Gerhard von Rad, Predigtmeditation zu Josua 1,1-9 (Neujahr): „Unser Glaube ist schon zufrieden, wenn er je den nächsten Schritt als von Gott gewiesen erkennen darf. Tatsächlich gehen V. 3 und 5 in einem äußersten Pathos der Zuversicht einher, das uns den Atem verschlagen möchte. Aber hier geht es nicht um den individuellen Weg dieses oder jenes Menschen, sondern um den des ganzen Gottesvolkes in seine Ruhe, und von ihm gilt: Gott geht mit ihm, ja, er hat ihm in jeder Hinsicht den Weg schon bereitet; an jeden Fußbreit Bodens hat er gedacht.“

Predigtmeditation zu Josua 1,1-9 (Neujahr)

Von Gerhard von Rad

Entscheidend für das Verständnis dieses Textes ist die Be­stimmung des heilsgeschichtlichen Ortes dessen, der hier an­geredet ist. Was liegt hinter ihm, was liegt vor ihm?

Israel hat seit früher Zeit das Gedächtnis der Taten Gottes, die das Heilsverhältnis zwischen ihm und Gott begründet ha­ben, gefeiert. Teils in poetischen Hymnen (Ps. 136), teils in prosaischen bekenntnisartigen Summarien hat es das Gedächt­nis dieser Taten festgehalten. Die umfangreichste Darstellung dieses geschichtlichen Weges — er reichte von Abraham bis zu der Einwanderung Israels in Kanaan — ist aber der Hexateuch selbst (Die Bücher Genesis — Josua), in dem Israel alles irgend erreichbare dokumentarische und theologische Material zu­sammengeschichtet hat, um diese einzigartige Geschichtsstrecke allseitig nachzuzeichnen. Die Theologien vieler Zeiten haben dieses Riesenwerk aufgebaut, denn schließlich war es doch jeder Generation auferlegt, sich dieses Bekenntnis zu den Heilstaten Gottes zurechtzulegen. Im Buch Josua finden sich umfangreiche deuteronomistische Partien (auch unser Text gehört zu ihnen!), d. h. Niederschläge einer verhältnismäßig jungen Theologie. Gerade in diesen Texten aber hat sich Israel die reifste und theologisch am stärksten durchreflektierte Deutung des letzten Aktes des Heilsgeschehens gegeben.

Auf unsere oben gestellte Frage nach dem heilsgeschicht­lichen Ort dieser Rede wäre nun zu sagen: Die entscheidenden Heilstaten Gottes liegen alle in der Vergangenheit. Israel ist am Schilfmeer erlöst worden, es hat die Gebote empfangen und ist in der Wüste wunderbar geführt worden. Es steht nun nur noch das Letzte aus, der Aufbruch in die letzte Erfüllung, die Einnahme des verheißenen Landes und die Einkehr in die Ruhe (Jos.1,13,15; 21,44). Die Rede Gottes an Josua steht also in einem eigentümlichen Zwischenzustand, zwischen Ver­heißung und Erfüllung, zwischen der Erwählung und dem end­gültigen Heilszustand. Diese Gottesrede setzt voraus, daß Is­rael — unmittelbar an der Grenze des Verheißungslandes — an einen kritischen Punkt gekommen ist, und läßt durchblicken, daß sich au£ dieser letzten Etappe seines Weges noch sehr viel — auch zum Bösen — ereignen kann, denn alle Gottestaten dei Vergangenheit schließen die Möglichkeit, daß Israel unmittel bar vor der letzten Erfüllung noch scheitern könnte, nicht atm. Der Unterton der Sorge, daß Israel im letzten Augenblick noch sein Heil verfehlen könnte, ist in dieser Rede nicht zu übet hören. Das Pathos dieser ganz von einer Aufbruchsstimmung geprägten Rede liegt in der Mahnung, diese letzte Wegstrecke recht zu bestehen.

Der Text ist im wesentlichen in Ordnung. Die Lutherbibel hat das wä ämaz in V. 6 richtiger mit „sei unverzagt“ über­setzt, in V. 7 und 9 aber mit „sei freudig“. In V. 4 „ist bis zum Libanon“ zu lesen. Seiner Form nach ist dieser Text eine Rede Gottes an Josua, ein Gespräch mit dem, der jetzt die Verant­wortung für das Gottesvolk trägt. Inhaltlich aber steht die Rede jenen levitischen Kriegspredigten nahe, wie sie nach 5.Mos. 20,2 damals wirklich gehalten wurden (Ein Beispiel 5.Mos. 9,1—6). Solche Kriege galten als sakrale Begehungen, weil Gott selbst der eigentlich Handelnde war; er stritt, und ihm allein ge­bührte die Beute. Für die Männer war die Teilnahme vielmehr eine Sache des Bekenntnisses und ihres Glaubens (Ri. 7,2 ff.).

Wie sehr die Situation zwischen der Erwählung und der Er­füllung eine kritische war, das zeigt besonders die Erzählung von dem Aufruhr, der nach der Rückkehr der Kundschafter ausgebrochen war (4.Mos. 14). Damals nämlich wurde sich das Volk erst klar, worauf sie sich eingelassen haben, als sie sich diesem Gott ausgeliefert haben, und nun strebten sie zurück in die scheinbare Sicherheit der ägyptischen Knechtschaft. Auch unser Text gibt zu, daß es auf diesem letzten Weg Möglich­keiten gibt, „sich zu grauen und zu entsetzen“ (V. 9), um so mehr, da Israel gerade da sich nicht mehr der Führung, der Wunder oder der Fürbitte Moses getrosten kann. Aber — das ist doch der Leitgedanke des Textes — es ist kein Grund, sich zu entsetzen, denn Gott hat für alles schon vorgesorgt; jeder Fuß­breit Bodens, den unser Fuß auf diesem Wege auf die letzte Erfüllung hin betreten wird, ist uns von Gott schon zugespro­chen. (Das „habe ich gegeben“ ist das sogen. Perfectum des Vertrags!) Man muß aus den Versen 3—5 erst jene unfaßliche Ermächtigung heraushören, die sie enthalten. Liegt darin nicht etwas von 1.Kor. 3,21 („alles ist euer“)! Für jeden Schritt ist der Weg geebnet, und jeder Widerstand ist schon gebrochen. Jener deuteronomistische Tradent, dem wir diese Verse ver­danken, hat die „Wirklichkeit“ nicht weniger klar gesehen als wir; es konnte ihm die trostlose Situation Israels inmitten seiner Feinde in der Exilszeit, in der er schrieb, nicht verborgen sein. Das hat ihn aber nicht gehindert, diesen Weg des Gottes­volkes auf die letzte Erfüllung hin einseitig nach der Seite seiner Herrlichkeit hin darzustellen, einer Herrlichkeit gött­lichen Geleitens, die nur geglaubt werden kann. (Unser Glaube ist anspruchsloser; er ist schon zufrieden, wenn er je den näch­sten Schritt als von Gott gewiesen erkennen darf.) Tatsächlich gehen V. 3 und 5 in einem äußersten Pathos der Zuversicht einher, das uns den Atem verschlagen möchte. Aber hier geht es nicht um den individuellen Weg dieses oder jenes Menschen, sondern um den des ganzen Gottesvolkes in seine Ruhe, und von ihm gilt: Gott geht mit ihm, ja, er hat ihm in jeder Hinsicht den Weg schon bereitet; an jeden Fußbreit Bodens hat er ge­dacht.

Auf diesen Zuspruch folgt (die Reihenfolge ist nicht unwich­tig!) die Mahnung, dem „Buch dieser Tora“ die Treue zu hal­ten. Das Wort „Tora“ ist mit unserem Wort „Gesetz“ irre­führend wiedergegeben, denn es handelt sich ja um etwas ganz anderes als um ein „Gesetzbuch“. Das Wort Tora meint in dieser Literatur den Inbegriff aller heilsamen göttlichen Wil­lenszuwen­dung an Israel; theologisch gesprochen: Es enthält Evangelium und Gesetz. Mit dem Inhalt dieses Buches soll Is­rael in einem ständigen inneren Gespräch bleiben; es soll nicht aufhören, darüber nachzudenken, aber auch davon zu reden. Wir sind hier nicht weit von Ps. 119, der ja in unendlichen Va­riationen davon spricht, wie diese Willensoffenbarung Gottes der geistige Lebensinhalt des Menschen ist, wie sie das mensch­liche Denkvermögen ebenso beschäftigt wie den Willen und das Gefühlsleben. In der Tat, nur da ist ein Glaube lebendig, wo er alles, was dem Menschen widerfährt, mit diesem Buch gött­licher Offenbarung in Beziehung setzt. Nicht, daß dabei immer alles gleich aufginge; aber in geistiger Bewegung soll uns die­ses Buch halten, im Gespräch mit ihm sollen wir bleiben, und davon reden sollen wir.

Der Nachsatz in V. 8 kann uns wohl Schwierigkeiten machen, denn er ist der Meinung, daß das Halten der Gebote auch in äußerlich praktischer Hinsicht vorteilhafter ist als der Unge­horsam. Dieses Glaubens waren aber auch die Christen bis zum Anbruch der Neuzeit! In einer noch christlich gefügten Gesell­schaft kann es wohl nicht ausbleiben, daß der Rechtliche, der Hilfsbereite, der Friedfertige auch bürgerlich geachtet und ge­ehrt wird. Uns heute überzeugt am ersten noch die negative Seite der Sache: Eine praktische Lebensweisheit sagt uns, daß die Übertretung der Gebote auch unklug ist, weil der Mensch damit sich, seine Familie und die Gemeinschaft mit den anderen zerstört. Die Alten waren aber der Meinung, daß das Böse wie das Gute eine sehr reale Macht im Leben ist und daß es weithin eine Sache der menschlichen Weisheit sei, die zerstörenden Mächte zu bannen und die segnenden in Bewegung zu halten. — Unser Text ist zwar eine Gottesrede, aber sie wendet sich nicht an das Volk, sondern allein an den Führer; sie ist etwas wie eine Dienstanweisung an einen besonders Ermächtigten. Demgemäß kreist sie mehr um das Grundsätzliche und theolo­gisch Allgemeine. In der Rede, die Josua daraufhin an das Volk richtet (V. 10ff.), wird dann sehr viel praktischer geredet (von der zu beschaffenden Wegzehrung usw.). Das müßte auch der Prediger bedenken.

Predigen kann man über einen solchen Text wohl nur, wenn man zu sehen vermag, daß das Heilsgeschehen, von dem hier die Rede ist, in einem so engen Zusammenhang mit dem christlichen steht, daß sich die christlichen Vorstellungen auch in den alttestamentlichen Worten aussprechen lassen. Es wird nicht genügen, wenn man für das beiden Testamenten Gemein­same nur einige Grundvorstellungen über das Gott—Mensch-Verhältnis, über Sünde, Sühne und Erlösung zu benennen weiß. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Taten Gottes an Israel und die Situation, in die Israel durch sie gekommen war, in einem so engen Bezug zu dem neutestamentlichen Christusgeschehen stehen, daß auch die alttestamentlichen Worte von uns in unserem christlichen Lebensstand als Weisung gehört werden können. Auf unseren Text angewandt würde das heißen, daß wir in jener Situation des Aufbruchs in die letzte Erfüllung des Gottesvolkes auch uns wiedererkennen können, obwohl die Heilsgüter, auf die sich das neue Israel hinbewegt, andere sind.

Quelle: Gerhard von Rad, Predigtmeditationen, Göttingen 1973, S. 40-44.

Hier der Text als pdf.

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