Menschlich bis in den Tod hinein. Weihnachten ist das Fest des liebenden Gottes (1971)
Von Eberhard Jüngel
I
Es sei mir erlaubt, am Anfang dieser weihnachtlichen Überlegungen an den Engel zu erinnern. Nicht um die zum zweiten Mal aufgeklärte alte Welt und die endlich mündig gewordene Christenheit mit einer mythologischen Gestalt zu ärgern. Ganz im Gegenteil. Es soll niemand geärgert werden. Und schon gar nicht vom Engel. Der soll vielmehr vorsorglich den Anfang machen, damit die folgenden Worte und Gedanken nicht den Ton verfehlen, den der Engel des Herrn in der Christnacht angegeben hat: große Freude – aller Welt. Und das trotz vielerlei und durchaus begründeter Furcht.
Es wäre allerdings nicht schwer, der Christenheit – der westlichen zumal – zum Christfest ein schlechtes Gewissen zu machen. Der desolate Zustand der Kirchen ist bekannt. Selbst dann, wenn die rechtliche Verfassung der Kirchen in bester Ordnung sein sollte: ihre geistliche Verfassung ist oft trostlos. Das Verhältnis der Christenheit zu Gott scheint nicht weniger gestört zu sein als ihr Verhältnis zur Welt. Es gäbe weiß Gott viel zu räsonieren. Und wie leicht ließe sich zum Weihnachtsfest der wahrhaftig erschreckende Unterschied zwischen dem Wohlstand des einstmals christlichen Abendlandes und den hungernden Kontinenten beschwören. Wem ist da wohl zumute? Kurz: man kann, wenn man Kirche und Welt kritisch mustert, jedem einigermaßen sensiblen Menschen die Freude am Weihnachtsgeschenk und den Appetit auf Gans oder Karpfen gründlich verderben.
Ich kann es gleichwohl nicht. Mir fehlt, um der mehr oder weniger frommen Christenheit zum Christfest ein schlechtes Gewissen zu machen, ganz einfach das gute Gewissen. Es ist theologisch ausgeschlossen, so zu verfahren. Und daran ist der Engel schuld. Gott sei Dank.
II
Wenn Engel tätig werden, dann bricht die Wirklichkeit noch lange nicht auseinander. Engel öffnen verschlossene Wirklichkeit. Sie weisen auf neue Möglichkeiten hin, die wirklich werden. Und sie weisen die Menschen, denen sie begegnen, in diese neuen Möglichkeiten ein. »Mir geschehe, wie du gesagt hast«, hieß die exemplarische Antwort der Maria auf die ihr vom Engel angesagte neue Möglichkeit, die durch ihre Mutterschaft wirklich werden sollte: ihr Sohn sollte – rechtens – Gottes Sohn genannt werden. Engel sind Einweisungen in das Mögliche. Dergleichen kommt der Wirklichkeit der Welt zugute.
Der Weihnachtsengel redet zu den Hirten von einer trotz ihrer Furcht möglich werdenden großen Freude. »Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.« Das macht mißtrauisch. Denn Freude braucht man eigentlich nicht eigens anzusagen. Freude macht sich von selbst bemerkbar. Sie spricht für sich. Und unsere Worte folgen dem freudigen Ereignis nach. Wenn es dennoch geschieht, daß einem eigens gesagt wird, dies oder das bedeute Freude, dann ist das »freudige Ereignis« auf solche Hilfe offensichtlich angewiesen. Es hat die großen Worte nötig. Doch wer sie hört, wird eher skeptisch reagieren. Was wirklich Freude macht, sollte man wohl, indem man selber sich zu freuen beginnt, auch ohne fremde Hilfe merken. Hat Gott die großen Worte nötig?
Er hat, er hat. Denn daß mit der Geburt eines Menschen nicht nur den Eltern und nächsten Angehörigen, sondern »allem Volk« große Freude widerfahren wird, sieht man diesem Ereignis nicht an. Und daß es »Gottes Sohn« ist, der in Bethlehem die Windeln beschmutzt, verraten die erbärmlichen Umstände seiner Geburt ganz und gar nicht. Uns ist durch zweitausendjährige Überlieferung die Zusammengehörigkeit von Stall, Krippe und Heiland allerdings so vertraut, daß wir umgekehrt die Szenerie schon wieder brauchen, um das Christkind zu erkennen. Was wäre Weihnachten ohne die Geschichte von Krippe und Stall? Daß sie der erbärmliche Anfang eines noch erbärmlicheren Endes sind, macht man sich am Heiligen Abend nur ungern klar. Und doch hängt die große Freude, die der Engel eigens ansagen muß, davon ab.
Was im Stall begann, fand am Galgen sein Ende. An diesem Ende kommt niemand vorbei, der sich des weihnachtlichen Anfangs freuen will. Und nun wird vielleicht deutlich, warum es einen Engel braucht, warum große Worte notwendig sind. Gott hat die großen Worte nötig. Er hat sie nötig, weil er Mensch geworden ist. Daß in diesem Menschen aller Welt Heil widerfahren ist, das verraten die eher peinlichen Umstände seiner Geburt genauso wenig wie die hochnotpeinlichen Umstände seiner Verurteilung zum Tode und seiner Exekution am Kreuz. Das muß einem gesagt werden. Das muß aller Welt gesagt werden. Deshalb der Weihnachtsengel. Er spricht aus, was geschieht. Und was geschieht, ist eine unter der Unscheinbarkeit des Alltäglichen, ist mehr noch eine im Elend der Welt versteckte sehr besondere Geschichte. Der ewig-reiche Gott wurde arm, um Menschen reich zu machen. Das ist eine unter ihrem Gegenteil verborgene große Sache. Und dieser in aller weltlichen Erbärmlichkeit unkenntlich großen Sache gebührt ein großes Wort. Gerade die Verborgenheit Gottes unter dem Gegenteil eines ganz und gar nicht ewig-reichen Menschenlebens muß öffentlich werden.
III
Wer sich Gottes freuen will, kommt um diese Härte seiner Verborgenheit nicht herum. Weihnachten ist zwar gerade deshalb ein Fest der Freude, weil der transzendente Schöpfer der Welt nun in der Welt existiert, in Solidarität mit seinem Geschöpf, als ein Mensch unter Menschen. Von einer schlechthinnigen Verborgenheit des Schöpfers aller Dinge kann nun also nicht mehr die Rede sein. An die Stelle der absoluten Verborgenheit des der Welt und den Men- sehen unendlich überlegenen Gottes ist vielmehr die sehr präzise Verborgenheit Gottes in der Existenz eines Menschen getreten. Diese präzise Verborgenheit Gottes in einem Menschenleben, das im Stall begann und am Galgen endete, ist Gottes Offenbarung. Offenbarung heißt, daß der ewig über uns waltende Gott unter uns zu finden ist. An die Stelle seiner Allgegenwart, die mit einer schlechthinnigen Entzogenheit identisch ist (denn was allgegenwärtig ist, ist uns nirgends in seiner Allgegenwart gegenwärtig), ist eine präzise Gegenwart getreten. Zu ihr gehört allerdings eine ebenso präzise Abwesenheit. Der in einem Menschen gegenwärtige Gott ist eben nur menschlich gegenwärtig. Gottes Gegenwart ist ohne das Moment einer präzisen Abwesenheit genauso wenig wirklich wie seine Offenbarung ohne das Moment einer präzisen Verborgenheit. Und diese präzise Verborgenheit ist die Armut Jesu von Nazareth, ist die präzise Abwesenheit göttlicher Allmacht und Allgegenwart. »Er ist auf Erden kommen arm, daß er unser sich erbarm.«
IV
Aus dem weihnachtlichen Geheimnis der Menschwerdung Gottes lassen sich folglich zwei einander sehr entgegengesetzte Konsequenzen ziehen. Genauer: es läßt sich verstehen oder mißverstehen. Aber auch das Mißverständnis ist theologisch lehrreich. Es bestünde nämlich darin, einem unter der präzisen Abwesenheit von Allmacht und Allgegenwart anwesenden Gott, also einem Mensch gewordenen Gott, schlechtweg die Gottheit zu bestreiten. Die Konsequenz hieße dann, daß ein solcher durch Allmacht und Allgegenwart definierte Gott mit seiner Menschwerdung aufhörte, Gott zu sein: »Gott ist tot«. Der Atheismus der Neuzeit hätte dann nur zu Ende gedacht, was das Weihnachtsevangelium der Menschheit zu denken aufgegeben hatte. An die Stelle der Gottheit Gottes wäre die Mitmenschlichkeit des Menschen getreten. Kindlein, liebet einander – so ließe sich (im Anschluß an die Johannesbriefe) dann die Summe des Evangeliums formulieren.
Aber ist damit nun nicht Gott das abgesprochen, was als Menschlichstes dem Menschen zugesprochen wird: Liebe? Wer Gottes göttliches Leben nur so denken kann, daß es sich in ewiger, allmächtiger und allgegenwärtiger Überlegenheit vollzieht, der muß dann wohl, wenn er die neuzeitliche Einsicht in die Unerfahrbarkeit dieser göttlichen Überlegenheit einmal erfahren hat, Gott sterben lassen. Der Atheismus ist insofern die Folge der allzumenschlichen Vorstellung eines leblosen Gottes. Wäre Gott in seiner ewigen Selbstbezogenheit nicht schon immer der ganz und gar Selbstlose, dann müßte die Menschwerdung Gottes spätestens mit Jesu Tod zu radikalem Atheismus führen. Liebloses Leben endet im Tod.
Nun läßt das Evangelium keinen Zweifel daran, daß Gott mit Jesus in den Tod ging. Gott teilte die Ohnmacht des Sterbens mit jenem Menschen so sehr, daß es keinen besseren Ausdruck dafür gab als das Psalmgebet: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Denn nur ein diesem Sterben allmächtig gegenüber stehender Gott hätte vor dem Tod am Galgen bewahren können. Die Antwort auf die Frage des Gekreuzigten kann nur lauten: weil ich die Schmach deines Sterbens und das Elend deines Todes teile. Gott nimmt die Konsequenzen der menschlichen und eben auch unmenschlichen Geschichte der Welt auf sich. Er teilt ihre Hohen und Tiefen, vor allem aber ihre Tiefen. Menschwerdung Gottes führt insofern auch Gott selbst in die Härte des Todes. Darin aber erweist sich Gott selber als Liebe. Die Lebensgemeinschaft von Gott und Mensch wird durch die Todesgemeinschaft besiegelt. Aber sie erweist sich eben darin von Seiten Gottes als Liebesgemeinschaft. Nur Liebe greift über das Leben hinaus in den Tod. Und Liebe allein kann den Kampf mit dem Tod auf sich nehmen. Denn allein »die Liebe ist stark wie der Tod« (Hohelied 8,6). Wer aber so stark wie der Tod ist, ist stärker.
Das Geheimnis der Weihnacht ist also die Überlegenheit der Liebe über Leben und Tod. Zur Weihnacht wird der Satz »Gott lebt« überholt durch den Satz »Gott liebt«. Und die präzise Abwesenheit seiner Allmacht und Allgegenwart wird offenbar als die Gegenwart seiner in aller Ohnmacht jeweils konkret gegenwärtigen Liebe.
Liebe ist zwar nicht allgegenwärtig. Aber sie ist überall jederzeit jeweils neu möglich. Allein mit der Liebe kann man immer wieder neu anfangen, wenn menschlicher Hochmut und menschliche Dummheit mit ihren Triumphen uns Ende über Ende bescheren. Die Liebe ist also zwar nicht allmächtig. Aber sie ist mehr als das, weil sie selbst da neue Verhältnisse schafft, wo Machtmißbrauch und Allmachtswahn alles verhältnislos machen und die Welt an den Abgrund des Nichts manövrieren. Was von der Liebe gilt, gilt aber erst recht von dem Gott, der liebt. Hier darf man nicht unterscheiden. Denn Liebe ist – Liebe. Weihnachten ist deshalb das Fest des liebenden Gottes, der seine Liebe über jede Macht, auch über seine eigene Allmacht siegen läßt.
Der Sieg der Liebe ist also der Reichtum, den die Menschwerdung Gottes in die Welt gebracht hat. Und der in ihr bleibt. Denn die Menschwerdung Gottes verbietet es, Gott jemals abzusprechen, was wir uns als unser Menschlichstes zusprechen. Als eine eherne Definition steht aufgrund der Geburt Jesu Christi geschrieben: Der Gott ist Liebe (1Joh 4,8). Und wiederum steht – eben deshalb – geschrieben: Die Liebe hört nimmer auf (1Kor 13,8). Das sieht man ihr freilich nicht an. Den Sieg der Liebe kann man nur selten sehen. Aber an ihn kann man — glauben. Glaube ist Freude an dem Gott, dessen Leben Liebe ist.
V
Ganz und gar Liebe — das ist unser Leben nicht. Und das mag denn am Christfest besonders deutlich werden: uns fehlt, was gefeiert wird; es mangelt unserer Welt an Liebe. Doch hätte man nicht vom Weihnachtsengel vernehmen können, daß ein anderer in dem reich ist, worin wir arm sind? Dieser Reichtum ist nicht auf Kosten anderer entstanden. Liebe ist ursprünglicher Überfluß. Sie kommt aus sich selbst und strömt über – oder sie wäre nicht Liebe. Als Empfänger dieser überströmenden Liebe ist der Mensch geschaffen. Kein Mensch kann von sich aus lieben, sowenig er von sich aus sprechen und lachen kann. Der Mensch zehrt von einem Plus, das nicht erst er geschaffen hat. Von diesem Plus redete der Weihnachtsengel, als er aller Welt große Freude verkündete.
Freude macht mir nur, was mich nicht überfordert. Die bloße Aufforderung zur Liebe wäre aber eine grenzenlose Überforderung, wenn ihr nicht das Widerfahrnis von Liebe vorausginge. Ohne jemals geliebt zu sein, wäre der Aufruf zum Lieben eine gesetzliche Pflicht. Sie würde uns nicht erfreuen, sondern nur quälen. Die große Freude, die der Engel ansagt, besteht demgegenüber in der neuen Möglichkeit, mich und jeden Menschen als geliebt zu erkennen. Für dieses »geliebt« steht der Mensch gewordene Gott gut. Gegenüber der Ablösung des Wortes »Gott« durch die – respektable – Parole von der Mitmenschlichkeit hat das Weihnachtsevangelium nur ein einziges anthropologisches Argument. Es besteht darin, daß die Menschlichkeit des Menschen nicht durch sein Sein-für-andere definiert ist (wie heute vielfach behauptet wird), sondern dadurch, daß ich einen anderen für mich da sein lasse: nämlich Gott und deshalb auch einen anderen Menschen. Nur weil ein anderer für ihn da ist, kann der Mensch aus sich herausgehen. Gott für mich da sein lassen heißt aber sofort: Gott auch für jeden anderen Menschen da sein lassen. Das Wort des Engels war nicht das letzte Wort. Wir haben seinem großen Wort freilich nur unsere Worte hinzuzufügen. Und die sind schwach genug. Aber was der Engel tat, können mit unseren schwachen Worten auch wir: Gott da und ihn für uns da sein lassen.
Quelle: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 52, 26. Dezember 1971, S. 15.