiger amerikanischer Staatsbürger), und Clinton und Rabin werden wegen dem Friedensvertrag von Oslo zu Verrätern an Gottes Gebot, hätten sie doch den Ausverkauf des Landes, dass er Israel exklusiv zugeeignet hatte, betrieben. Er zeigt sogar ein gewisses Verständnis für die Ermordung Rabins, betont jedoch, dass Rabin an Stelle von Clinton (der – obwohl er sich an der Jüdin Monika Lewinsky vergangen hatte – dennoch unter Gottes Gnadenschutz stand) getötet worden sei. September 11 war das Werk des CIA, 3000 Juden seien dank Gottes Willen jedoch rechtzeitig gerettet worden. Wo sind wir nun eigentlich?

Als nächstes leitet Gog (mit Russland identifiziert, das Persien in seiner atomaren Vernichtungspolitik gegen Israel unterstützt) aus dem Buch Ezekiel (38,3-7) in eine apokalyptische Weltsicht über, wo Satan als gefallener Engel auf Erde sein Unwesen gegen die Juden treibt, bis Gott schlußendlich dem satanischen Unwesen ein Ende setzen wird und einen neuen Himmel und eine neue Erde aufrichten wird. Zwischendurch erwähnt er seine zweiundzwanzig Jahre währende Existenz als Missionar und verweist auf seine eigene Christustaufe (Immersion natürlich), die von der Geisttaufe ergänzt worden ist. Die eigene Drogenvergangenheit darf da auch nicht fehlen. Charismatiker also? Weit gefehlt, eine gnostische Weltsicht mit Leib- und Seelendualismus lässt ihn sich selbst als spirituelles Engelwesen erklären; er bezeichnet demzufolge den menschlichen Körper als austauschbaren „body suit“ und erklärt die materiale Welt zum Übungsfeld der Unterscheidung zwischen Gut und Böse.

Kreuz-Gnosis

Unsere Elevation in den Himmel folgt der Himmelfahrt Christi. Dann gnostische Schriftallegorese vom Feinsten: Der paradiesische „Baum der Erkenntnis“ wird auf Christus hin allegorisiert wird und in Verbindung mit Jesu Blindenheilung in Markus 8,22-25 gebracht. Es ist der Christus-Geist in ihm, der ihm im Umgang mit anderen Menschen aufzeigt, ob der andere Mensch auf der Seite des Guten ist. Ohne Jesu Geist sieht man Menschen nur der Gestalt nach wie die umhergehenden Bäume.

Die neueste, implantierbare Chip-Technologie, die eine elektronische Identifikation von Menschen über Satelliten im Weltall ermöglicht, darf als gnostico-apokalyptisches up-date auch nicht fehlen, bevor er dann am Kirchenportal sich über die schöpfungsfeindlichen Betonhochhäuser und die Abgasverschmutzung auslässt, um anschließend im Thoreauschen Sinne das ursprüngliche Leben in der Natur zu predigen. Nach einstündigem Lehrstakkato frage ich ihn nach seinem Namen, Aaron. Als es dann zum Abschied kommt, stehen ihm fast die Tränen in den Augen, er versichert mir trotz aller Unterschiede unsere Gemeinschaft in Christus, so umarmen wir uns also. Wer solch eine Geschichte und solch eine Mission hat, die nicht wirklich mitgeteilt werden kann, bezahlt mit bitterster Einsamkeit.

Nein, Aaron ist nicht schizophren, hat keine multiple Identität, erzählt er doch die hochgradig komplexe Geschichte in einer kohärenten Weise. Ich habe etwas über die Imaginationsfähigkeit eines Judentums gelernt, das ohne Thoraobservanz und ohne christliche regula fidei Gnostizismus, Apokalyptik, paulinische Rechtfertigungslehre zu umgreifen weiss.

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