Predigt zu Römer 3,22 über Gottes Gerechtigkeit (1893)
Von Christoph Blumhardt
Die Gerechtigkeit vor Gott kommt durch den Glauben an Jesum Christum zu allen und auf alle, die da glauben. Röm. 3, 22.
Das ist ein Spruch, der durch die Übersetzung ganz entstellt ist. Eine „Gerechtigkeit vor Gott“ in dem Sinn: meine Gerechtigkeit, die ich mir durch Glauben aneigne, soll vor Gott gelten, die gibt es gar nicht, sondert: es heißt in der Bibel immer und so auch hier: Gottes Gerechtigkeit ist offenbar geworden durch den Glauben an Jesus Christus für alle, die da glauben. Das ist etwas total anderes. Wir sollen nicht subjektiv fragen: Werde ich gerecht vor Gott? sondern wir sollen fragen: Wie kommt Gottes Gerechtigkeit über mich? Objektiv. Machet eure Ohren auf! ich sags noch einmal: wir sollen nicht fragen: werde ich gerecht vor Gott? sondern wie kommen wir zu der Gerechtigkeit Gottes? In der Bibel steht nie: „Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“ — das hat Luther bloß so übersetzt, weil er einen falschen Gedanken im Kopf hatte, da mußte die Bibel sich beugen; in der Bibel steht immer „Gottes Gerechtigkeit“ und diese kommt durch den Glauben, nicht durch das Gesetz. Nicht Gesetzlichkeit bringt uns Gottes Recht und Wahrheit, sondern unser Verhalten im Glauben zu Gott bringt uns Gerechtigkeit Gottes. Um diese handelt es sich, um die Gerechtigkeit Gottes. In der Welt kann nichts werden, auch mit dir nicht — du bemühst dich ganz umsonst, und wenn du bis aufs Tüpfelchen all dein Leben aushebst, wie brav und gut du sein wollest, und wenn ihr eine Gesellschaft gründet, die ganz spiegelglatt ist, da die Leute kaum mehr lachen, geschweige denn tanzen, oder ins Wirtshaus gehen, sondern deren Tageslauf bloß ist: Aufstehen, beten, arbeiten, beten, essen, beten, schlafen, beten — machet eine solche Gesellschaft, damit wird der Welt nicht geholfen! All dein Bemühen, daß du gerecht seist vor Gott, ist lauter, lauter verlorene Zeit. Weißt denn du, ob es nicht einmal Gerechtigkeit Gottes ist, daß du tanzen sollst? wenn es dem lieben Gott gefällt, daß du einmal tanzest, warum tanzest du denn nicht? hat nicht David auch einmal tanzen müssen um Gottes willen? Ja das gefallt mir aber nicht, sagst du — da kommt die Gesetzlichkeit gegen die Gerechtigkeit und die Gesetzlichkeit schlagt die Gerechtigkeit tot.
Kann denn eine Gerechtigkeit Gottes heute noch in den Kirchen reden? Wie ihre Gesetzlichkeiten sind, so muß die Gerechtigkeit Gottes sein. So kommen wir in Aberglauben und Unsitten, weil wir unsere Gerechtigkeit vor Gott suchen und das ist falsch. Du sollst nicht gerecht sein, Gott will gerecht sein. Du sollst nicht dich selbst suchen, du kannst es nicht, es reicht zu nichts! was willst denn du etwas tun, daß Gott soll an dir geehrt sein? Du kannst nur sorgen, daß Gottes Gerechtigkeit in die Welt kommt, das mußt du besorgen, indem du dich für Christus aufopferst und sagst: Nicht ich lebe, Christus soll leben, durch ihn kommt die Gerechtigkeit Gottes. So wie du bist, kann Gottes Gerechtigkeit an dir offenbar werden. Du kannst eine Gerechtigkeit Gottes repräsentieren, während du krank bist; freue dich! Du kannst eine Gerechtigkeit Gottes repräsentieren, während du in Anfechtung und Not stehst; freue dich! Gott will, daß du ihn in seiner Gerechtigkeit machen lässest; es liegt eine Bestimmung Gottes darin, daß wir Kämpfe haben müssen, und es hat nichts zu sagen, wenn wir uns als Sünder vorkommen, wenn wir nur wissen: Gott handelt mit uns, wie er will. Wir müssen nicht uns suchen und unsere Gerechtigkeit, wir müssen suchen, daß Gott in die Welt komme mit seinem Recht. Und wenn er auch sagt: Wenn ich komme, werdet ihr erst recht Sünder sein, so müssen wir jauchzen und gern Sünder sein, wenn nur Gott kommt mit seinem Licht! Denn wenn ich auch kohlschwarz bin, so weiß ich doch: wenn das Licht der Gerechtigkeit Gottes kommt, so werde ich wohl verbrannt, aber ich stehe neu auf in der Gerechtigkeit Gottes.
Diese Objektivität ist in der Christenheit total verloren gegangen. Wir wollen vor Gott bestehen — ich, ich, ich! O, du armer Mensch, sorge du nicht, wie du vor Gott bestehst, sorge, daß Gott mit seiner Gerechtigkeit an dich kommen darf, ob du bestehst oder nicht! Und wenn er dich zusammenschlagen muß, freue dich, du darfst wieder aufstehen hintendrein; aber zunächst handelt es sich nicht darum, daß du etwas gewinnst, sondern es handelt sich darum, daß Gott etwas gewinnt. Die größte Gesetzlichkeit, um gerecht zu sein vor Gott, hat die katholische Kirche eingeführt, aber wenn die Engel selbst dafür einstehen würden, so ist es dennoch eine Lästerung Gottes. Wo soll denn ein einziges Wörtlein der Gerechtigkeit Gottes noch ankommen bei einer solchen Gesetzlichkeit? Und wenn wir Evangelische mit unseren Glaubensregeln alles einrahmen, wissen wir denn, ob das der Gerechtigkeit Gottes gefällt? Sei doch lieber ein freies, zerstreutes Volk, dem aber Gott wenigstens etwas sagen kann, das folgen will, wenn die Gerechtigkeit Gottes kommt. Gib dich doch her, daß Gottes Gerechtigkeit dich schütteln und rütteln darf. Wolle nicht, daß man dir eine Gerechtigkeit zurechnet, das wäre ja ein halber Betrug, als wollte der liebe Gott sagen: es macht nichts, wenns auch nicht sauber bei dir ist, ich will nicht hinsehen, glaube eben nur, daß dir Gerechtigkeit angerechnet wird. Nein, aufrichtig muß die Gerechtigkeit Gottes in die Welt hinein, sonst nutzt alles Christentum nichts! Was ist denn für eine Welt bei uns? Eine christliche, ja! aber voll Ungerechtigkeit! Gott will aber bei uns wohnen, er will, daß wir ihm Bahn machen, daß er persönlich das Regiment führe in jedem Herzen. Deswegen ist Christus gestorben und hat gesagt: Sterbet mit mir, damit unser Gott komme, damit seine Gerechtigkeit komme auf Erden, freuet euch auch, wenn alles zerstört wird, wenn Leib und Seele Schmerzen leiden und Not, freuet euch! Die Gottesgerechtigkeit muß offenbar werden über allem Fleisch.
Wenn aber das herauskommt, was der liebe Gott gerecht heißt, da werdet ihr noch sonderbare Gesichter machen. Wir wissen gar nicht mehr, was recht ist und was dem lieben Gott gefällt. Nichts was wir so haben und treiben, auch nichts was ich hier in meinem Bad Voll lebe, gefällt dem lieben Gott ganz. Nur eines gefällt ihm: daß er sieht, es gefällt mir nicht; das, daß ich sage: Ich möchte kaput gehen mit meinem Haus, weil kein Eckchen drin ist, was ganz recht ist — das allein erhält mich! Alles was wir treiben, im Essen und Trinken, im Schlafen, im Arbeiten, in allen Sachen, es ist noch nirgends Gerechtigkeit, wir verstehen es noch gar nicht, wir haben noch nicht genug Gott Bahn gemacht und deswegen sind wir so ratlos in vielen Sachen. Und doch muß schließlich durch Gerechtigkeit und Gericht die Welt gerettet werden, und so müssen wir uns eben kreuzigen und Mühe geben, vielleicht wird dann Gottes Gerechtigkeit noch offenbar, seis in Gericht seis in Wohltun, mir soll alles recht sein. Ehe diese Gerechtigkeit aufgebaut ist, können wir vor die Völker nicht hintreten. Eine Predigt des Evangeliums, hinter der lauter Ungerechtigkeit ist, hat nicht viel Wert. Wir wissen ja gar nicht, ob es dem lieben Gott recht ist, wenn wir zum Beispiel in die Kirche hineinsitzen. Wenn du die ganze Woche gearbeitet hast und müde bist, so ist es unter Umständen gerecht, wenn du im Bett liegen bleibst, und es kann eine Schmach für Gott sein, wenn du deinen zerbrochenen Leib auf die harten Kirchenstühle bringst. Gott will uns leiten nach der Wahrheit des Lebens; da kann das Beste verachtet werden von Gott, weil eine Lüge darin ist und es kann heißen: Gehet mir weg mit eurem Geplärr! suchet Gerechtigkeit und nicht Gesetzlichkeit.
Ich weiß nicht, ob ihr mich verstehet, aber so müssen wir uns herumdrehen. Es ist freilich schmerzlich, wenn man geglaubt hat bis zum 50. Jahr, man müsse die eigene Gerechtigkeit suchen, und auf einmal sieht man, man hat sich getäuscht, es war alles umsonst. Aber ich habe mich jetzt herumgedreht, ich kann gar nicht mehr an mich denken und ich weiß, daß viele der Meinigen es auch nicht mehr können — nur noch für Gott entbrennen wir. Es kann der Welt nur geholfen werden, wenn so ein Volk entsteht, das nur für Gott entbrennt. Wenn wir nicht dafür einen Eifer bekommen und die ungerechten Verhältnisse fahren lassen wollen, so kommen wir nie durch. Nur wenn wir entbrennen für den Glauben an Christum, der die Gerechtigkeit und das Gericht bringt, nur dann haben wir es am rechten Zipfel.
Es ist ungemein deprimierend, wie ein ganz kleines Wörtchen solche Verwirrung auf Jahrhunderte hinaus anrichten kann. Weil Luther gesagt hat: Meine Gerechtigkeit suche ich im Glauben, hat die ganze lutherische Kirche einen falschen Weg eingeschlagen. Ich will das nicht den Leuten aufdringen, sie verstehen es doch nicht; ich will mich aber herumdrehen und ich hoffe, wenn ich es erlange, daß Gott mich behandeln darf, daß dann etwas herauskommt, was auch andern dienen kann. Wir müssen uns opfern für die Gerechtigkeit Gottes; vergesset euch selbst, suchet nicht immer selbst recht zu sein, bittet nur, daß Gott komme. Dann schüttelt er euch freilich, dann müssen die tiefsten Gründe eures Wesens heraus und das geht nicht ohne viel bittere Schmerzen. Aber freuen wir uns, auch wenn es durch die schwersten Gerichte geht! freuen wir uns; denn wir wollen nicht glücklich werden mit unserer Sünde, sondern wir wollen, daß Gott glücklich werde an seiner Schöpfung, und wir wollen nicht mehr zwischen ihm und seiner Schöpfung stehen. So allein dienen wir Gott recht, und dann kann er uns wieder brauchen.
Morgenandacht am 28. September 1893. Nach einer Nachschrift.
Quelle: Christoph Blumhardt, Predigten und Andachten aus den Jahren 1888 bis 1896, Eine Auswahl aus seinen Predigten, Andachten und Schriften: Bd. 2, hrsg. v. R. Lejeune, Erlenbach-Zürich und Leipzig: Rotapfel-Verlag, 1925, S. 434-438.