Walter Brueggemann, Kommentar zu Jesaja 61,1-11: „Die Gemeinschaft soll erfüllt werden von Gerechtigkeit und Lob. Wie ein Garten wird sie aufblühen — gerechte, lebensfördernde Beziehungen, die in Doxologie münden. Diese Vision ruft das Judentum aus der Verzweiflung. Die Hoffnung ist in JHWH verwurzelt, betrifft aber eine erneuerte, sichtbare Gemeinschaft. Die Nationen, die JHWHs Irrelevanz vermuteten, werden das ’stattdessen‘ Gottes sehen. Die österliche Freude der Kirche mag Parallelen haben — doch der Text gehört zuerst der jüdischen Hoffnung: Der ewige Bund nimmt konkrete Gestalt in einer neu konstituierten Gemeinschaft an.“

„Ich will einen ewigen Bund schließen.“ Kommentar zu Jesaja 61,1-11

Von Walter Brueggemann

Diese poetische Einheit setzt die Grundakzente von Kapitel 60 fort: die bevorstehende Umkehr des Schicksals Jerusalems, der kommende Überfluss und Wohlstand Jerusalems sowie die entsprechende Unterordnung der Nationen. Dieses Gedicht enthält jedoch ein Element, das sich deutlich von Kapitel 60 unterscheidet, nämlich die Wichtigkeit eines menschlichen Akteurs (vermutlich des sprechenden Dichters), der die Absicht JHWHs übernimmt und ausführt. Dieser Sprecher in der Ich-Form kommt in den Versen 1–7 und 10–11 zu Wort. In der Mitte des Kapitels hingegen steht ein Orakel, in dem JHWH selbst in der Ich-Form spricht (Vv. 8–9). Der Wechsel der Sprecher (Mensch – JHWH – Mensch) zeigt, wie eng JHWHs Entschluss und menschliche Berufung miteinander verbunden sind.

61,1 Der Geist des Herrn HERRN ist auf mir,
denn der HERR hat mich gesalbt;
er hat mich gesandt, den Bedrückten gute Botschaft zu bringen,
die Zerbrochenen zu verbinden,
den Gefangenen Freiheit zu verkünden
und den Gebundenen Öffnung der Haft;

2 zu verkünden ein Gnadenjahr des HERRN
und einen Tag der Vergeltung unseres Gottes;
alle Trauernden zu trösten;

3 den Trauernden Zions zu verleihen —
statt Asche einen Kopfschmuck,
statt Traueröl der Freude,
statt eines verzagten Geistes ein Gewand des Ruhms.
Man wird sie nennen „Eichen der Gerechtigkeit“,
eine Pflanzung des HERRN,
dass er sich verherrliche.

4 Sie werden die uralten Trümmer aufbauen,
die früheren Verwüstungen wieder aufrichten;
sie werden die zerstörten Städte erneuern,
die Verwüstungen vieler Generationen.

Hier spricht ein menschlicher Akteur, der bevollmächtigt und mit Kraft erfüllt ist, JHWHs tiefgreifende Verwandlungsarbeit in der Gemeinschaft des Volkes Gottes zu tun. Wir kennen die Identität des Sprechers nicht; man darf annehmen, dass es sich um eine dichterische Gestalt handelt, die eine enorme theologische Autorität ausübt — genug, um die Situation der entstehenden jüdischen Gemeinschaft entscheidend zu verändern. Der Initiator dieser menschlichen Berufung ist JHWH: JHWH bewegt, ruft und bevollmächtigt, was folgen soll. Zwei Bilder beschreiben diese Autorisierung:
(1) JHWHs Geist — JHWHs Kraft, die radikale Neuheit zu schaffen vermag; derselbe Geist, der die Macht des Chaos zurückdrängte (Gen 1,2) und die Wasser des Exodus teilte (Ex 14,21), weht nun auf diesen Menschen (vgl. 42,1).
(2) JHWHs Salbung bezeichnet den menschlichen Akteur dramatisch und sakramental durch eine öffentliche Geste der Autorisierung. Es könnte sein, dass diese „Geist-Salbung“ ein konkreter liturgischer Akt in der Gemeinde ist — oder lediglich eine metaphorische Behauptung von Autorität. So oder so ruft die Verbindung von „Geist“ und „Salbung“ in Israel unweigerlich die alte Erzählung von der Beauftragung Davids wach: „Da nahm Samuel das Horn mit Öl und salbte ihn mitten unter seinen Brüdern; und der Geist des HERRN kam über David von diesem Tag an“ (1 Sam 16,13; vgl. 2 Sam 23,1–2). Wie David eine gewaltige Neuheit in Israel war, so soll nun dieser Sprecher eine tiefe gesellschaftliche Neuordnung bewirken.

Auf diese Autorisierung folgt in den Versen 1b–4 eine dreifache rhetorische Bewegung. Zuerst steht eine Reihe von Infinitiven, die aufzählt, was dieser bevollmächtigte Mensch tun wird: „zu bringen, zu verbinden, zu verkünden, freizusetzen, zu verkünden, zu trösten, zu verleihen, zu geben“ (Vv. 1b–3). All diese Handlungen sind machtvolle Dienste an Schwachen, Machtlosen und Marginalisierten, um sie zur vollen Teilhabe an einer Gemeinschaft des Wohlergehens und der Freude wiederherzustellen. Zwei Besonderheiten fallen auf:

Erstens ist das Leitverb „gute Botschaft bringen“ das Verb zu „Evangelium“, wie bereits in 40,9; 41,27 und 52,7. Es ist eine dramatische Ankündigung von JHWHs neu gewonnener Macht, die eine Reorganisation des öffentlichen Lebens nach JHWHs Willen verheißt. Dies ist „Evangelisation“ mit konkreter, öffentlicher Wirkung. Der Gesalbte soll die Welt des Judentums „evangelisieren“. Zweitens kulminiert die Reihe der Verben in der doppelten Formel „Gnadenjahr des HERRN … Tag der Vergeltung“. Allgemein nimmt man an, dass hier auf die Praxis des Jobeljahres in Lev 25 angespielt wird, in dem verlorenes Eigentum zurückgegeben wird, um eine stabile Gemeinschaft zu ermöglichen. So wird die Reihe der Verben als Ankündigung des Jubeljahres verstanden.

Im Kontext des entstehenden Judentums mag es um die Wiederherstellung von Land, Sicherheit, Stabilität und Wohlergehen für die gesamte Gemeinschaft gehen — oder, denkt man an die wirtschaftliche Situation in Neh 5, um eine Neuordnung der internen Ökonomie. So oder so: Die Verkündigung des Jubeljahres ist gute, jahwistische Nachricht von der Heilung eines Lebens, das verarmt, machtlos und verzweifelt war.

Diese Verse sind besonders interessant, weil Jesus sie nach Lk 4,18–19 als Programm seines Wirkens zitiert. Dort erzeugt die Radikalität dieser Verkündigung solchen Widerstand, dass man ihn töten will (Vv. 29–30). Unzweifelhaft ist eine Vision des Jubeljahres — tiefe Hoffnung für Benachteiligte — erschütternd für jene, die vom Status quo profitieren. Sharon Ringe hat gezeigt, dass diese Ankündigung ein Schlüssel für Jesu gesamtes Wirken ist: eine radikale Neuordnung menschlicher Gemeinschaft.

Unsere Verse stehen also zwischen Lev 25 (Torah-Vision des Jubeljahres) und Lk 4,18–19, wo die Vision in Jesu Dienst aufgenommen wird. Doch Jes 61,1–4 ist nicht direkt eine Vorwegnahme Jesu; es geht um die konkreten Nöte einer bedrängten Gemeinschaft und um eine transformative Antwort aus JHWHs Entschluss. Die Verkündigung wird zum Prüfstein dafür, wie das Alte Testament theologische Vision und konkrete wirtschaftliche Praxis zusammenhält.

Das zweite rhetorische Mittel ist eine dreifache Reihe von „stattdessen“ in Vers 3 — wie negativ in 3,24 und positiv in 60,17. Diese kurzen Gegensätze zeigen eine radikale Verwandlung: „Kopfschmuck … statt Asche; Freude … statt Trauer; Ruhm … statt verzagtem Geist.“ Es ist der Übergang von Trauer zu Jubel, von Verschuldung zu Würde und Lebensfähigkeit. In christlicher Auslegung erhält dies die Form von Kreuz und Auferstehung: „Euer Schmerz wird zur Freude werden“ (Joh 16,20).

Das dritte Element ist eine Reihe von „sie“ in 3b–4. „Sie“ — die vom Evangelium des Jubeljahres Angesprochenen — werden gestärkt, fähig, entschlossen. Sie werden „Eichen“, ein Bild für Stärke und Beständigkeit, in Beziehung zu 1,30, wo Zion als verwelkte Eiche erscheint. Nun ist radikale Wiederherstellung angesagt: eine erneuerte Stadt, ein lebensfähiges Gemeinwesen — Erlösung des öffentlichen Lebens. Vielleicht bleibt die tatsächliche Stadt von Esra und Nehemia bescheidener, doch die Vision ruft zu größerer Praxis auf.

61,5 Fremde werden eure Herden weiden,
Ausländer euren Acker bestellen und eure Weingärten pflegen;

6 ihr aber sollt „Priester des HERRN“ heißen,
„Diener unseres Gottes“ wird man euch nennen;
ihr werdet den Reichtum der Nationen genießen
und euch in ihrer Pracht rühmen.

7 Weil ihre Schmach doppelt war
und Schande ihr Anteil genannt wurde,
werden sie ein doppeltes Erbteil besitzen;
ewige Freude wird ihnen zuteil.

Nun wird der künftige Wohlstand Jerusalems mit den umliegenden Nationen kontrastiert. Die alte Beziehung wird umgekehrt: Was einst Unterdrückung war, wird nun Unterordnung der Nationen. Während diese die Mühsal der Feldarbeit tragen, erhalten die Erben Zions eine priesterliche, besondere Berufung (vgl. Ex 19,5–6; 1 Petr 2,9–10). Die Rhetorik ist triumphal, geboren aus langem Leiden, und zeigt zugleich, wie schnell sakrales „Besonders-Sein“ in wirtschaftliches Privileg umschlagen kann.

Erneut erscheint ein „stattdessen“ (V. 7): doppelte Schmach — nun doppelter Anteil. Diese Redeweise drückt Vorzugsrecht und Fülle aus. Eine massive Umkehr: Israel, JHWHs sakramentales Volk, wird in Gaben schwelgen.

61,8 Denn ich, der HERR, liebe Recht,
ich hasse Raub und Unrecht;
ich werde ihnen ihren Lohn in Treue geben
und mit ihnen einen ewigen Bund schließen.

9 Ihre Nachkommen werden unter den Nationen bekannt sein,
ihre Sprösslinge mitten unter den Völkern;
alle, die sie sehen, werden erkennen,
dass sie ein Volk sind, das der HERR gesegnet hat.

Hier unterbricht JHWH selbst den menschlichen Sprecher. Die guten Möglichkeiten sind letztlich ganz in JHWH gegründet. JHWH liebt Recht — konkret bezogen auf Israels erfahrenes Unrecht — und deshalb kommt die Wende. Die „Vergeltung“ geschieht jedoch nicht nach Israels Verdienst, sondern nach JHWHs unerschütterlicher Treue: „ewiger Bund“. Trotz Exil bleibt der Bund bestehen — wie in den alten Verheißungen an Abraham und David. Die Zukunft ruht auf Gottes Entschluss.

Vers 9 nimmt die Abraham-Verheißung auf: Die Nationen werden erkennen, dass dieses Volk gesegnet ist (vgl. Gen 12,3). Alte Zusagen werden zur Grundlage für neue Hoffnung.

61,10 Ich will mich sehr freuen im HERRN,
meine Seele soll jubeln in meinem Gott;
denn er hat mich bekleidet mit Kleidern des Heils,
mich umhüllt mit dem Mantel der Gerechtigkeit —
wie ein Bräutigam sich schmückt
und wie eine Braut sich mit ihrem Schmuck ziert.

11 Denn wie die Erde ihr Gewächs hervorbringt
und wie ein Garten das Saatgut sprossen lässt,
so lässt der Herr HERR, Gerechtigkeit und Ruhm
hervorsprießen vor allen Nationen.

Der Sprecher bricht in Hymnus und Freude aus. JHWH kleidet ihn mit Heil und Gerechtigkeit — liturgische Metaphern. Die Bilder sind voller Erwartung und Zuversicht. Doch die Freude gilt nicht der Person des Sprechers, sondern dem Ziel: Zion. Die Gemeinschaft soll erfüllt werden von Gerechtigkeit und Lob. Wie ein Garten wird sie aufblühen — gerechte, lebensfördernde Beziehungen, die in Doxologie münden.

Diese Vision ruft das Judentum aus der Verzweiflung. Die Hoffnung ist in JHWH verwurzelt, betrifft aber eine erneuerte, sichtbare Gemeinschaft. Die Nationen, die JHWHs Irrelevanz vermuteten, werden das „stattdessen“ Gottes sehen. Die österliche Freude der Kirche mag Parallelen haben — doch der Text gehört zuerst der jüdischen Hoffnung: Der ewige Bund nimmt konkrete Gestalt in einer neu konstituierten Gemeinschaft an.

Quelle: Walter Brueggemann, Isaiah 40-66, Westminster Bible Companion, Louisville, Kentucky: Westminster John Knox Press, 1998, S. 212-218.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar