Da hatte Hermann Dietzfelbinger (1908-1984) gerade seinen Dienst als bayerischer Landesbischof begonnen, als er 1955 auf der Titelseite der Schwäbische Landeszeitung – Augsburger Zeitung neben Joseph Kardinal Frings und Geistlichem Rat Leopold Schwarz ausführte, was uns das Weihnachtsfest bedeutet.
Von D. Hermann Dietzfelbinger
Evangelischer Landesbischof von Bayern
Mit der Geburt Christi kämpft Gott seinen Kampf um unsere Menschlichkeit.
Das Ringen der Menschen darum, dass sie Menschen bleiben, füllt unsere Tage im Besonderen – bis in alle politischen und sozialen Reformbewegungen hinein, bis in den Wohnungsbau und in die 40-Stundenwoche, bis in die Lärmbekämpfung und die Aufrufung gegen die Rücksichtslosigkeit im Verkehr. Mit großem Ernst wird heute dieser Kampf geführt. Die allgemeinen Menschenrechte sollen geachtet werden, jeder soll das Recht auf Leben, auf Freiheit der Meinungsäußerung und des Glaubens haben. Aber gleichzeitig wird der, der hinter den Vorhang schaut, oft von dem schaudernden Gedanken überfallen, dass die Unmenschlichkeit doch kaum so sehr triumphiert hat wie im Jahrhundert der Freiheit, in dem die Menschen zu Millionen vertrieben oder gefangengehalten werden. Und auch wo die Menschlichkeit gepflegt wird, ist sie doch oft ungesund und krank. Will nicht sogar das Weihnachtsfest selber unmenschlich werden – vor lauter aufdringlicher Menschlichkeit?
Darum danke ich Gott, dass er selber, noch ganz anders als wir Menschen, den Kampf um unsere Menschlichkeit führt. Er führt ihn so, dass er selber Mensch geworden ist. Wir Menschen wissen ja oft gar nicht, was Menschlichkeit ist, und ehe wir’s uns versehen, haben wir sie selbst verspielt. Aber nun ist in der Geburt Christi Gottes Menschlichkeit selber zu uns gekommen, damit wir nicht allein sind. Darum „gebar Maria ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“. „Er schämt sich nicht, sie Brüder zu heißen“, sagt ein Wort der Bibel (Hebr. 2,11).
Was ist mit der Geburt Christi geschehen? Nichts – nichts von Bedeutung, werden viele entgegnen. Es ist wahr, die Menschengeschichte geht ihren Gang weiter, als wäre nichts geschehen. Der Kaiser Augustus hat weiterregiert und hat sich den Erhabenen, den Übermenschen nennen lassen, bis er starb. Der König Herodes hat die Kinder von Bethlehem umbringen lassen, und bis heute quälen die Menschen einander und werden gequält. Aber wenn eine Saat in den Boden gesät ist, so ist doch etwas geschehen, auch wenn man noch nichts sieht, und die Saat treibt und drängt zum Wachsen und Reifen. So möchte ich die Geburt Christi mit einer verborgenen, aber mächtigen Saat vergleichen, die Gott selber in die Welt hineingesät hat. Dies aber ist die Saat: „Er schämt sich nicht, sie Brüder zu heißen.“ Man könnte sich ja manchmal schämen, Mensch zu sein, wenn man daran denkt, welcher Unmenschlichkeit wir Menschen fähig sind. Manchmal schämen wir uns auch vor uns selber. Wenn aber Gott sich nicht schämt, uns Brüder zu heißen, dann darf man getrost Mensch sein, dann darf man sich seines Menschseins freuen, wie die Kinder an Weihnachten. Dann hat es seinen Sinn, auch wenn es schwer ist. Dann sind wir Menschen nicht mehr allein mit uns selbst, mit unserer Unmenschlichkeit und mit unseren Versuchen, menschlich zu sein. Gott selber ist uns nahe, so nah wie eben das Menschenkind Jesus uns ist. Geboren ist er wie ein Mensch, er hungert und dürstet wie ein Mensch. Er lebt eine richtige Menschengeschichte.
Wir alle haben ja unsere Geschichte; meist ist sie klein, manchmal ist sie groß. Sie verläuft zwischen Geburt und Tod, und wir rechnen ihre Jahre nach besonderen Ereignissen, nach dem ersten oder zweiten Weltkrieg, nach der Flucht aus der Heimat oder nach der Währungsreform. Aber seit dem Ereignis von Bethlehem ist unsere Geschichte noch durch etwas anderes bestimmt: Nach Christi Geburt rechnen wir jetzt unsere Jahre, und nach Christi Geburt dürfen wir leben, und er ist unter uns. Wenn jetzt ein Kind geboren wird, ist Jesus Christus da, und wenn ein Mensch stirbt, darf er beten: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir.“ Seit Jesus Christus Gott zu Hause ist, Gottes verlassen war, wie nur ein Mensch verlassen sein kann, ist niemand mehr verlassen. Auch wenn wir einander die Menschlichkeit versagen und die Menschenwürde absprechen, ist er zwischen uns. Wenn wir einander schlagen, ist er dazwischen, und der Schlag, der den Bruder treffen soll, trifft ihn zuerst, so wie die Hilfe, die wir dem Hilfsbedürftigen gewähren, zuerst von ihm selber bedankt wird: „Was ihr getan habt einem unter diesen, meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Nochmals: Ist etwas anders geworden durch diesen verborgenen Kampf Gottes um unsere Menschlichkeit? Die Gesetze der Welt sind gleich geblieben. Aber Gott ist nahe und rettet unsere Menschlichkeit. Menschsein besteht ja nicht in irgendeiner Bildung und irgendeiner Kultur, so wertvoll sie uns erscheinen mögen. Menschsein fängt da an, wo einer bei Gott zu Hause ist. „Gottes bedürfen ist des Menschen größte Vollkommenheit“, hat jemand gesagt. Ich weiß, hier gerade liegt das Problem: Wer ist ein Mensch mit Gott? Bin ich’s, bist du es? Aber wenn unter uns keiner ein Mensch wäre in diesem Sinne, wenn wir alle Menschen ohne Gott wären, so ist doch Jesus Christus solch ein Mensch! Pontius Pilatus, der Statthalter, hat unfreiwillig ein prophetisches Wort gesprochen, als er in der Leidensgeschichte diesen Jesus Christus, entstellt von Schlägen und bespritzt mit Blut, vor eine schreiende Menge stellt und sprach: „Sehet, welch ein Mensch!“ Mitten unter denen, deren Menschlichkeit in Gefahr steht, ist Jesus Christus der wahrhaftige Mensch, weil er unwandelbar bei Gott zu Hause ist!
Es geht für uns Menschen eine unendlich heilende Kraft vom Bilde Jesu aus. Es hat eine unwahrscheinlich starke Wirkung in diesen Tagen, bloß einfach die Weihnachtsgeschichte zu lesen, einmal, zweimal, dreimal. Versuchen wir’s doch, allein oder miteinander! Kranke lassen sich bestrahlen, so oft es der Arzt verordnet. Das Bild Jesu in den Evangelien hat noch mehr heilsame Strahlkraft: Es heilt unsere Menschlichkeit von innen her. Wenn Menschen eng miteinander verbunden sind, wenn Eheleute, die sich gut verstehen, lange miteinander gelebt haben, so werden sie oft bis in die Gesichtszüge oder bis in manche Bewegungen einander ähnlich. Auch der Umgang mit Jesus prägt den Menschen und macht uns anders zueinander. Denn in ihm schämt sich Gott selber nicht, uns Brüder zu heißen.
Quelle: Schwäbische Landeszeitung – Augsburger Zeitung, Nr. 297, 11./103. Jahrgang, Samstag, 24. Dezember 1955, S. 1. Wiederabgedruckt in: Illertisser Zeitung, Nr. 296, Mittwoch, 24. Dezember 2025, S. 36.