Von Reinhold Schneider
Man muß einen geheimen Gedanken im Hintergrund haben und von ihm ans alles beurteilen, während man wie alle Welt spricht.
Schmeichelt er (der Mensch) sich, so erniedrige ich ihn; erniedrigt er sich, so schmeichele ich ihm; und immer widerspreche ich, bis er begreift, daß er ein unbegreifbares Unwesen ist.
Im Aufgang der Epoche, in der die Naturwissenschaften zur führenden geistigen und geschichtlichen Macht wurden, steht Blaise Pascal, Mathematiker, Skeptiker und unterwürfiger Christ, nach seiner in einem gestrichenen Fragment der »Pensées« erhobenen Forderung. An dieser Stelle schildert er Größe und Elend des Menschen. Es gibt keine modernere Sprache als die seine: der Mensch weiß nicht, wer ihn in die Welt setzte, noch was er ist, noch was die Welt ist. Er blickt in die grauenvollen Räume des Universums, erschaudernd vor ihrem Schweigen, hintreibend auf einer wüsten, schreckensvollen Insel; nicht wissend, warum er gerade hier ist und nicht an einer anderen Stelle des unendlichen Raums, sicher nur des Todes, aber nicht wissend, wohin der führt. Eine Ahnung streift ihn, daß er einmal glücklich gewesen sein könnte, aber davon blieb nichts als die Narbe, die »völlig leere Spur«. Er wagt, sich ins Herz zu sehen, und erschrickt vor einem unendlichen Abgrund, er blickt wieder auf und sieht die unerforschliche, doppelte Unendlichkeit: Unmeßbares, das die Milchstraße übersteigt, und das sich im Geringsten verliert: hinab zur Milbe, ihren Gliedmaßen und Gelenken, den Adern in den Gliedmaßen, dem Blut darin, den Säften im Blut, den Tropfen in den Säften, den Gasen in den Tropfen. Er fragt seine Gefährten, auch sie wissen keine Antwort; es findet sich kein Satz eines Weisen, dem nicht ein anderer widerspricht. Unfähig, sich zu ertragen, flieht er um der Flucht willen, er sucht, um zu suchen, wandert, um nicht anzukommen, jagt, um zu jagen, immer ist er hinter dem Hasen her, »den er geschenkt nicht nehmen würde«. Will er einen Augenblick ruhen, so befällt ihn die Langeweile wie eine auszehrende Krankheit: dann spürt er sein Nichts, seine Unmacht, seine Leere und Verlassenheit. Nur die Gegenwart ist sein, aber er lebt niemals in ihr, sondern immer nur in dem, was er erhofft; Wahn umstrickt ihn; er zerreißt das Gespinst nur, um es wieder zu spinnen. Ursache der Liebe ist ein »Ich weiß nicht was«; sie setzt Völker, Heere, die Welt in Bewegung. Da er aber nie der ist, der er gerade war: so liebt er auch immer einen Menschen, der nicht mehr ist – oder er kann nicht mehr lieben. Die Frau, die er vor zehn Jahren liebte, würde er noch lieben können, wenn er, wenn sie noch wären, die sie waren. Es gibt keinen Grund, auf dem er bauen könnte: »alle Fundamente zerbrechen und die Erde öffnet sich bis zu den Abgründen.« Zufall hat es entschieden, daß er Soldat, Schlosser, Koch wurde, Türke, Ketzer, Ungläubiger — Dichter und nicht honnete homme, was doch das einzig Würdige wäre. Mit anderen kommt er nur zum gegenseitigen Betrüge zusammen: keine Freundschaft würde dauern, wenn der Freund wüßte, was der Freund von ihm sagt, sobald der eine die Tür geschlossen hat. Er ist unfähig, allein im Zimmer zu bleiben: damit ist alles gesagt. Er ist von Geburt an unglücklich. Freundschaft? Ein jedes Ich haßt das andere.
Aber der Mensch ist groß. Er ist es als Denkender; das Denken macht alle seine Würde. Als Denkender richtet er sich auf im Weltraum, besteht er in ihm gegen den Angriff der Unendlichkeit. Das Ringen mit dem All — es ist das große Thema des Jahrhunderts, das mit dem Feuertode Giordano Brunos, eines Verkünders der Unendlichkeit wie Cusanus, angebrochen war — endet mit dem Siege des Denkers und einem Siege des Kosmos: während die Unendlichkeit ihn verschlingt, faßt er sie denkend zusammen. Sieg? Der Mensch will ihn ja nicht; er sieht kämpfenden Tieren zu; des Sieges und Siegers wird er augenblicklich überdrüssig. Und doch ist Vernunft das Wesen des Menschen; richtiges Denken ist die Grundlage der Sittlichkeit, und strenger kann diese nicht konzipiert werden als von Pascal, der von den Eltern fordert, daß sie Gott in ihren Kindern das wieder erstatten, was sie »aus allen andern Gründen eher als wegen Gott« verloren haben: die Reinheit. (Brief an Mme. Perier, 1659.) Aber der Mensch ist ein »denkendes Rohr«, das zerbrechlichste in der Welt, man braucht keine Kanone abzuschießen, um sein Denken zu hindern: das Gekreische einer Wetterfahne, eines Flaschenzuges genügt, ja das Summen einer Fliege. Die Fliegen sind eine geschichtliche Macht: sie gewinnen Schlachten, hindern uns zu handeln, zehren uns auf. Gerade als Denkender wird der Mensch erniedrigt; immer schwankt er zwischen Engel und Tier; die Vernunft macht nur elend, der Wahn verschenkt Ruhm, die Vernunft trägt Verachtung ein. Sie ist überhaupt nicht imstande, den Wahn zu überwinden; in seinem Bereiche ist er unbesieglich; ja er wird in der Geschichtswelt sogar zu einem bindenden Element, einem ordnenden tragenden Prinzip, weil die Menschen nur das zusammenhält und in Furcht versetzt, was sie sich einbilden. Wahrheit ist überhaupt nicht erreichbar. Auf Erden ist ein jedes Ding zum Teil wahr, zum Teil falsch: »Nichts ist reine Wahrheit, und deshalb ist nichts wahr, was wir für reine Wahrheit halten.« Und dieser Doppelsinn reicht innerhalb der geschichtlichen Welt bis in das Sittliche hinab: Keuschheit und Ehe sind fragwürdig. Ist es gut, nicht zu töten? Nein. Denn die Unordnung würde schrecklich werden. Ist es gut, zu töten? Ebensowenig. Es gibt, wie Simone Weil, in vielem eine Erbin Pascals, wiederholen soll, kein Gutes ohne den Schatten des Bösen.
Das alles verwirrt und soll es auch. Elend und Größe stehen zueinander in einem dynamischen Verhältnis; sie steigern sich wechselseitig und sind aus dieser Bindung nicht zu lösen, nur in ihr erfahrbar. Je elender der Mensch ist, um so entschlossener er sich seinem Elend stellt, um so größer wird er auch sein. Denn es ist alles offen, nach oben wie nach unten, die positive wie die negative Unendlichkeit; der Denker erfaßt das All wie die Milbe, das Atom. Der Mensch ist »eine Mitte zwischen Nichts und All«, »ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts«. Die vermessene Pathetik, mit der der deutsche Idealismus austönen sollte: »Mehr denn alle Unendlichkeit« bleibt fern. Die Größe ist ja das Elend und wächst mit ihm. Der Mensch ist der Ruf eines unendlichen Abgrunds nach einem Abgrund. Ist er ein heilloses Problem?
Im August, spätestens Herbst 1609 richtete Galilei das selbstgebaute Teleskop gegen den Himmel; die Erfindung lag in der Zeit; Holländer waren in ihr vorausgegangen, die Nachricht verbreitete sich mit Windesschnelle über Frankreich nach Italien; Galilei wiederholte und verbesserte sie in bedeutendem Grade. Im selben Jahre erschien Keplers Astronomia nova, Ergebnis unermeßlicher eigener Arbeit und der Beobachtungen Tycho de Brahes. Im April des folgenden Jahres erhielt Kepler in Prag vom Kaiser Galileis in fieberhafter Eile verfaßte und gedruckte »Botschaft von den Sternen« (Nuncius Sidereus). Es geht hier nicht allein um die Tat Galileis, die Erforschung des Mondes, Entschleierung der Milchstraße, Entdeckung der Jupitermonde (in der Nacht des 7. Januar 1610) und damit des ersten »Systems« am Himmel, sondern um das Erscheinen seines ganzen Werks, seiner Person und seines Konflikts, um seine Forschungsmethode, seine extrem mechanisch-mathematische Problemstellung; um die am Turme zu Pisa erhärtete Unabweisbarkeit des Experiments und die Begründung der klassischen Physik. Die Forderung war erhoben, daß die Forschung sich von der Schrift nicht hemmen lassen dürfe, daß es vielmehr Aufgabe der Theologen sei, die Schrift in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Naturwissenschaften zu erklären. Denn diese sollten führen in der Erkenntnis der physischen Welt. Pascal berief sich darauf an entscheidenden Stellen seines Werks (in der Abhandlung über den leeren Raum und im 18. Stück der Lettres Provinciales). »Die Wahrheit muß immer den Vorrang haben, wie neu entdeckt sie auch sei.« Die Theologie ist der Autorität, das heißt der Offenbarung unterworfen; in der Physik ist keine Autorität außer Erkenntnis und Experiment. Das wird Geschichte: ein unaufhaltbarer Prozeß. Im Todesjahr Galileis (1642) wurde Newton geboren. Neben dem Aufbau einer neuen Mathematik unter Führung des Descartes und anderer französischer Gelehrter, Galileis und seines Schülers Cavalieri, Keplers, der Engländer Wallis und Newton und später Leibnizens und Bernoullis ist vielleicht das größte geistige Ereignis jener Zeit der Augenblick, da René Descartes, Seigneur du Perron, ein freiwillig mit dem bayrischen Heere ziehender Weltmann, im Winterlager zu Neuburg an der Donau die Vision einer »wunderbaren Wissenschaft« hatte. Es ist der 10. November 1619. In seinem Enthusiasmus muß er sich völlig frei gefühlt haben: Denker in seiner Größe. »Ich weiß nicht einmal, ob es vorher Menschen gegeben hat (denn es ist ja nichts gewiß), und kümmere mich wenig um Autorität.« Das ist, als ob dieser Eine einen noch nie erreichten Ort betreten habe, um aus dem Denken selbst Welt und Gott zu begreifen. Die Wirkung dieses Ereignisses kann kaum überschätzt werden, wenn es auch nicht ohne geschichtliche Voraussetzungen ist. Pascals Denken und Pascals Weg erscheinen auf weite Strecken wie ein Ringen mit Descartes; trotz wichtiger Verbindungen ist es zu einer echten Beziehung nicht gekommen, geschweige denn zu einem offenen Gespräch. Beide beobachteten mit der Einschätzung des Denkens die Hochachtung des Brauches, der Gewohnheiten, Konventionen und ihrer rechtskräftigen Macht und fühlten sich doch als Gegner, wenigstens Pascal mit Bestimmtheit: »Gegen die schreiben, die zu sehr die Wissenschaften ergründen: Descartes« notiert er in den »Pensées«: er kann es Descartes nicht verzeihen, daß er Gott brauchte, um die Welt in Bewegung zu setzen und ihr einen »Nasenstüber« zu geben; denn dann »hatte er mit Gott nichts mehr zu tun«. Vielleicht wollte es Pascal auch nicht vergessen, daß Descartes Zögling der Jesuiten war. Und doch war Descartes Mensch und Abgrund wie Pascal selbst, und es ist schwer zu entscheiden, ob er wirklich mit Gott nichts mehr zu tun hatte. Zeitlebens hielt der Seigneur du Perron fest an der Religion, die eben »die Religion seines Königs war und seiner Amme«; er hatte eine Wallfahrt nach Loretto gelobt, um aus seinen wissenschaftlichen Zweifeln geführt zu werden; und fünf Jahre nach dem enthusiastischen Erlebnis im Neuburger Lager hat er dieses Gelübde erfüllt. Aber Pascal bleibt schon beim ersten Worte der tragenden Sätze seines Gegners stehen: »Ich zweifle.« »Ich denke.« Das ist viel zu kühn. Denn: »Was ist das Ich?« Wir sehen, lieben nur Eigenschaften. »Wo ist dieses Ich, wenn es weder im Körper noch in der Seele liegt?« Gibt es eine Antwort auf den Menschen?
Offen sprach sich Pascal über einen anderen Aristokraten aus: über Montaigne. An ihm rühmte er die Wissenschaft des Nichtwissens und von der Torheit und der Unmacht des Menschen: in dem südlichen Weltmann schlägt der zweifelnde Geist sich selbst. Auch Montaigne verharrt streng in der Konvention. Er lebt, ein Erkennender, wie einer, der nicht erkannt hat, und »reitet zu Pferde wie einer, der kein Philosoph ist, weil das Pferd es duldet. Aber er meint nicht, daß er ein Recht dazu habe, denn er weiß nicht, ob dieses Tier nicht im Gegenteil das Recht besäße, sich seiner zu bedienen.« Aber dieses Urteil im Gespräch mit dem Geistlichen de Saci über Montaigne und Epiktet ist schon mit Bezug auf eine Entscheidung und ein Ziel gesprochen, nicht ein Entweder-Oder, sondern auf die Synthese von Montaigne und Epiktet, Zweifel und Glaube, Elend und Größe. Pascal kann beim Zweifel nicht stehen bleiben. Er glüht nach Antwort für sich — für die ihm Erreichbaren (keineswegs für alle). Und Antwort kann nur ein Leben sein, echtes Dasein zwischen Nichts und Unendlichkeit.
Von einem Freunde Montaignes, Charron, sagt Pascal: er habe den törichten Plan gehabt, sich selbst darzustellen. Wie kann man einen Menschen, ein Denken einem Plan unterwerfen! Und »alles, was nur dem Autor dient, taugt nichts«. Aber welches Entzücken, wenn man erwartete, einen Autor zu finden, und einen Menschen gefunden hat! (Pensées.) Pascal lebt in einem jeden Satz, den er geschrieben: er entfaltet sich in Personen, denen er Rede und Gegenrede auf die Lippen legt. Und doch ist Pascals Vermächtnis in seiner Ganzheit und Geschlossenheit nicht leicht zu vermitteln; man darf nur eine fragende Vermittlung wagen, sein Werk, und an erster Stelle die Pensées, ist ein Drama, in dem die Monologe oft die dramatischen Stellen sind. Man kann, wenn man das Ganze sucht, schwerlich von der sogenannten ersten Konversion (1646) ausgehen, wie man es in Port Royal wollte, noch von der zweiten, eigentlichen (1654), wie es streng theologische Deutung versucht. Ewald Wasmuth hat in seinen grundlegenden Einführungen und Ausgaben mit dem Mathematiker Pascal begonnen und dargetan, daß die Probleme seines Denkens zuerst mathematische sind und sich dann in den Ordnungen der Philosophie, des Glaubens wiederholen. Descartes hatte die Mathematik vollständig neu aufgebaut, indem er von algebraischen, nicht mehr geometrischen Voraussetzungen ausging[1]. Die Mathematik war eine Leidenschaft jener Zeit und in besonderem Sinne eine französische. Schon der Name des Vaters, des Finanzbeamten Etienne Pascal, ist in Verbindung mit einer Kurve vierter Ordnung, der Pascalschen Schnecke, in die Geometrie eingegangen. Ihm sollte der am 19. Juni 1623 in Clermont in der herben Auvergne geborene Sohn sowohl die religiöse wie die wissenschaftliche Erziehung verdanken; lange mag der Vater darin seine erste Aufgabe gesehen haben; er ließ Blaise keine Schule besuchen. Die Mutter starb früh (1626), nach der Geburt der zweiten Tochter Jacqueline; Gilberte war die erstgeborene. 1631 zog Etienne mit den Kindern nach Paris; im Umkreis des Père Mersenne, der gewissermaßen der Geschäftsträger und Korrespondent des in den Niederlanden verborgen lebenden Descartes war, fand der Vater den ersehnten Umgang. Weinend, wie »in Verzückung«, berichtete er einem Freund, daß er seinen zwölfjährigen Knaben überrascht habe, wie er mit »Runden« und »Stangen« spielend, so nannte er Kreise und Linien, die ersten 32 Sätze Euklids auf den Fliesen der Küche mit einem Stück Kohle entwickelte. Von da wurde Blaise von den gelehrten Liebhabern der Wissenschaften und Künste ernst genommen; er durfte an ihren Gesellschaften teilnehmen. Im Alter von 16 Jahren erregte er das höchste Erstaunen durch eine Schrift über Kegelschnitte, die er nicht zum Druck gab und die auch nicht mehr aufgefunden werden konnte.
— Was die Zeit, was jene Kreise erschütterte, deutet die Nachricht an, daß Descartes, als die Verurteilung Galileis (22. Juni 1633) bekannt wurde, sein erstes fast vollendetes Werk »Le Monde« bis auf wenige Fragmente vernichtete. Der Seigneur du Perron war nicht gewillt, sich der Inquisition oder einem Aufsehen erregenden Prozeß auszusetzen. Etienne unterschied scharf zwischen der Autorität der Wissenschaften und der des Glaubens: Gegenstände des Glaubens durften nach seiner Überzeugung der Vernunft nicht unterworfen werden. So hat er schon eine Unterscheidung unabhängiger Ordnungen vollzogen, vielleicht die im Lebensdrama des Sohnes geschehenen Lösungen vorbereitet.
Wissenschaft und Glaube, die Ordnung des Geistes und die des Herzens, sollten Blaise Pascal mit gleicher Stärke einfordern in den nächsten Jahren; er schrieb eine Abhandlung »Über das Gleichgewicht der Flüssigkeiten«, an der, nach dem Zeugnis eines Gelehrten, noch nach zweihundert Jahren kein einziges Wort zu ändern war[2]). Um dem an die Finanzverwaltung in Rouen berufenen Vater (1640) in umständlichen Berechnungen zu helfen, ersann und konstruierte der Sohn in vieljähriger Arbeit gegen große technische Schwierigkeiten eine Rechenmaschine; sie wurde 1649 privilegiert. Zwei Jahre später ließ er sie, nicht ohne eine gewisse weltmännisch-schmeichlerische Selbstgefälligkeit, der Königin Christine von Schweden überreichen. Die als Schauspielerin und Dichterin begabte Jacqueline hatte dem Vater nach einer Zeit der Ungnade die Gunst Richelieus zurückgewonnen; in Rouen huldigte ihr der große Corneille, damals auf jener Höhe seiner Dichtung, die er, im fragwürdigen Urteil der Mit- und Nachwelt, nicht wieder erreichen sollte. Im Jahre 1646 erlitt der Vater auf einer vereisten Straße Rouens einen Unfall; zwei Edelleute, die sich seiner annahmen, machten die Familie bekannt mit den Schriften des Cornelis Jansen, Professors der Theologie in Löwen und späteren Bischofs von Ypern (1585—1638); in dem 1640 erschienenen »Augustinus«, einem Ergebnis 22jähriger Arbeit, hatte Jansen die Unfreiheit des verderbten Willens, die Unwiderstehlichkeit der Gnade im Sinne gewisser von der Kirche verworfener Sätze des Augustinus gelehrt. Diese Begegnung ist entscheidend; Pascal mag in ihr eine Begründung oder Bestätigung seines Glaubens gefunden haben, daß ein jedes Unglück von Gott kommt; daß ein Geschöpf die erste Ursache jener Zufälligkeiten, welche wir Unglück nennen (Brief an Herrn und Frau Périer vom Okt. 1651), gar nicht sein kann und sich in jedem Geschehnis etwas Wunderbares, eben der Wille Gottes, ausdrückt (an Mlle. Roannez, Okt. 1656).
Von Paris aus, wohin er 1647 zurückgekehrt war, leitete er durch Anweisungen an seinen Schwager Périer, den Gatten Gilbertes (Brief vom 16. Nov.), das Experiment am Puy de Dome, einem Berge der Auvergne; es ist der auch am Tour St. Jacques in Paris geführte, Aufsehen erregende Nachweis, daß die Höhe einer Quecksilbersäule in einer geschlossenen Glasröhre von dem sie umgebenden Druck der Luft abhängt. Damit war die Theorie vom horror vacui, dem Schrecken vor dem leeren Raum, widerlegt. Nicht ein hereingetragener metaphysischer Satz, sondern Evidenz und Experiment allein konnten die Natur erschließen. Mit einer gewissen siegessicheren Ironie, die ihm eigen war, hatte Pascal schon vorher an den Jesuitenpater Noël, den Verteidiger des horror vacui, geschrieben: »Und nur für die Geheimnisse des Glaubens, welche der Heilige Geist selber geoffenbart hat, behalten wir uns jene Unterwerfung des Geistes vor, die unser Glaube den Geheimnissen entgegenbringt, die den Sinnen und der Vernunft verborgen sind.« Hier warf er die Probleme des leeren Raumes, des Lichtes auf, die in Jahrhunderten nicht gelöst werden sollten und vielleicht Probleme bleiben werden, verwarf er in Sachen der Wissenschaft die Autoritäten: »Denn wenn wir diese Autoren zitieren, dann zitieren wir ihre Beweise und nicht ihre Namen.« Hier erneuerte er die Grundlagen der Definition: niemals in ihr den Ausdruck für das Definierte zu verwenden. Wie er sich von den Alten frei machte, zumal von der Physik und der Astronomie des Aristoteles, so hielt er sich frei vom Weltbild des Kopernikus, Tycho de Brahe und Galilei; er sah — ohne zum Früheren zurückkehren zu wollen — andere Möglichkeiten der Kosmologie und stimmt gerade darin mit der modernen Physik überein. Ist alle Bewegung relativ, so läßt sich über die Zentren nicht mehr streiten; es kann ein jedes Bezugssystem als Zentrum angenommen werden.
Mit der These, daß »der Mensch für das Unendliche geschaffen« ist, also für ein stetig fortschreitendes Wissen, und daß die Wahrheit »älter ist als jede Meinung von ihr«, scheint sich Pascal, ausgerüstet mit den Methoden des geometrischen (das heißt des gesamtmathematischen) Beweises, außerhalb dessen der Wissenschaft nichts erreichbar ist, die Bahn rastloser Forschung und Entdeckung aufgebrochen zu haben. Aber diese Erwartung erfüllt sich nicht. Die in einer Zahnwehnacht des Jahres 1658 gefundene Theorie der Zykloide (der Kurve, die ein Punkt auf der Felge eines eben hinrollenden Rades beschreibt; Galilei hat sich durch 50 Jahre mit ihnen beschäftigt, wie er mit Pascal nach dem Geheimnis des Glücksspiels forschte) ist seine letzte Leistung für die Mathematik; in einem Fragment erklärt er, sich von der reinen Wissenschaft abgewendet zu haben, weil er zu wenig Menschen gefunden habe, mit denen er darüber sprechen konnte. Die reinen Wissenschaften, fährt er fort, täuschen den Menschen über seine Seinslage; aber getäuscht habe er sich auch mit der Hoffnung, in der Wissenschaft vom Menschen mehr Gefährten zu finden als in der Geometrie. Doch das Problem liegt tiefer. Es ging Pascal überhaupt nicht um die Wissenschaft als solche, sondern um das der Epoche gemäße Weltbild. Er sah das Zukunftsmächtige seiner Zeit in hellstem Licht — und er sah es als Christ, frei in der Forschung, unterworfen der Offenbarung. Damit war der Knoten geschlungen. Wir werden ihn niemals auflösen. Christ war Pascal von Anfang nach dem Wort: »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.« Alle Erfahrungen seines Lebens scheinen darauf hinzudeuten, daß der nur Gott suchen kann, der von ihm gerufen wurde. Und wie groß müßten für einen andern die Gefahren eines Denkens gewesen sein, das alle die gegensätzlichen Wahrheiten derselben Sache erfaßte! Die Lehre des Bischofs von Ypern von der Gnadenwahl, der Übermacht der Gnade, mußte Pascal wesensgemäß erscheinen.
In der vermutlich zwischen 1655 und 1658 geschriebenen Abhandlung »Vom geometrischen Geist« wird der Übergang vollzogen von der Mathematik zum Weltbild. Zufolge der Definition des Unteilbaren und der Ausdehnung wird behauptet, daß mehrere Unteilbare oder so viele man auch zusammenfügen will, niemals eine Ausdehnung bilden. Zwei Gattungen bestehen nebeneinander, die nicht ineinander übergehen können (wie Wissenschaft und Offenbarung). So verhält sich die Null zu den Zahlen: wie man sie auch vervielfältigt, sie kann nicht größer als eine Zahl werden. Entsprechend steht es zwischen Ruhe und Bewegung, Zeit und Augenblick. Die Größen sind unendlich teilbar und können doch das Unteilbare nicht erreichen: sie stehen in der Mitte »zwischen dem unendlich Großen und dem Nichts«. (Und wer spürte dahinter nicht den »geheimen Gedanken«, der Pascals ganzes Werk durchschimmert!) So ist auch der Raum unendlich teilbar. Rings, auf allen Gebieten, umgibt uns die bewundernswerte Macht der Natur mit dieser zweifachen Unendlichkeit; unser Ort ist die Mitte zwischen einem Unendlichen und einem Nichts der Zahl, einem Unendlichen und einem Nichts der Bewegung, einem Unendlichen und einem Nichts der Zeit. Und nun die Entscheidung: »Woraus man lernen kann, seinen wahren Preis zu schätzen und Überlegungen anzustellen, die wertvoller sind als alles übrige in der eigentlichen Geometrie.« Damit sind die Grenzen der Mathematik überschritten, aber ihre Ergebnisse sind nicht aufgegeben; wie innerhalb der Mathematik (die hier mit Geometrie gleichgesetzt wird) Gattungen nebeneinander stehen, die nicht ineinander übergehen können, so in allen Bereichen des Denkens. In dem wesensgemäß Getrennten waltet aber eine Entsprechung: es ist das Band analoger Gesetzmäßigkeit, das alle Seinsbereiche durchwirkt: die Ordnung der Größen zwischen den beiden Unendlichkeiten. (Und in den Abgründen im Menschen spiegelt diese sich wider.) Die Ordnungen verhalten sich zueinander wie Parallelen; sie sind getrennt, aber in ihnen wiederholt sich das Gesetz; immer ahmt die Natur sich nach. Pascal ist auf dem Wege zum Ganzen, zum Entwurf eines Weltbildes, das alle Probleme aufnimmt, indem sie ihnen ihren Ort anweist. Es hat keinen Sinn, ihm vorzuwerfen, daß er die Bahn des Forschers, Entdeckers und Erfinders nicht weiter ging. Seine Aufgabe ist die moderne Synthese, die Ordnung aus Gegensätzen, die dramatische Gerechtigkeit moderner Welterfahrung.
Ewald Wasmuth weist nachdrücklich darauf hin, daß Pascals Genialität eine solche des Empfangens und Verbindens war; er übernahm, um zu vereinen. So hat er von Montaigne, der alle Wissenschaften prüfte, die Einsicht in die Grenzen der Geometrie: ihre Unsicherheit in den Axiomen und Begriffen, die sie nicht definieren kann. In einem aus der letzten Zeit (1660) stammenden Briefe an den bedeutenden Mathematiker Fermat, von dem Descartes ausführlich in seinen Briefen handelt, spricht Pascal diesem seine Verehrung aus: sie gilt, bezeichnend für diese letzte Epoche, vor allem dem Menschen Fermat, dem »größten Ehrenmann der Welt«. Dann blickt er auf eines seiner großen Lebensprobleme zurück: »Denn um Ihnen ein offenes Wort über die Mathematik zu sagen: Ich halte sie für die höchste Übung des Geistes, sehe aber zugleich in ihr etwas so Unnützes, daß ich einen geschickten Handwerker einem Menschen, der nichts ist als ein Mathematiker, vorziehe … und meine Studien entfernen sich so weit vom Geiste der Mathematik, daß ich mich kaum mehr daran erinnern kann, mich jemals damit abgegeben zu haben.« Aber sein Weltbild bewahrt die Ergebnisse dieser Beschäftigung auf. Es wäre ohne sie nicht entstanden. Von dem Mathematiker Desargues, der als Ingenieur bei der Belagerung von La Rochelle (1628) gedient hatte, übernahm Pascal, nach Wasmuths Vermutung, die Anwendung des Unendlichen und die Erkenntnis, »daß endliche und unendliche Größen nicht der Größe, sondern der Ordnung nach verschieden sind«. Zugleich soll Pascal im Zusammenhang mit seiner Arbeit über die Kegelschnitte von Desargues zur Erkenntnis der Analogie zwischen getrennten Ordnungen, dem zentralen Gedanken seiner paradoxer Weise ebensowohl tragischen wie harmonischen Weltsicht, geführt worden sein. Sie ist vergleichbar dem »heiligen Band«, das, nach der jüngeren Stoa, alle Dinge miteinander verknüpft, aber nicht sakrale Vorstellung wie für Marc Aurel, sondern wissenschaftlich erfaßbares Prinzip. Jedenfalls ist sie das Fundament des Pascalschen Weltbildes. Im engsten Zusammenhang damit steht die unter einem Pseudonym veröffentlichte Arbeit über die Zykloide. (Das Pseudonym war nicht Modesache; es war Bedürfnis des in gegensätzlichen Wahrheiten lebenden Menschen Pascal.) Punkte, Linien, Flächen, Körper können einander nichts hinzufügen. Aber Entsprechungen durchwalten ihre durch Unendlichkeiten geschiedenen, unvereinbaren Ordnungen. Das alles zielt auf Letztes: den geheimen Gedanken, die Wahrheit höchster Ordnung, das Umfassende: auf den cusanischen Zusammenfall aller Gegensätze.
Der Anfang des oft unter dem Titel »Die Wette« aus dem geistigen Kosmos Pascals gerissenen Fragments — einem Kosmos aus Fragmenten — wiederholt den im »Geometrischen Geist« geschehenen Übergang: »Die Eins, dem Unendlichen hinzugefügt, vermehrt es um nichts . . . ; das Endliche vernichtet sich in Gegenwart des Unendlichen, es wird reines Nichts. So unser Geist vor Gott, so unser Recht vor der göttlichen Gerechtigkeit. Zwischen unserer Gerechtigkeit und der Gottes ist das Mißverhältnis nicht so groß wie zwischen der Eins und der Unendlichkeit.« Aber in diesem Mißverhältnis ist doch eine Beziehung, Entsprechung; die Zahlen, als endliche Größen, haben die Tendenz zum Unendlichen. Wir wissen von den Zahlen, aber nicht vom Unendlichen, und wissen doch, daß es eine Unendlichkeit der Zahl gibt. Das ist Mystik der Mathematik, ihr Wiedererscheinen in einer höheren Ordnung; ihre Bejahung im Glauben. Das ist Rationalismus im Verhältnis zu einer alle Vernunft übersteigenden Wirklichkeit, aber in einem echten Verhältnis. Und wenn Pascal nun — unter der gewiß anfechtbaren Voraussetzung, daß man wetten muß—einen skeptischen Weltmann seiner Zeit bewegen will, die Eins für das Unendliche zu setzen, seine Nichtigkeit für Gott; wenn er zu einem höchst ungleichen Spiel überredet, denn die Unendlichkeit kann ja nichts gewinnen von der Eins, aber die Eins alles durch den Eingang in die Unendlichkeit: so symbolisiert er seine große Idee. In dem ungeheuren Mißverhältnis ist die Aussicht, zu gewinnen, weit bedeutender als die Gefahr des Verlusts; Wahrscheinlichkeitsrechnung wiederholt sich in der Region des Glaubens — denn »man kann wissen, daß es einen Gott gibt, ohne daß man weiß, was er ist«. Die Ordnungen laufen nebeneinander her. Und es ist eine Behauptung des Meisters Desargues, daß parallele Gerade sich in einem unendlich entfernten Punkte schneiden. Die Überlegungen des Kavaliers am Roulettetisch finden eine Entsprechung in den Erfahrungen des heiligen Johannes vom Kreuz, der nichts wurde (sich als Nichts erkannte und erkennend vernichtigte), um Alles zu werden.
In das Drama des Denkens dringt die Stimme von oben. Als einen Ruf zur christlichen Existenz muß Pascal die Krankheit verstanden haben. »Der Christ kommt immer auf seine Rechnung«; Kranksein ist ein christlicher Zustand, denn es bedeutet Angewiesensein auf den Arzt der Welt. Vom achtzehnten Jahre an hat Pascal keinen Tag ohne Schmerzen gehabt; seine Existenz ist nur als eine leidende zu verstehen und dem entspricht sein christliches Bewußtsein: nur die Wundmale habe der Auferstandene berühren lassen. »Nur seinen Leiden müssen wir uns vereinen.« Christliches Leben ist das tägliche Sterben des Apostels (1. Kor. 15, 39). Aber Pascal weiß sich auch von früh an zum Streit für die Wahrheit berufen; in Rouen fühlte er sich verpflichtet, dem Erzbischof einen Theologen anzuzeigen, der unter großem Zuspruch eine irrige Auffassung von der Menschwerdung lehrte. Die Gereiztheit und Spannung seiner physischen Existenz mag seine Angriffslust, seine Polemik und Ironie, seine Selbstgerechtigkeit gesteigert haben. Niemand wußte es besser als er selbst, daß die Leidenschaft von der Wahrheit und also von Gott entfernt. »Bemühen Sie sich also«, rät er dem Partner der Wette, »sich nicht etwa durch eine Vermehrung der Gottesbeweise zu bekehren, sondern durch eine Minderung die Leidenschaften.« Von den wenigen als »weltlich« bezeichneten Jahren nach der Rückkehr nach Paris (nach 1647) und einem Aufenthalt in Clermont (1649) wissen wir zu wenig, als daß wir über sie urteilen dürften; vom Chevalier de Mere, einem erfahrenen Weltmann und Literaten, wurde Pascal angeregt; er war befreundet mit dem jungen Herzog von Roannez, dem Statthalter des Poitou und seiner Schwester. Die Fragmente der an sie gerichteten Briefe — freilich schon vom Jahre 1656 — reden im höchsten Ernste: wie in der Hoffnung, auch Mlle. Roannez auf einem jener Throne zu sehen, von dem die in der Nachfolge Vollendeten »die Welt richten werden«. Oft wurde die »Abhandlung über die Leidenschaften« als ein Denkmal jener Zeit angesehen; nach den von Wasmuth gegen die Autorschaft Pascals vorgebrachten Bedenken darf sie nur als ein Fragment aus seinem Umkreise gelten, Reflex der Welt, durch die er ging, ohne ihr anzugehören.
Auch wenn Pascal nicht Schüler Montaignes gewesen wäre, hätte er sich schwerlich täuschen lassen vom Spiel der Welt. Aber er war stets bereit, die Konventionen dieses Spiels zu achten, solange er an ihm teilnahm: Rang und Stand die ihnen nach dem Brauche gebührende Ehre zu verweigern, erschien ihm als Zeichen niedriger Gesinnung; immer grüßte er den Herzog, wenn er auch den Menschen in ihm freimütig verachtete. Das Bild des honnete homme, der sein Ich verbirgt in der Form, war verpflichtend. Richelieu hatte die Großmachtstellung begründet, aber sein Ziel nicht erreicht, als er starb (1642); seine und Mazarins Kriege und Siege zerrütteten die Finanzen und zugleich das sittliche und gesellschaftliche Gefüge Frankreichs — ganz zu schweigen von der religiösen Problematik der von Kardinalen im Bunde mit Ketzern geführten Politik. Das beispiellose Ereignis des Jahrhunderts: die Revolution in England und Hinrichtung Karls I., wühlte Frankreich auf; in England war eine religiöse Bewegung in den politischen Bereich eingebrochen; hier entzündete sie den Streit um ständische Rechte. Mit aufrührerischem Adel verbanden sich das Parlament, die Pariser Bevölkerung; Condé empörte sich und kämpfte mit Turenne im Faubourg St. Antoine um Paris, siegte, konnte sich aber nicht behaupten. Mazarin kehrte wieder. Pascal widerstand allen Vorteilen, die die Aufständischen ihm geboten haben sollen. Nichts ist glaubwürdiger: er anerkannte, wie Descartes, streng Brauch und Gewohnheit eines Landes, als unentbehrliche Bande, eine republikanische Verfassung billigend, wo sie geschichtlich gegründet war, die Verletzung königlicher Rechte in einer Monarchie als »Sakrileg« verwerfend. Höher als die republikanische Form muß ihm dennoch die monarchische gestanden sein: sie war für ihn, wie Gilberte schreibt, nicht nur ein Bild der göttlichen Macht, sondern Teilhabe an ihr: das heißt: der Vater auf Erden waltet aus der Macht und der Gnade des Vaters im Himmel. Aber der »geheime Gedanke«, den Pascal hinter diesem politischen Bekenntnis verbirgt, ist zweifach wie ein jeder seiner Gedanken: das ist es ja gerade, was er uns Menschen vorwirft, daß uns nur ein einzelner Gedanke beschäftigt und wir nicht fähig sind, »zwei auf einmal zu denken«. Vielleicht ist diese Fähigkeit die Voraussetzung für das Verständnis Pascals und seines Ranges überhaupt, der auf der weltlichen (nicht der religiösen) Stufe seiner Erkenntnis einen jeden Gegenstand und Satz im Lichte ihres Widerspruchs auffaßt.
Während er das Bestehende leidenschaftlich verteidigte und erklärte, daß der Aufruhr ein Aufstand sei gegen Gott, Sünde des zur Geduld verpflichteten Christen; und daß er dieser Sache so ferne sei wie dem Menschenmord und Landstraßenraub, blieb er doch Skeptiker im Sinne Montaignes. Aber was er wirklich dachte von Macht und Staat, das enthüllt er uns erst auf der Ebene letzter Entscheidungen, der einen und einzigen Konversion, die in das Jahr 1654 fällt. Sie sollte ihn aus dem Weltleben rufen. Aber dazu bedurfte es keiner starken Stimme; denn verfallen konnte er der Welt nicht; das war nicht seine Natur. Und wenn, wie oft gesagt wurde, eine Dämonie in ihm war, also eine zustimmende Teilhabe an luziferischer Macht — ich entscheide diese Frage nicht, fühle mich keineswegs dazu berufen —, so kann es nur eine solche des Geistes gewesen sein, des Widerspruchs gegen den gefürchteten Gott, von dem uns gesagt ist, daß auch die Teufel in der Hölle an ihn glauben und vor ihm zittern. Und was ist Jugend ohne Dämonie!
Im September 1651 starb Etienne Pascal, dem der Sohn mehr zu verdanken hatte, als irgend einem andern. In dem Trostbrief an Schwester und Schwager Périer spricht sich eine Strenge religiöser Anschauung aus, die wie Kälte erscheinen könnte: nur der Tod befreit die Seele von der Begierde des Fleisches; was Christus erlitt, muß in allen seinen Gliedern geschehn; die Kinder haben den Vater nicht in der Stunde seines Todes verloren; er war ihnen von dem Augenblick an genommen, da er getauft wurde. Denn von da an gehörte er Gott. — Kein Mensch kann also einem Menschen gehören. — Pascal hatte in den letzten Jahren, wenigstens seit seinem Umgang mit den Schriften des Jansenius, einen starken religiösen Einfluß auf die Familie ausgeübt; er hatte den Entschluß Jacquelines, auf allen Ruhm Zu verzichten, den ihre glänzende Begabung ihr verhieß, gegen die Neigung des Vaters bestärkt. Denn, so heißt es in den Pensées: »Alles verdirbt die Bewunderung, schon von Kindheit an.« (Und wieviel mehr als für die Schwester galt das für ihn selbst!) Aber nach dem Tode des Vaters möchte Pascal nicht zugeben, daß Jacqueline ihn verläßt; sie setzt sich durch; die Äbtissin von Port Royal nimmt sie auf unter Verzicht auf die von Blaise verweigerte Mitgift. Damit ist ihm der Weg gewiesen zu der für seine letzten Jahre entscheidenden Stätte.
Das Kloster Port Royal des Champs, im Tale von Chevreuse, sechs Meilen von Paris, wurde Anfang des 13. Jahrhunderts von vornehmen Stiftern für zwölf Nonnen des Zisterzienserordens gegründet. Als im Jahre 1602 Marie Angelica Arnauld, die einer einflußreichen Pariser Familie entstammte, im Alter von elf Jahren Äbtissin wurde, waren Zucht und Ordnung in Verfall. Wenige Jahre darauf wurde die junge Äbtissin von der Predigt eines vorüberreisenden Kapuziners erschüttert. Sie beschloß, Port Royal im Geiste des Ursprungs, nach der strengen Regel Benedikts und dem Vorbild Bernhards von Clairvaux zu reformieren. Während das Reformwerk begann, vertrat ihr Vater, Antoine Arnauld, Advokat am Parlament, auf eine Aufsehen erregende Weise die Sorbonne in einer Streitsache gegen die Jesuiten. Dieser Streit und die Besinnung auf den glühenden Eiferer von Clairvaux, der mit beispielloser Kühnheit zum Papste gesprochen hat, sind für das Künftige von Bedeutung. In den Frommen erwachte Bernhards Sehnsucht, die Kirche, ehe er stürbe, so zu sehen, wie sie in den Zeiten war, da die Apostel ihre Netze auswarfen, nicht um Gold und Silber, sondern um Seelen zu gewinnen, wie er an Eugen III. schrieb. (Aber fast unlösbar verbindet sich mit dieser Sehnsucht ein herrscherlich-richterlicher Anspruch.) Es ist nicht allein die Zeit der Weltleute, Mathematiker, Skeptiker und großen Herren; es ist auch die Zeit der Heiligen: des Vinzenz von Paul, des Galeerenpfarrers und Segenstifters von St.Lazare, in dessen Armen Ludwig XIII. gestorben war, des Franz von Sales und der Frau von Chantal, deren unerbittlicher Gehorsam gegen Gottes Ruf der Nachwelt zum Ärgernis wurde. Franz von Sales berät in seinen letzten Jahren die Äbtissin; das Reformwerk greift rasch auf andere Klöster des Ordens und auf Männerklöster über. Enge Freundschaft verbindet die Mère Angélique mit Frau von Chantal. Neben dem Aufbruch in die kosmische Unendlichkeit geschieht dieser zweite, nicht weniger leidenschaftliche in die himmlische Unendlichkeit. Um 1633 erwählt die Äbtissin den Abbé von Saint Cyran, einen Mann von dämonisch-geistlicher Macht, zum Spiritual von Port Royal; er war Freund und Mitarbeiter des Jansenius, dessen Verbündeter im Kampf gegen die Jesuiten, den Jansenius als Lebensaufgabe ergriffen hatte. Von da gebietet St. Cyrans Geist im Kloster und in dem um dieses sich bildenden Freundeskreis. Es wird zu einer geistig-geschichtlichen Macht. Schon bald nach seiner Gründung im 13. Jahrhundert wurde es mit seltsamen Vorrechten ausgestattet, die Racine in seiner Geschichte Port Royals erwähnt. In Port Royal durfte die Messe gefeiert werden, auch wenn das ganze Land in Bann war. Auch durfte das Kloster Laien eine Zuflucht gewähren, die, der Welt überdrüssig, sich zurückziehen und Buße tun wollten, ohne Gelübde abzulegen. Darauf greift Saint Cyran zurück. In Behausungen von härtester Einfachheit wohnen die Messieurs de Port Royal, betend, entsagend, über der Schrift meditierend, arbeitend; dieses Leben ist wie ein Protest gegen das Treiben in Paris, vielleicht aber auch sühnende Fürbitte. Unter den Messieurs oder solitaires sind Arnauld d’Andilly, der älteste Bruder der Äbtissin, sein Sohn, drei seiner Neffen; bald schließt sich ihnen Le Grand Arnauld an, der Jüngste unter den zwanzig Kindern Antoines (1612 bis 1694). Über dem Ganzen webt der tragische Ernst der Berufung, der Absonderung, des Auserwähltseins, unerschrockener Folgerichtigkeit. Jansenius bewahrt das Erbe Augustins. Sein Wort ist wahr. Es will gelebt werden. Es ist Gnade und Verpflichtung, diese Wahrheit zu erkennen. Ein jeder Versuch, sie der Welt anzupassen, ist verwerflich. Pascal besucht die Schwester; sie berichtet, daß er eine große Verachtung der Welt empfunden habe und einen fast unerträglichen Widerwillen gegen alle, die ihr angehörten.
In das Jahr 1654 fallen zwei wichtige Ereignisse. Pascal legt der Pariser Akademie seine Abhandlungen über das arithmetische Dreieck und die Wahrscheinlichkeitsrechnung vor. — Später sollte Leibniz, von einer im Nachlaß Pascals gefundenen Zeichnung ausgehend, das mathematische und in tieferem Sinne historische Problem des Jahrhunderts lösen und die Schreibweise der Infinitesimalrechnung aufstellen: der Rechnung mit dem Unendlichen. — Und nun ist es, als bräche Pascals Dasein mitten entzwei. Er huldigte dem Geist der Wissenschaft. In der Nacht des 23. November 1654 erfährt er eine Erschütterung, die ihm zur heiligsten Erfahrung wurde. Im »Memorial« hat er sie sich gegenwärtig gehalten. Es ist ein sorgfältig beschriebenes Blatt, das nach seinem Tode im Futter seines Rockes gefunden wurde. Vermutlich hat er es selbst beim Wechseln des Rockes herausgetrennt und wieder eingenäht. Die stammelnden Worte bezeugen das Hereinstürmen dessen, der gekommen ist, Feuer auf die Erde zu werfen; der selber zehrendes Feuer ist (Hebräer 12, 29), nicht des Gottes der Philosophen und Gelehrten, sondern des Vergessenen, der unsägliche Freude ist und die Größe des Menschen; dessen, der uns verläßt wie er vom Vater verlassen wurde und den wir verlassen, des in der Schrift Geoffenbarten, der wiederkehrt in der Nacht.
Die häufig faksimilierte Handschrift ist eine Kopie eines Verwandten, des Abbe Perier. Wenn das Original mit den Worten »vollkommene und liebevolle Entsagung« schloß, also den Satz »Vollkommene Unterwerfung unter Jesus Christus und meinen geistlichen Führer« nicht mehr enthielt: so bleibt der Vorgang vom 23. November zwar durchaus im Raum der Kirche, deren Tag am Anfang ausdrücklich bezeichnet wird, aber doch im Bezirke der reinen Unmittelbarkeit zu Jesus Christus, der mystischen Begegnung. Er geschah in solcher Höhe und mit solcher Gewalt, daß er zunächst nicht in das Leben eingehen, nicht in ihm bewältigt werden konnte. Aus dieser Zeit berichtet Jacqueline in einem Briefe vom 25. Januar 1655, daß ihr Bruder sich auf noch nie erfahrene Weise von allen Dingen geschieden wußte und zugleich in solchem Grade verlassen von Gott, »daß er nach jener Seite hin nicht die geringste Anziehung fühlte«[3]. Das ist das Leiden, das die Mystiker als Gekreuzigtsein zwischen Himmel und Erde beschrieben haben. Wie überwältigend auch die Gnade war: Pascal fand nur in schweren Kämpfen den Weg in die Einsiedelei von Port Royal. Hier wurde der Abbe Singlin, der wie Saint Cyran von der Lehre des Jansenius durchdrungen war, sein geistlicher Führer (directeur spirituel).
Bald darauf schreibt er an Mlle. Roannez: »Hier gibt es keinen Frieden. Jesus Christus ist gekommen, das Schwert zu bringen, nicht den Frieden.« Da aber die Wahrheit immer im Streite steht mit der Welt und vor ihr Torheit ist, so ist der Kampf für sie »Friede vor Gott«. Bis zu seinem Tode steht Pascal in einem leidenschaftlichen, zerrüttenden Streit, der hinabdringt bis zum schmerzlichsten Konflikt zwischen personalem Wahrheitsbewußtsein und Autorität und also seine kirchliche Existenz in Frage stellt.
Um der Hauptsache willen soll auf die Vorgeschichte — einen Streit des Großen Arnauld mit den Jesuiten über die häufige Kommunion — verzichtet werden. Der »Augustinus« des Jansenius war zwei Jahre nach dem Erscheinen, 1642, und vier nach dem Tod des Verfassers durch eine Bulle Urbans VIII. verboten worden. Die Jansenisten sahen Augustinus selbst verworfen; das Parlament stellte sich auf ihre Seite. Hauptmacht der Gegenpartei waren die Jesuiten; sie hatten bestimmenden Einfluß in der theologischen Fakultät der Sorbonne. Unter ihrem Vorsitz wurden fünf Sätze als Lehre des Jansenius aufgestellt; 88 Bischöfe erbaten darüber das Urteil Roms. Am 31. Mai 1653 erklärte eine Bulle Innozenzens X. diese Sätze für häretisch.
Die viel beredeten, aber selten zitierten Sätze sind die folgenden[4]: »1. Einige Gebote Gottes können wegen Mangels der erforderlichen Gnade auch die Gerechten nicht erfüllen. — 2. Der inneren Gnade kann der Mensch, wie er jetzt ist, nicht widerstehen. — 3. Verdienst und Mißverdienst setzen nur Freiheit vom physischen Zwang, nicht auch Freiheit von der inneren Notwendigkeit voraus. — 4. Die Semipelagianer irrten, wenn sie lehrten, der menschliche Wille könne der Gnade widerstehen oder folgen. — 5. Es ist semipelagianischer Irrtum, zu behaupten, Christus sei für alle Menschen gestorben.« Ohne Zweifel ist das nicht katholische Lehre: sie könnte als calvinisch gelten. Mit der Diskussion dieser Thesen war das Problem der Reformationszeit wieder aufgeworfen worden: das Verhältnis zwischen Freiheit und Gnade. Es wurde von Arnauld in engem Anschluß an Augustinus und Chrysostomus am Verrat des hl. Petrus aufgerollt: Wie konnte Petrus fallen, der doch ein Gerechter war und wahrlich nicht gleichgültig gegen Christus? Die Antwort ist: Gott hat den Apostel in diesem Augenblick verlassen; er hat zeigen wollen, daß der Mensch ohne Gnade nichts vermag.
Man muß den heiligen Eifer beider Parteien ganz ernst nehmen. Den Jansenisten ging es um die Ehre Gottes: in seinem Machtbereich kann eine des Widerstandes fähige Macht nicht sein. Auch die Fähigkeit, Gott zu widerstehen, muß von Gott kommen. Den Jesuiten ging es um die Freiheit des Menschen und damit wieder um die Ehre Gottes. Denn es ist seine Ehre, Freiheit zu schaffen und Verantwortung zu fordern. Aber mit dieser vergröbernden Feststellung ist nur etwas für die Betrachtung der Sache gewonnen, nichts für die Sache selbst; auf der Ebene der einmal vollzogenen Fragestellung ist sie wahrscheinlich überhaupt nicht zu entscheiden, wieviel Blut und Tränen sie auch gekostet haben mag. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Gnade läßt sich nicht definieren; es ist ein geheimnisvolles Zusammenwirken, das hochzeitliche Geheimnis des Eingangs Gottes in den Menschen, des Menschen in Gott. Die Familie Pascal führte das Lamm im Wappen; hier ist ein auf die »Hochzeit des Lammes« weisendes Zeichen, um auf die Theologie Erich Przywaras anzuspielen. Aber in dem Streit, den Blaise Pascal nun an der Seite Arnaulds antrat, war der eben von höchster mystischer Erfahrung Gezeichnete ein leidenschaftlicher Rationalist und Dialektiker, der sich mit bewundernswert überlegenem Geschick derselben Waffe wie der Gegner bediente. Beiden Parteien scheint die Ahnung kaum gekommen zu sein, daß die Vorhalle des Heiligtums nicht der Ort eines noch so glänzenden Florettgefechtes ist.
Die Verteidigungsstellung Arnaulds und Pascals war nun die Unterscheidung zwischen Recht und Tatsache (Quaestio juris und Quaestio facti); das heißt: die Kirche hat das Recht, zu entscheiden, ob gewisse Sätze wahr oder falsch sind, aber sie ist nicht autorisiert, über ein Faktum der Geschichte zu urteilen: nämlich ob ein Theologe diese Sätze gelehrt habe oder nicht. (Warum diese Unterscheidung so häufig als »tiefsinnig« gerühmt wird, ist schwer ersichtlich.) Die Sprecher von Port Royal dachten nicht daran, die fünf Sätze zu halten; sie erklärten sie, wie der Papst, für häretisch. Aber sie bestritten entschieden, daß sie im »Augustinus« des Jansenius ständen. Man hätte nun meinen sollen, daß dieser Streit, der ja nur ein Scharmützel im Vorfeld war, rasch hätte beigelegt werden können. Jeder konnte das Buch lesen. Vergebens forderte Pascal die Gegner auf, die fünf Sätze nachzuweisen. Sie standen nicht darin: dem Wortlaut nach nicht.
Aber Gott hat für Port Royal gesprochen. Wir müssen ein Ereignis erwähnen, das nicht als geschichtliches oder religiöses Faktum, sondern als Wahrheit in der Existenz Pascals anerkannt werden muß: Am 24. März 1656 geschah in Port Royal das Wunder des hl. Dorns, ein Ärgernis der Mit- und Nachwelt, für das Jean Racine im ersten Teil seiner Geschichte von Port Royal eintritt. Eine zehn- oder elfjährige Pensionärin, Tochter der Gilberte Pascal und Blaise Pascals Patenkind, litt seit drei Jahren an einer Tränenfistel; die Vereiterung hatte sich durch das Nasenbein und den Gaumen gefressen. Die Ärzte mußten die Kranke mit einer freiwilligen Gefährtin separieren; endlich waren sie entschlossen, die Wunde auszubrennen; der Vater der Kranken wurde herbeigerufen, als ein Geistlicher auf die Bitte der Nonnen an jenem 24. März — Racine sagt genau: es war Freitag der dritten Fastenwoche, und die Kirche betete zum Herrn um ein Zeichen, das die Feinde bestürze — einen Dorn von der Spott- und Schmerzenskrone des Herrn in die Kirche brachte; die Nonnen ehrten die Reliquie mit Gesängen und küßten sie, indem sie feierlich an ihr vorüberzogen. Auf das Gebot der Vorsteherin ließ die kleine Pascal ihr Auge vom Dorn berühren; sie betete, wie ihr geheißen war, um Genesung. Als sie mit der Gefährtin in ihr Zimmer zurückkehrte, fühlte sie sich geheilt. Aber — und das ist der Geist von Port Royal — das Schweigen war schon geboten, »et ces deux jeunes filles se tinrent dans leurs chambres et se couchèrent sans dire un seul mot« (Racine). Erst am Morgen, als eine Nonne kam, um Margot zu kämmen, und sie die gewohnte Vorsicht beobachten wollte, um der Kranken keine Schmerzen zu bereiten, bekannte sich Margot als geheilt. Man muß diese Begebenheit mit der ganzen Wucht eines geglaubten, bestätigenden Wunders in das Leben und Denken Pascals einbeziehen, wenn man die Haltung seiner letzten Jahre verstehen will. Über Port Royal hat sich der Himmel geöffnet. Was hier geschieht, ist ihm wohlgefällig. Wie aber, wenn das Haupt der Kirche, das Haupt, von dem kein Glied sich trennen wird, ohne zu verderben, den Glauben von Port Royal verwirft? Denn das kann nach allen erhaltenen Aufzeichnungen Pascals gar nicht bezweifelt werden: er hielt an der Gnadenwahl fest und blieb überzeugt, daß Gott nach seinem unerforschlichen Willen erleuchtet und blendet. »Ist nun unser Evangelium verdeckt, so ist’s in denen, die verloren werden, verdeckt« (2. Kor. 4, 3). Es ist nicht leicht, solche und ähnliche Sätze zu beantworten. Weder können wir, wie es in den Pensées heißt, die Ungläubigen überzeugen, noch können sie uns widerlegen. Dazwischen steht die undurchdringliche Wand: die Wahl Gottes des Lebendigen, in dessen Hände zu fallen schrecklich ist. Eine Art Recht ist in beiden, Gläubigen und Ungläubigen, und zwar gesetzt von Gott »in der Ordnung seiner Vorsehung als der wahrhaften Ursache, ohne die nichts geschehen wäre« (Brief an Herrn und Frau Périer). »Zum Schlusse«, schrieb Pascal an Mlle. Roannez, »will ich Ihnen noch die Worte Hiobs mitteilen: ,Ich fürchte immerdar den Herrn wie die Fluten eines tobenden Meeres, das vor mir anschwillt, um mich zu verschlingen’ (Job 31, 23). Und endlich: ,Glücklich der Mann, der immerdar in Furcht ist’ (Ps. 111,1).« Das ist nicht die Lehre der Kirche, wenigstens nicht die ganze Lehre, und doch weiß sich Pascal im Recht als Rationalist und Mystiker, als Ironiker und Ankläger in den Briefen gegen die Jesuiten, die er unter dem Pseudonym Louis de Montalte unter den Augen seiner Feinde an einen »Freund in der Provinz« schrieb. — Ausdrücklich muß gesagt werden, daß er die Stiftung des heiligen Ignatius nicht angegriffen hat — so wenig wie Bernhard von Clairvaux in seinen heftigsten nach Rom geschleuderten Anklagen das Papsttum —; ihm geht es um die von Jesuiten in seiner Zeit vertretene Lehre und Haltung.
Gereizte Auseinandersetzungen gingen voraus: wie die überlegene Abfertigung des Père Noël und seiner Lehre vom horror vacui und des P. Ribeyre, dem Pascal vorwarf, eine irrige oder verleumderische Erklärung über sein Experiment am Puy-de-Dôme geduldet zu haben. Auch mag der Polemiker Pascal übertrieben, verallgemeinert, in Einzelheiten sich schwer geirrt und den historischen Zusammenhang übersehen haben, in dem Kasuistik und Probabilismus auftraten nach dem Konzil von Trient: die Berechtigung, ja Notwendigkeit seines Angriffs wird damit nicht aufgehoben. Das im wesentlichen von spanischen und portugiesischen Jesuiten, auch Dominikanern, mit denen die Jesuiten in Streit gerieten, bis zur äußersten Spitzfindigkeit ausgearbeitete System moraltheologischer Fälle, nach dem im Beichtstuhl verfahren werden sollte, beruhte vielleicht auf der Überzeugung von der freien Verantwortlichkeit des Christen und der Einsicht in die Problematik einer jeden menschlichen Entscheidung, aber es mußte in der Praxis absinken in das Bemühen, Gott und seine Rechtsprechung zu überlisten und die Realität der Sünde aufzulösen. Es wurde ebenso unabänderlich zum Instrument der Herrschaft. Denn mit ihm konnten schwere Vergehen Mächtiger und Einflußreicher leicht verziehen werden. Dieses Moment griff Pascal auf: »Denn durch diese Lehre gebt ihr ihnen« (den Richtern in einer Rechtsfrage) »dieselbe Gewalt über das Schicksal der Menschen, die ihr euch selber über deren Gewissen angeeignet habt« (Achter Brief). Das gilt zugleich vom Probabilismus; der Lehre vom Rechte auf die Berufung einer probablen Meinung, das heißt einer Meinung, die eine gewichtige Begründung besitzt, von einem anerkannten Gelehrten vertreten wurde. »In diesem Falle«, sagt der von Pascal fingierte Partner auf den erstaunten Vorwurf, daß er gegen sein Gewissen rede, »spreche ich nicht nach meinem Gewissen, sondern nach dem des Pontius und des Paters Baunny.« Die Möglichkeiten der Widersprüche und die Gefahren liegen auf der Hand; der Probabilismus bedrohte das Gefüge der Kirche wie des Rechts; und Pascal hat sich ohne Zweifel ein Verdienst um die Kirche erworben, als er gegen Kasuistik und Probabilismus zu Felde zog. Nicht um geschichtliche Erklärungen kann es sich ja handeln, sondern um christliches Leben, das immer Gegenwart ist, und zwar Gegenwart Jesu Christi. Ein jeder von innen erhobene Vorwurf kann von außen mißbraucht werden. In den Augen der Einsichtigen sind gerade diese Anklagen überzeugende Verteidigungen der Kirche. Die charakteristische innerkirchliche Unabhängigkeit des französischen Geistes, sein Mut zu Konflikten mit der Autorität bis zu Hello, Bloy, Péguy, Bernanos, Mauriac ist ohne Pascals Angriff wohl nicht zu verstehen, wenn sie auch viel weiter zurückreichen, in die Kämpfe zwischen Kirche und Königtum im 13. Jahrhundert und zur geistig-geistlichen Macht Bernhards und seines Zisterzienserstaats.
Aber die Haltung des Mannes, der zwei Gedanken denkt, bleibt zwiespältig. Er beharrte darauf, daß die Sätze, das heißt der Wortlaut, nicht im Buche des Jansenius stehen; der Papst, von dem er sich nicht trennen will, muß getäuscht worden sein. Ausdrücklich rühmte es Sankt Bernhard dem Heiligen Stuhle nach, daß »er gern das widerruft, was ihm durch Täuschung entlockt worden ist«. Was hat Jansenius gelehrt? Bossuet erklärt: die fünf Sätze seien die »Seele« seines Buches. Fenelon: nie sei ein Text klarer gewesen, es gäbe gar keine Diskussion über seinen Sinn. Da aber die Streitenden mit denselben Worten Verschiedenes meinen, da eine klare Unterscheidung zwischen »genügender« und »wirksamer« Gnade (welche Finesse!) nicht gelingt und zwei tief verschiedene Auffassungen des Christentums, zwei Lebenshaltungen und Zeiten einander gegenüberstehen, werden sie immer erbitterter streiten. Für die Jesuiten ist Christus wesentlich der Erhöhte, für Pascal der immerfort am Kreuze Sterbende, der sterbend Lebende. Es gibt, heißt es in den Pensées, »viele Wahrheiten sowohl im Glauben wie in der Moral, die sich scheinbar widersprechen und die alle in einer wundervollen Ordnung gründen«. Denn Ursprung aller Widerspräche ist »die Verbindung der zwei Naturen in Jesus Christus«. Ja: Jesuiten und Jansenisten haben beide unrecht, wenn sie die Gegensätze verschweigen, die Jansenisten aber mehr, »weil die Jesuiten deutlicher beide bekannt haben«. Aber von dieser Höhe reißt ihn die Leidenschaft hinab: denn »das Schweigen ist die schwerste Verfolgung. Niemals haben die Heiligen geschwiegen«. Die Inquisition und die Gesellschaft Jesu sind »die beiden Geißeln der Wahrheit«. Und nun macht ihn die geglaubte Wahrheit völlig frei: »Mögen meine Briefe von Rom verdammt sein, was ich in ihnen verdamme, ist im Himmel verdammt. Ad tuum, Domine Jesu, tribunal appello« (Dein Gericht, o Herr Jesus, rufe ich an). Wieder steht er allein vor Gott. Will man behaupten, er sei ein Betrüger? »Ich sage euch, daß ihr Betrüger seid.« »Ihr habt das Gericht, ihr habt den Betrug, ich habe die Wahrheit.« Und er sieht nicht mehr, daß der Mensch die Wahrheit nicht haben, daß allein die Wahrheit den Menschen haben kann.
Wieder ringt er in den abgerissenen Aufzeichnungen aus dem Streite inständig um die Höhe, um die Einsicht in die Tragik allen Streits und die ihr gemäße Haltung, um die tragische Gerechtigkeit — die dann mit Bezug auf das Irdische sein letztes Wort und seine letzte Größe sein wird —: »Ich verdiene nicht, die Religion zu verteidigen, aber ihr verdientet nicht, den Irrtum und das Unrecht zu verteidigen. Möge Gott in seiner Barmherzigkeit das Böse, das in mir ist, nicht rechnen, und möge er das Gute, das in euch ist, rechnen und uns die Gnade zuteil werden lassen, daß die Wahrheit in meinen Händen nicht Schaden leide und die Lüge nicht …« Darunter stehen die geheimnisvollen Worte: »Dii iniqui« (ungerechte Götter). »Falsche Frömmigkeit, doppelte Sünde.«
Deuten diese Worte auf das Geheimnis der Finsternis? Er hat es ausgesprochen in diesem abgründigen Fragment: »Das Böse ist bequemer, es gibt davon eine Unendlichkeit, fast einzig ist das Gute; aber eine gewisse Art des Bösen ist fast ebenso schwer zu finden wie das, was man gut nennt, und oft läßt man dieses besondere Böse deshalb als gut gelten. Eine außerordentliche Größe der Seele gehört dazu, um es zu erreichen, fast die gleiche, wie die zum Guten.« Der _ Streit führt bis an diese Stelle. Es gibt, wie Pascal erkannte, eine Vergötzung der Wahrheit und eine Vergötzung der Dunkelheit. Es gibt einen satanischen Eifer für die Wahrheit, einen Anschein der Heiligkeit, der die gefährlichste Maske des Bösen ist. Es ist eine Grenze, wo Heiligkeit und Bosheit, Wahrheit und Schein ineinander spielen, wo Lucifer sich (für die Blicke des Menschen) nicht entscheidet, wo das verblutende Lamm — Blut trinkt. Man kann Pascal nicht begegnen, ohne von diesem Mysterium zu wissen, von der unheimlichen versucherischen Beziehung des Geheimnisses der Finsternis zur Heiligkeit; denn es folgt ihr wie ihr Schatten. Auf Pascals Antlitz scheint der Widerglanz beider Abgründe zu liegen: des oberen, des unteren. Aber es steht uns nicht zu, diesen Anschein zu entscheiden.
Ohne den großen Streit wäre Pascal nicht der, der er war. Und doch: der Streit droht zu zerstören, Schicksal zu werden, aber nicht das diesem Geiste gemäße. Bewunderswert bleiben der Mut, die in der Geschichte der französischen Sprache so wichtige Ausbildung und Vollendung ironisch-aggressiver Prosa: es ist eine bewußte Leistung, wie das 920. Fragment der Pensées verrät: »Da ich sah, daß man mich verurteilte, fürchtete ich, daß ich schlecht geschrieben hätte, aber das Beispiel vieler frommer Schriften läßt mich das Gegenteil glauben. Es ist nicht mehr erlaubt, gut zu schreiben; so verderbt oder unwissend ist die Inquisition.« Doch um dieselbe Zeit — 1656—1658, es sind die letzten Jahre, in denen Pascal noch über seine Arbeitskraft verfügen kann — reift der grandiose Plan der Apologie des Christentums; entsteht sie, ein vielleicht unvollendbares, weil einer jeden Systematik überhobenes Unternehmen, in Fragmenten, diktierten Notizen, deren völlig überzeugende Anordnung wohl nie gelingen wird. Pascal bleibt Fragmentist, und zwar aus dem Wesen seines Vorhabens; das Christentum ist das gebotene Unvollziehbare, und nicht anders verhält es sich, auf der entsprechenden Ebene, mit der Wissenschaft: immer dann, wenn sie meint, auf der Fährte der den Kosmos umfassenden Formel zu sein, muß sie erkennen, daß alles sich scheinbar Vereinfachende maßlos kompliziert.
Wir müssen zurück zum Ereignis des 23. November 1654. Das scheint eine Erschütterung zu sein, nicht unähnlich der von Descartes am 10. November 1619 im Winterlager von Neuburg an der Donau erfahrenen. Ein jedes bedeutende Weltbild, auch das rationalste, geht auf eine Vision zurück. Aber die vor Pascal erschienene neue Wissenschaft ist keine Lehre: sie ist der Gottmensch in Fleisch und Blut; sie ist das Feuer »eine halbe Stunde nach Mitternacht«, das Feuer und die Freude. Die Wahrheit begnadet, entmachtet den, der sie gekreuzigt hat. Von da steht Pascal unwiderruflich in Dienst. Der von Größe und Elend Zerrissene, der Weltmann, Mathematiker, Skeptiker, der Rigorist und Spieler, allen Gefahren des Denkens Unterworfene wird ins Feuer gerissen: »Alle diese Widersprüche, die mich am meisten von der Erkenntnis, von der Religion zu entfernen schienen, haben mich am raschesten zur wahren geführt.« Das ist der Plan der Apologie. Sie ist an Weltleute gerichtet, an den freisinnigen Kavalier; ihn will sie anreden; man soll aber zu Menschen nur von Dingen reden, die sie angehen. Das ist die eigentümliche, so oft mißachtete Klugheit Pascals. Keine natürlichen Schlüsse! Keine Beweise! Wenn der Mensch, die Mitte zwischen Engel und Tier, sich selbst begegnet, seinem Elend, seiner peinigenden Größe: so begegnet er dem Erlöser. An Christus wird er sich selbst erkennen und an sich selbst wieder Christus. »Es ist das Herz, das Gott spürt, und nicht die Vernunft.« Die Logik des Herzens ist die Wissenschaft von Jesus Christus, von der heiligen Paradoxie des in das menschliche Elend, in Schmach und Agonie sich herabbeugenden, hüllenden Gottes. Dieser Widerspruch zerklüftet alle Beziehungen in Leben und Weltbild; Ruhm und Schmach, Weisheit und Torheit, Recht und Unrecht, Offenbarsein und Verborgenheit bedingen, steigern einander. Denn das Christentum beruht auf diesen zwei unbegreiflichen Wahrheiten: auf Fall und Erlösung. Die Lehre von der Erbsünde ist »ohne Vernunft«. Es war, wie Pascal an Mlle. Roannez schreibt, leichter, Gott zu erkennen, da er unsichtbar war, als jetzt, da er sichtbar ist. Sichtbar ist er ja nur unter der Verhüllung von Brot und Wein. Alle Dinge sind Schleier, die Gott verbergen, und ebenso verbirgt zeitliche Betrübnis das Heil und zeitliche Freude das Unheil. Gott ist weder völlig abwesend, noch offenbar gegenwärtig, im tiefsten: Deus absconditus, der erleuchtet und blendet nach unerforschlichem Willen. Eine Religion, die nicht lehrt, Gott sei verborgen, kann die wahre nicht sein. Darum kann das Alte Testament nur als eine Fülle von Sinnbildern verstanden werden: ein Sinnbild enthält »zugleich Abwesendes und Gegenwärtiges, Gefallen und Mißfallen«. Opfer, Zeremonien, Zahlen, Chronologie, Genealogie, das heilige Land als »Ort des Friedens« (der es nicht war) sind entweder »Sinnbilder oder Torheit« — eben Sprache der Religion, die von »unendlicher Weisheit und Torheit« ist. Die Juden, abstammend von »einem einzigen Menschen«, sind Familie, alle »eines Blutes und miteinander verwandt«; dieses Volk ist »einzigartig durch seine Dauer« und als Hülle des Gottmenschen; es ist sein ungenähter Rock. Wäre Jesus nur gekommen zu heiligen, so wäre es leicht, die Ungläubigen zu widerlegen; aber Jesaja sagte das Geheimnis, daß der Erlöser kommen werde in sanctificationem et in scandalum: zur Heiligung und zum Ärgernis; mit Absicht hat Christus nicht gesagt, daß er nicht aus Nazareth, nicht der Sohn Josephs sei; darauf weist auch »die offenbare Nichtübereinstimmung der Evangelien«. Der Gegenwärtige verhüllt sich; er zeigt sich unverschleiert denen, die ihn von ganzem Herzen suchen, und verbirgt sich denen, die ihn von ganzem Herzen fliehen, erkennbar für die Gerechten, unerkennbar für die Ungerechten. Das ist das immer wiederkehrende Argument des sich seiner Erwählung bewußten Pascal: »Die Gerechten irren sich nicht«. Im Menschen ist ein mächtiger Grund der Größe und ein mächtiger Grund des Elends: Christus ist die Antwort auf diesen »erstaunlichen Widerspruch«: ihn zu erfüllen ist der Herr gekommen, unendlicher Abgrund, der sich in den Abgrund senkt. In sich selbst fühlt Pascal einen Abgrund an Stolz, Neugier, Begierde. Er könnte, wie der Herr zu ihm sagt, ihn nicht suchen, wenn er ihn nicht schon gefunden hätte. Aber Christus ist »sündig« geworden um seinetwillen; Christus ist »erbärmlicher« als er. Des Erlösers unauflösbare geschichtliche Verhüllung aber ist die Agonie: »Bis an das Ende der Welt wird die Agonie Jesu dauern; nicht schlafen darf man bis dahin.« Das heißt: Geschichte ist seit der Menschwerdung das Sterben Jesu Christi unter uns, in uns; das geschichtliche Leben des Christen ist Wache unter dem Kreuze des Sterbenden, über dem sich der Himmel verhüllt, Ausharren in der Finsternis, die nach den Worten des Psalmisten Licht ist vor Gott. Wohl hat Tertullian davor gewarnt zu glauben, »daß das Leben des Christen ein Leben voll Schwermut« ist (an Mlle. Roannez): aber die Freude, Gott gefunden zu haben, ist auch der »Beginn des Schmerzes, ihn beleidigt zu haben«. Das Wort von der Agonie weist auf den irdischen Streit: daß sie Gott mit der Welt vereinen wollen, ist Pascals Vorwurf an die Jesuiten, aber es ist weit mehr: das eigentlich kennzeichnende Wort seines Lebensgefühls und zugleich Zusammenklang mit der Mystik der großen Teresa und des Johannes vom Kreuz.
Dies alles sind »Gründe des Herzens«, gültig in der obersten der drei Ordnungen, die Pascal unterscheidet; es ist die Ordnung, in der das Leben des Christen sich vollenden muß. »Das Herz hat seine Ordnung; der Geist hat die seine, er fordert Grundsätze und Beweise; das Herz kennt eine andere. Man beweist nicht, daß man uns lieben solle, durch die Darlegung der Ursachen der Liebe, das wäre lächerlich.« Die erste Ordnung ist die des Fleisches. Es ist eine Weisheit (der Liebe), die nirgends ist, es sei denn in Gott: sie ist »unerkennbar« den geistigen und fleischlichen Menschen. Denn — das muß wiederholt werden — die wesenhafte Wahrheit, die völlig reine, ist unerreichbar auf Erden; hier ist ein jegliches Ding »zum Teil wahr, zum Teil falsch«, zum Teil gut, zum Teil schlecht; alle Wahrheit ist mit Unwahrheit (oder ihrem Widerspruch), alles Gute mit Schlimmem vermischt. Die Ordnungen heben einander nicht auf, können einander nicht aufheben; sie sind so verschieden, daß sie sich gar nicht berühren, und zerfallen wieder in sich selbst in nebeneinander bestehende Rechtsbezirke oder Geltungsbereiche. Wie Pascal die Theologie von der Wissenschaft abgegrenzt hat, jene streng unterworfen der Autorität der Offenbarung, diese der Autorität der Evidenz und des Experiments, so sind auch Kreise im Reiche der Liebe, die übereinander schwingen, und Rechte neben Rechten im Reiche des Fleisches, und damit geschichtlicher Macht. Das Volk, die Weisen, die Frommen, die wahren Christen bilden auf Grund der ihnen gemäßen verschiedenen Einsichten vielfältig-gegensätzliche Meinungen. Die Systeme bestehen nebeneinander; innerhalb der Koordinatensysteme aber regieren Gesetze, die sich durch alle Systeme als Hierarchien der Kräfte und Werte und Weisen der Wirkung wiederholen. Doch kann, was in dem einen geschieht, ohne Transformation (nach dem Gesetz der Analogie) in das andere nicht übertragen werden. Dieses überraschend moderne Weltbild ist wohl von Pascal erfahren und eingesetzt — und zwar in der geschichtlichen Stunde, die seiner bedarf; es ist aber eine ursprünglich christliche Konzeption, im Grunde Offenbarung. »Aber eine andere Herrlichkeit haben die himmlischen Dinge und eine andere die irdischen.« Und »es ist mancherlei Art Stimmen in der Welt, und derselben keine ist undeutlich«, heißt es im 1. Korintherbrief (15,40 und 14,10). Mit voller Deutlichkeit erscheinen die drei Ordnungen Fleisch, Geist und Liebe im Gespräch des Herrn mit Nikodemus: »Was aus dem Fleische geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geiste geboren ist, das ist Geist« (Job. 3,6). Und »wenn ich Irdisches rede und ihr nicht glaubet, wie werdet ihr, wenn ich zu euch Himmlisches rede, glauben? … Und niemand steigt in den Himmel hinauf, als der vom Himmel herabgestiegen ist, nämlich der Menschensohn, der im Himmel ist« (3,12—13). Das heißt der Himmlische, der unter uns redet, kann gar nicht auf Erden sein. Er ist (wesenhaft) im Himmel. Die Ordnungen gehen scheinbar ineinander ein, wesenhaft nicht. Aber das Gesetz der »Nachahmung«, Gesetz des Geschaffenen überhaupt, durchwaltet sie und vereint sie in ihrem Getrenntsein, sich wiederholend hinter den Scheidewänden der Unendlichkeiten.
Unter dieser Konzeption führt Pascal die Kritik des Staates, der Gesellschaft, die Untersuchung des Wertes und Unwertes staatlicher Macht. Wie die Wahrheit, so ist auch das absolute Recht nicht erreichbar, im Grunde Wahn, Mode, ein Geflecht aus Geglaubtheiten: »Das Vernunftloseste auf der Welt wird das Vernünftigste, weil es bei den Menschen keine vernünftige Ordnung gibt.« Das wird an der monarchischen Erbfolge erläutert: unter den Reisenden eines Schiffes würde man nicht den Vornehmsten mit der Führung betrauen, sondern den Geschicktesten. Dasselbe wäre vernünftig im Staat. Da wir aber dann sofort ins »Handgemenge« kommen, und sich ein jeder für den Tugendhaftesten und Geschicktesten hält: so ist das Unvernünftige vernünftig und gerecht, und der älteste Sohn des Königs soll König werden. Launen und Hirngespinste wurden erhaltender Brauch; an sie banden sich die Mächtigen, und diese binden das Volk. Erhaltender Wahn ist die Meinung, gerechte Gesetze zu haben, während »ein Längengrad über die Wahrheit entscheidet«. Ein Mensch hat das Recht mich zu töten, ich habe es über ihn »nur weil er jenseits des Wassers wohnt«. Wahn und Unrecht ziehen, verteidigen die politischen Grenzen. Widerrechtlich ist jede Besitzergreifung auf der Erde. Aber nichts ist törichter, als zu glauben, man müsse zu den Ursprüngen zurück: das ist das sicherste Mittel, um alles zu verlieren und die Staaten umzuwerfen. Da die Kardinalfrage, die gültige Rechtfertigung der Macht, unlösbar ist und dennoch die Macht so wenig ohne Recht bestehen kann wie das Recht ohne Macht, so »machte man das, was mächtig ist, Rechtens«. Immer droht die »Muskelkraft« die Maske anzugreifen, kann »ein Soldat das Barett des Gerichtspräsidenten ergreifen und aus dem Fenster werfen«.
In dieser Ordnung der Körper, des Fleisches liegt »auf dem Grunde nur der Haß«; sie ist der Bereich des »bösen Gelüstes«; ein jedes Ich steht in Todfeindschaft zum andern. Aber wieder spricht der zweite Gedanke: nichts ist Pascal ferner als relativierende Aufhebung der Macht; ganz im Gegenteil: gerade auf dem bösen Gelüste wird die Macht gefestigt von Gnaden der Notwendigkeit. Aus der Natur kommt kein Rechtsanspruch, sondern aus der Satzung; der Obrigkeit soll gehorsamt werden, nicht weil sie im Rechte ist, sondern weil sie Obrigkeit ist. Und es ist höchst gefährlich, dem Volke den Glauben zu nehmen (oder vielmehr den Wahn), daß im Gesetze Wahrheit, in der Herrschaft Recht sei: denn dann ist der Bürgerkrieg nicht zu vermeiden. Der König ist also im Rechte als »König des bösen Gelüstes«; und bewundernswerte Ordnungen der Politik, der Sittlichkeit wurden auf dem bösen Gelüste gegründet. — Die Macht ist in ihrer Ordnung im Recht, die Geistigen haben keine Macht — und die Macht hat keine Achtung für sie. Unterliegend in der Ordnung des Fleisches siegen sie in der ihren. Den Königen, den Reichen, den Kriegshelden sind sie »unerkennbar«.
In den Vorträgen für den Prinzen von Luynes, die um 1660 von Nicole aufgezeichnet wurden, wird ein künftiger Herzog vor diese Einsicht gestellt. Seine Rechte beruhen allein auf der Satzung; es gibt aber eine Größe der Satzung und eine natürliche Größe des Menschen. Zur Satzung haben sich die Menschen willentlich entschlossen: so wurden Würden und Adel gestiftet; die natürliche Größe beruht auf Tugend, Geist, Eigenschaften. Aber ein Unrecht ist es, die beiden Größenordnungen zu verbinden und die der Satzung gemäßen Ehrungen für den Menschen in Anspruch zu nehmen: »Denn während ich Ihnen die äußeren Ehrenbezeugungen erwiese, die das Gesetz der Menschen Ihrem Herkommen verbunden hat, so würde ich nicht verfehlen, innerlich für Sie die Verachtung zu empfinden, die die Niedrigkeit Ihres Geistes verdienen würde.« Nur von Gnaden des bösen Gelüstes wird der Jüngling zum Fürsten werden; das allein bindet die Menschen an ihn.
Was aber bleibt? Und wie soll der Fürst nun herrschen? »Was ich Ihnen sage, führt nicht sehr weit, und wenn Sie dabei verbleiben, werden Sie sich trotzdem zugrunde richten, aber Sie werden wenigstens als rechtschaffner Mensch zugrunde gehen.« Wenn das Pascal wirklich gesagt hat — wir haben nur eine spät veröffentlichte Nachschrift —, so bewies er den Mut, die letzte Konsequenz seiner Theorie zu ziehen: ein Fürst von dieser Einsicht, »der wahre König des bösen Gelüstes«, der als Wissender Härte zu meiden sucht, weil eben das Böse gar nicht aufzuheben ist im gefallenen Menschen und das Fundament seines Reiches bleibt — ein solcher Fürst wird sich zugrunde richten. Er muß es an dieser Stelle. Aber — nun spricht der radikale Christ, nicht mehr aus der Ordnung des Geistes, sondern der Liebe: für ihn ist es »Torheit«, an dieser Stelle stehen zu bleiben und sich damit — denn das ist unvermeidbar — um die Seligkeit zu bringen. »Man muß das böse Gelüsten und sein Königreich verachten und nach dem Königreich der Gottesliebe streben, in dem alle Untertanen nur in der Liebe zu Gott atmen und nichts wünschen als die Güter der Gottesliebe.« Christus war ja, wie Pascal an anderer Stelle sagt, nicht »Denker«; er war und ist die Liebe. Über alles (über alle drei Ordnungen) soll Gott herrschen und alles soll sich auf ihn beziehen. »Was bleibt aber dann für den jungen Herzog? Und für Pascal? Sie können nur solitaires werden in Port Royal — oder leben, wie Spinoza um diese Zeit, verfemt und frei, in einem Landhause an der Straße von Amsterdam nach Overkerke und dann in Hinterstuben im Haag lebt. Der, dem die höchste Ordnung befiehlt, ist von den anderen Ordnungen strenge geschieden; doch bestehen sie fort im Recht ihres Unrechts, unabhängig wie geometrische Ordnungen voneinander unabhängig sind. Der Herausgerufene geht den Weg zu Christus: in seine Niedrigkeit. Und diese gründet nicht in der Ordnung seiner Größe. Christi Größe ist sein Tod, das Versagen der Seinen; seine Auferstehung, die Verhüllung, nicht Enthüllung war.
Nach dem Jahre 1658 schien die Arbeitskraft Pascals zu erlöschen, keineswegs aber die Klarheit seines Geistes, wie Voltaire von diesem »Misanthrope sublime« behauptete. Die letzten Jahre sind ein Dahinsiechen in erbittertem Streit mit der Welt, aber auch dem bösen Gelüste, das ja nicht sterben kann. »Dieweil wir im Leibe wohnen, so wallen wir ferne vom Herrn« (2. Kor. 5,6). Sobald er die geringste Freude empfand, züchtigte er sich durch einen Schlag mit dem Ellenbogen auf den Stachelgürtel, den er unter den Kleidern trug. Seit von den Anhängern des Jansenius die Unterzeichnung eines vom französischen Klerus aufgesetzten Unterwerfungsformulars gefordert wurde (1657), verschärften sich die Kämpfe. Sie sollen hier nicht geschildert, konnten auch nicht hinreichend erforscht werden. Wichtige Dokumente, die entscheidenden Erwiderungen Pascals, der grand ecrit, fehlen. Ende 1661 starb Jacqueline, die Pascal wohl am meisten unter allen Menschen geliebt hat; sie beide waren füreinander religiöses Schicksal. Er nahm die Nachricht mit einem einzigen Satze auf und tadelte später die Klage über den Tod der Gerechten. Endlich muß er empfunden haben, daß seine Stellung unhaltbar war. Doch auch die innere Ferne von Port Royal — die uranfängliche Einsamkeit seines Geistes und seiner Art — ließ sich nicht mehr verbergen. Plötzlich verwarf er die so lange mit Starrsinn festgehaltene Unterscheidung zwischen Recht (und Lehre) und geschichtlichem Faktum. Damit war die Ausweichstellung von Port Royal verlassen, wo man noch immer — das war die verzweifelte Anstrengung der Nonnen und ihrer Verteidiger — päpstlich sein wollte gegen den Papst. Das kann aber nur bedeuten, daß Pascal bereit war, sich dem schwersten Konflikt zu stellen. Die Lehre des Jansenius ist für ihn geoffenbarte Wahrheit, das echte christliche Erbe; wer ihr entgegen ist, er sei, wer er wolle, ist in der Wahrheit nicht bestanden. Furchtbarer noch als die Beschuldigung Arnaulds und Nicoles ist Pascals Vorwurf an den Papst: »er habe die teuflische Intention gehabt, den Lehrsinn des Jansenius zu verurteilen« (zitiert nach Guardini). Nun geht es nicht mehr um den Wortlaut. Es geht um den Sinn. Und das führt, auf der Linie des Denkens, des Geistes, zum Bruch. Im Streit um die Wahrheit entbrennt der Haß.
Aber Gilberte berichtet von einem heiligmäßigen Ende. Der Bruder kann sich nicht genug tun in frommen Übungen; er legt sich einen Almanach an, um kein Fest in einer Kirche, keine Aussetzung einer Reliquie zu versäumen; von ihm erwiesene Wohltaten werden erst nach seinem Tode bekannt. Die Gründung einer Omnibusgesellschaft zeigt, wie nahe er seiner Umwelt blieb. Mächtig zieht es ihn zu den Armen: mit ihnen möchte er leiden und sterben. Psalmworte trösten ihn; er beichtet jedesmal, wenn der Pfarrer von Saint Etienne ihn besucht, und ist vor diesem demütig wie ein Kind. In der Stille dieser Andacht verstummt der Streit. Der Sieg ist nichts, alles die Wahrheit der Liebe. Wir haben keine ausreichende Begründung für dieses Verstummen. Aber wir bedürfen ihrer auch nicht. Wie die Heiligen sich verzehrten nach Gott, so dürstet Pascal nach dem Sakrament. Er glaubt den Ärzten nicht, deren Zeugnis ihm noch immer das Sakrament entzieht. Von der Eucharistie hatte er Mlle. Roannez geschrieben: »Das ist das innerlichste Geheimnis, in dem Gott sich verbergen konnte.« Sie ist der Deus absconditus, für den er gelebt hat. Er gibt die umkämpfte Wahrheit nicht auf. Noch kurz vor seinem Tode soll er gesagt haben, daß er die Streitbriefe ein zweites Mal schreiben würde. Aber das eine ist gewiß: daß er auf das Sakrament nicht verzichten kann. Und vielleicht hat er eine Art Kreuzigung durchlitten zwischen der Wahrheit seines Kampfes und Glaubens und dem Ruf der Liebe. Es ist aber nur die Folgerichtigkeit seiner Einsicht, seines Denkens, das Leben war, daß er zuletzt in die höchste Ordnung aufstieg, in die oberste Sphäre seiner Weltsicht. Denn keine Wahrheit des Geistes ist ganz wahr. Je teurer sie uns aber ist, um so eher werden wir sie opfern dürfen auf der Stufe zur dritten, zur allumfassenden Ordnung.
Die Gründe des Herzens haben entschieden; sie mußten es. »Möge Gott mich nie verlassen!«: diese letzten Worte (1662, 21. August) richten sich an den furchtbaren Gott. »Ich hätte Dir vieles zu sagen, was sich ganz im Verborgenen vollzieht«, hatte der sich in Todesschatten Verhüllende an Gilberte (1661) geschrieben. Und in dem letzten erhaltenen Brief aus demselben Jahre an einen Freund in Clermont findet er die Kraft, das Recht seiner Feinde anzuerkennen, ohne im mindesten von seiner Haltung abzuweichen: »der gleiche Beweger, der unser Handeln bewirkt, veranlaßt andere, sich uns zu widersetzen … und da nicht unser Geist die fremden Gewalten bekämpft, sondern ein Geist das Gute bewirkt und das Böse erlaubt, so vermag diese Gleichförmigkeit den Frieden der Seele nicht zu zerstören.« Ähnliches hat Paulus gemeint, als er den Korinthern schrieb: »Denn es müssen Parteien unter euch sein« (1. Kor. 11, 19). Nun erkennt Pascal die Sendung im Gegner, wie er.die Sendung erkannte in sich selbst: der Konflikt mit Port Royal hat ihm diese Einsicht eröffnet: es ist dieselbe Macht, die die Frömmigkeit der einen Partei erweckt und die Kraft ihrer Widersacher stärkt. Wir aber verwechseln nur zu oft »den Sieg mit der Wahrheit«. Die Wahrheit aber ist verborgenen Gottes Ordnung; wenn wir den Triumph seiner Gerechtigkeit, die zugleich seine Barmherzigkeit ist, ersehnen: dann wird unser Geist gleich ruhig sein, ob nun die Wahrheit erkannt oder bekämpft wird.
Somit ist alles Sendung, was im Kampfe um das Reich Gottes geschieht; die Feinde sind mir gesetzt; ich muß sie bekämpfen, aber durch ihr Antlitz schimmert eine Bestimmung; wir beide haben nur Teile der Wahrheit und werden von der Wahrheit entmachtet werden, wenn sie in der höheren Ordnung offenbar wird. Sie wird nicht relativiert — so wenig wie die Macht durch die Erkenntnis ihrer Fragwürdigkeit —; denn im Streit der Erde herrscht ein ehernes Soll. Aber durch die Leidenschaft, die Erbitterung weht eine Ahnung dieser Gemeinsamkeit, die auf der nicht aufzuhebenden Tragik innerhalb der irdischen Ordnung gegründet ist. Von hier weitet sich der Blick auf Geschichte überhaupt: Notwendigkeiten stehen gegeneinander; der Sieg ist nicht das Ziel: der eigentliche kann gar nicht gewonnen werden. Auch die Niederlage kann Bestimmung sein. Im höchsten Falle ist der Kampf die Hülle der Wahrheit.
In der Mitte zwischen den Unendlichkeiten hat sich Pascal behauptet. Denn es gibt deren viele: im Raum, in der Zahl, der Zeit, im Menschen, unter ihm, über ihm. Das Motiv der Unendlichkeit wurde ja in jenem Jahrhundert mit unerhörter Machtfülle angestimmt: im Denken, Fragen, Forschen, in der Architektur, in den Perspektiven der Malerei und der Gartenkunst, deren Alleen und Flächen in das Grenzenlose fliehen, wie sie Spengler gedeutet hat. Gegen die Unendlichkeit behauptet sich in Pascal der Geist: »Alle Körper, das Weltall und die Sterne, die Erde und ihre Königreiche wiegen nicht die geringste Regung des Geistes auf, denn der Geist erkennt das alles und sich selbst, und die Körper: nichts.«
Als er in vollem Bewußtsein in der letzten Ordnung entschwand, in ihr sich verbarg, hatte er ein Weltbild von großartiger Geschlossenheit vollzogen. Vielleicht ist es das modernste christliche Weltbild. Es ist aufgebaut auf Einsichten der Mathematik und Geometrie, offen für alle Erkenntnisse, die bewältigten und die noch kommenden unbewältigten, auch die bestürzenden, für alle Tiefen des Raums, der Größe wie des unfaßbar Kleinen; für Widersprüche, die tragische Gegensätzlichkeit unseres Geistes und Wesens, die wir als Gefallene Berufene sind. Unabänderlich wie die einander herausfordernden, anfeuernden Schmerzen und Verheißungen ist das Widereinander geschichtlicher Notwendigkeiten, die Dialektik in der Bewertung und Verwaltung der Macht. Da Pascal immer den Menschen meinte, so hat er auch das Wesen des Geschichtlichen, des Geschehens zwischen Unendlichkeiten ausgesprochen. Nur scheinbar hat er durch seinen Verzicht (der höchste Bejahung war) sich der Geschichte entzogen. Wir können nichts tun, was nicht geschichtlich ist. Gerade Pascals letzte Wende ist geschichtliche Tat.
Er ist kein Gesetzgeber, und zwar gerade als Christ ist er es nicht. Seine Antwort, seine Entscheidung sind personal. Schroff verbietet er sich die Nachfolge: »Unrecht ist es, daß man sich an mich hängt.« Er wird nur enttäuschen. Denn er ist keines Menschen Ziel: in ihm ist das Ziel, das Gott ihm gesetzt hat, und das ist verdeckt. Was die Menschen sehen, ist sterblich. Und die sich an ihn hängen, fesseln sich an Sterbliches. Sie sollen ihr wahres Ziel suchen, und er wird sie mißhandeln mit seinen Einsichten, bis sie begreifen, daß der Mensch »ein unbegreifliches Unwesen ist«.
Pascal fordert den Widerspruch heraus und hat ihn schon einbezogen. Er hat mit solcher Meisterschaft die Stimmen seiner Gegner geführt, daß er als Verzweifelter oder auch Skeptiker aufgefaßt werden konnte. Lächelnd — mit dem in seiner Totenmaske vollendeten Lächeln — hätte er es hingenommen als Hülle seiner Wahrheit. Unverhüllt kann die Wahrheit ja gar nicht sein. Der Geist ist machtlos in der Ordnung des bösen Gelüstes, unerkennbar, scheinbar nicht da. Und auch Gott macht sich in gleichem Maße erkennbar, als er sich unerkennbar macht. So auch weht um das Heilige ein Schein der Bosheit, um den höchsten Eifer ein Schatten der Dämonie, um Jesus Christus die Frage: ob er des Zimmermanns Sohn sei oder ob er rase. Und im Schatten dieser Frage steht die von Christus gegründete Kirche, deren Grenzen wir nicht kennen, steht der Christ. Er ist im wesentlichen ein Fragender; aber nach Pascals Meinung sollte er jede Frage wagen. Denn die Antwort ist der im Fleische und in der Todesangst verborgene Gott.
Quelle: Pascal. Ausgewählt und eingeleitet von Reinhold Schneider, Frankfurt a.M.: Fischer-Bücherei, 21955, S. 7-37.
[1] Egmont Colerus: Von Pythagoras bis Hubert. 1948.
[2] Othmar Baier: Der Mathematiker und Physiker Pascal, in: »Vermächtnis eines großen Herzens«. Dieterida, Leipzig.
[3] Zitiert nach Romano Guardini: Christliches Bewußtsein. Versuche über Pascal. Leipzig 1935.
[4] Nach Karl Bihlmeyer, Kirchengeschichte, 1934, 3. Teil.