Von Lothar Steiger
Offenbarung Johannis 14,13
Und ich hörte eine Stimme vom Himmel
zu mir sagen: Schreibe:
Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an.
Ja, der Geist spricht,
daß sie ruhen von ihrer Arbeit;
denn ihre Werke folgen ihnen nach.
Zu sterben, liebe Gemeinde, ist nicht selig. Der Tod macht die Lebenden auch nicht redselig, sondern macht eher kleinlaut und mundtot. Wer diese Stimme vom Himmel nicht hört und versteht: die eines Engels Stimme ist vom Herrn – dem ist sein Sterben nicht selig, es mag ihn treffen gewaltsam mitten im Leben oder verdient nach einer langen Frist. Wie sollten die Toten selig sein? Höchstens daß Unglückselige sie preisen aus Verzweiflung am eigenen Leben, was doch kein Lobgesang ist, der Zunge und Stimmbänder löst, die Stimme nicht erhebt und befreit und gestimmt macht, sondern ein armes sangloses Reden und klangloses Klagen ist. Sprachlosigkeit ist des Todes Vorbote. Wem wird der Satz singend diktiert? Selig sind die Toten . . . Sind nicht die Stimmen vom Ende her viele und verworrene und eines andern Engels Domäne, des Todesengels Flüsterpropaganda, mit heimlichen inneren Stimmen, die sich nicht gern in klare offenbare Worte fassen lassen? Stimmen vom Ende, die wollen und machen, daß wir mit halber und erstickter Stimme auf sie antworten: hinten im Kehlkopf Geräusche, Zischlaute zwischen den Zähnen, verbissene Lippen und verzagte, übelnehmende, niederdrückende Reden und: keine Worte finden. Ja, selig die Toten, die uns singen machen könnten mit Hilfe der Stimme vom Himmel! Auf daß wir vom Ende her gottselige Reden führen und Worte fänden für einander!
Wenn das vom Himmel Diktierte sanglich werden soll, muß man wohl wie immer Choräle um die Predigt packen – und heute am besten eine ganze Kantate dazu, die vom Sterben handelt und gleichwohl zum Auftakt singt: „Erfreute Zeit“, als würde ein Sterbender das gewinnen, was er sonst doch verliert, nämlich Freude und Zeit. Was dies mit dem „neuen Bunde“ auf sich habe, laßt uns nun bedenken an dieser Stimme vom Himmel, auf die wir hören wollen, wie einst der Prophet und Seher Johannes sie hörte und aufschrieb: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an.
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Ja, von nun an erst und nicht früher. Tote pries man nicht selig von Anfang an, weder im Alten noch im Neuen Bund. Ach, es ist nicht so und ist ganz verkehrt, zu meinen, daß Glaubende den Tod nicht scheuen. Sie scheuen ihn mehr als andere, die nur ihn zu fürchten haben. Wer nichts zu hoffen hat, der wünscht sich, weil er doch sterben muß, einen plötzlichen und unverhofften Tod. Aber wer auf Hoffnung lebt, der möchte nicht unverhofft sterben. Wenn er auch nicht an dem Leben hängt, das wir ‚dieses Leben‘ nennen, so wünscht er sich doch, daß das verheißene Leben hier anbreche und wahr werde, wie Gott es versprochen. So hält er an seinem Leben fest wegen des größeren Lebens. Wie der Beter im Psalter um sein Leben wirbt und Gott bedrängt mit Argumenten, er möge ihn nicht sterben lassen unverhofft. Denn im Tode gedenkt man dein nicht, wer will dir bei den Toten danken (Ps 6,6)? Und: Was ist nütze an meinem Blut, wenn ich zur Grube fahre? Wird dir auch der Staub danken und deine Treue verkündigen (Ps 30,10)?
Wie soll man also die Toten selig preisen, wenn alle Seligkeit des Lebens ist, den lebendigen Gott zu preisen für seine Güte und Treue? Muß Gott nicht am eigenen Lobpreis, an meiner Antwort höchst, gewissermaßen vital interessiert sein, so daß er mich dem Schemen- und Schattenreich nicht überlassen kann, in dem kein Singen, Loben und Antworten ist? Von Todes- und Sterbensseligkeit hörst du hier nichts. Davon hörst du auch nichts in der ersten Christengemeinde. War man in Thessalonich nicht sehr darüber erschrocken daß Glaubende starben, den Tod sehen sollten statt den Herrn, Auferstehung und Leben, das frei sein würde vom Tod, wie sie glaubten und davon Zeichen erblickten in diesem Leben? Da mußte der Apostel Paulus einen großen tröstlichen Brief schreiben und den vom Tode Angefochtenen die Antwort sagen.
Seht, das ist eine Anfechtung, die gibt es nur, wenn man hofft und glaubt. Denn daß ein natürlicher Mensch das Zeitliche segnen muß, obwohl er dann nicht weiß wie und oft sein Leben verflucht und den Tod dazu, dies ist ja nicht der Glaubenden Not und tiefer Widerspruch. Sondern wenn das Zeitliche gesegnet worden ist durch eine ewige Treue und schöne Verheißung, die einer auch erfahren hat am Leib und an der Seele und am Geist, so daß der Tod nicht nur das altgewohnte Leben mit sich fortnimmt, sondern auch das neue, junggeglaubte, aussichtsvolle: dann, nicht wahr, verstehst du, wie sehr du als Glaubender am Leben hängst und hängen mußt, verstehst die ängstliche Frage der Thessalonicher gut, auf die der Apostel eine apostolische Antwort geben mußte, eine Antwort, die tröstet, weil sie der Wahrheit und Wirklichkeit standhält. Und diese Antwort lautete und lautet noch immer: Die Toten in Christus, diejenigen also, die in dem Herrn sterben, die fallen durch ihr Sterben nicht heraus und ins Leere, sondern bleiben drin, im Herrn und in der Hoffnung, werden künftig in Christus Schlafende genannt (1. Kor 15,18), die einmal auferweckt werden und aufstehen an einem schönen Ostermorgen, wie ihr Herr es erfuhr und tat.
Tröstlich war die Antwort und wahr, war beides für beide: für die Sterbenden und die um sie Besorgten. Weil doch zum Sterben immer zwei gehören, die verstehen müssen: die den Weg gehen und die Zurückbleiben. Tröstlich und wahr ist die Antwort bis heute, wenn man nicht im Tod stirbt, sondern im Herrn. Aber selig hat der Apostel die Toten nicht gepriesen, sondern er gab die Antwort denen, die um die Seligkeit ihrer Toten besorgt gewesen.
Das ist das Neue, das über die Antwort des Paulus hinausgeht, was nicht immer gegolten hat, sondern erst jetzt gilt, eben von nun an. Weshalb Johannes ja ein Seher und Prophet sein muß, um dieses Neue zu offenbaren den nochmals und anders bedrängten Gemeinden in Kleinasien rund 50 Jahre später. Selig diese Toten! Tote von nun an selig! Wenn einer nur ein wenig biblisch musikalisch ist, der hat das absolute Gehör und weiß, wer so nur reden kann: von nun an. Daß diese Stimme vom Himmel die Stimme des Herrn ist, der früher schon mit erhöht erhobener Stimme sprach: von nun an, wenn er das Neue und in die Zeit Einschneidende aussprach. Dann sagte er vor seinen Jüngern beim letzten Mahl: Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, da ich’s neu trinken werden mit euch in meines Vaters Reich (Matth 26,29). Dann sagte er, selber ein Bedrängter, vor dem Hohen Rat: Von nun an wird’s geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels (Matth 26,64).
Etwas einschneidend Neues will die Stimme vom Himmel sagen: die kommt vom lebendigen gekreuzigten Herrn, der seither nicht nur sitzt zur Rechten der Kraft, sondern noch redet vom Himmel in Kraft des Geistes zu Menschen, die mehr erfahren müssen in gewachsener Anfechtung, Bedrängnis und Not.
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Selig sind die Toten! Die hohe Stimme singt deutlich, doch hört sich nicht leicht – das muß befohlen werden: Schreibe! Das vergißt sich schnell, darum: Schreibe! Die Toten, das sind nicht alle, die im Herrn gestorben sind. Seit zwei Generationen wurde schon im Herrn gestorben und seitdem in wievielen. Sondern das sind die Toten, die haben ihr Leben nicht geliebt bis an den Tod (Offenb. 12,11), haben es hergegeben um des größeren Lebens willen. Blutzeugen sind sie, sind über ihrem Zeugnis zu Tode gekommen, aber doch nicht zu Fall. Die Frage des Psalmisten müssen sie nicht mehr stellen und fürchten: Was ist nütze an meinem Blut, wenn ich zu Grabe fahre?
Geliebt und gesucht hatten auch sie den Tod nicht, sondern allein das Leben, das sie so liebten und suchten, daß der angedrohte Tod es ihnen nicht nehmen, d.h. nicht kleiner, enger und furchtsam machen konnte. Bis an den Tod wollten sie das Leben nicht lieben, sondern weit darüber hinaus und gegen den Tod lieben. Das sind die Widerständigen, die nicht aufhörten zu singen, sangen wie Daniel in dem Feuerofen, aus den drei Männern wurden viele, Frauen und Kinder und Greise, die sangen und priesen Gott in den Höllen hier auf der Erde. Plötzensee, Prinz-Albrecht-Straße, Buchenwald, Flossenbürg. Wer an einen Namen denkt, der muß an alle denken, darum nennt er keinen. An die Namenlosen kann man nicht denken, da hört das Denken auf. Aber die brauchen auch keinen Namen, sind woanders bekannt, heißen: Selig von nun an!
Diese Toten spricht doch eine Kirche nicht selig. Sondern die preist sie selig und kommt darüber, beschenkt, selber ins Lobpreisen und wieder zurück ins Hoffen. Wie auch die Offenbarung Johannis neu ins Hoffen kam mit Maranatha! und eine durch ihre Toten erneuerte Kirche spricht: Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst (Offenb. 22,17). Ja, ich komme bald. Amen, ja komm Herr Jesus.
Selber können wir diese Toten nicht in den Himmel heben, sondern das macht die Stimme vom Herrn, der schon die Armen, Hungernden und Weinenden glückselig pries vom irdischen Himmel des Reiches Gottes her. Jetzt nimmt er diese Toten dazu, die kommen in gute Gesellschaft, in der man Aussicht hat auf Leben durch diesen Ruf: Selig sind! Das Geschrei dieser Sterbenden, wenn es kein Loben war für menschliche Ohren, sondern ein Schluchzen oder Fluchen, es wurde doch im Herrn zum Lobpreis Gottes, in dem Gekreuzigten, der selber nur schrie, und was er schrie, verwandelte sich in Gebet.
Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an: so spät noch gleichzeitig werden mit dem Leidenden aus Israel, vom Himmel her die Stimme, für alle Völker bis heute vernehmbar, in unzähligen Leiden und Widerständen vernehmbar, bis aufs Blut und wo nur dröhnendes Schweigen ist. Diese Stimme.
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Die soll uns singen machen und auch erheben, die wir sie nötig haben für unsere Widerstandsversuche im täglichen Leben. Die hohe erhebende Stimme vom Himmel für jeden an seinem Platz, um Platz zu machen durch Singen. Denn das ist auch ein Widerstand, wie Simeon ihn übte und singend einübt in der Kantate, daß einer die Hoffnung bewahrt bis ins Alter und in Frieden dahinfährt, nur Platz macht durch Singen. So dürfen wir alle sein, ermutigt und erhoben durch eine Stimme vom Himmel zum lebenswerten widerständigen Leben, es zu gewinnen und zu führen gegen die Mächte des Todes, der Furcht und Gewalt: die alles einebnen, Aussichten verschließen, das Neue nicht wollen. Seht, da will der auferstandene Herr das Neue und preist durch eine Stimme und einen Seher, der dies hört: die Toten selig, die an dem Widerspruch, der selig macht, festhielten! Da antwortet er mit demselben Widerspruch und preist die Toten selig, die noch kein Mensch gepriesen hat!
Dann gilt ja dieses Selig! abgeleitet auch uns, die wir noch leben in diesem Leben und für das Leben, für das es sich lohnt zu leben. Dann gilt ja dieses Selig! abgeleitet auch uns im Jüngsten Gericht, wenn wir an diesem seligen und singenden Widerspruch festgehalten haben. Wenn wir auch arm vor den Richterstuhl des Lammes treten wie jeder Glaubende muß und unsre Werke uns nicht so dicht auf dem Fuße folgen, wie sie bei diesen Toten tun, so gehen doch auch welche uns nach. Was uns nachging im Leben, das geht uns auch nach im Sterben und kommt vor das Angesicht Christi. Auch wenn wir werden fragen müssen, anders als diese ruhigen Toten, die andere Fragen haben an ihren Herrn: Herr, wann haben wir dich leiden gesehen und haben selig widerstanden?
Einen Satz zum Nachsingen und Nachleben diktiert uns die Stimme von Himmel. Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an! Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit. Denn ihre Werke folgen ihnen nach.
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Man kann sich das Wort am Grabe sagen lassen, wie bei Philipp Spitta geschehen, um anzudeuten, welches die Werke sind, die uns singen machen und bleiben, die einem nachfolgen als seines Lebens Vermächtnis.
Und man kann wie Vater Karl Johann Philipp Spitta im Leben singen und dichten nach Melodie und Sinn der himmlischen Stimme:
O komm, du Geist der Wahrheit
und kehre bei uns ein,
verbreite Licht und Klarheit,
verbanne Trug und Schein.
Gieß aus dein heilig Feuer,
rühr Herz und Lippen an,
daß jeglicher getreuer
den Herrn bekennen kann.
Es gilt ein frei Geständnis
in dieser unsrer Zeit,
ein offenes Bekenntnis
bei allem Widerstreit,
trotz aller Feinde Toben,
trotz allem Heidentum
zu preisen und zu loben
das Evangelium.
Quelle: Lothar Steiger, Die Herrlichkeit sehen. Sequenzen – Meditationen – Predigten, Kassel: Johannes Stauda Verlag, 1982, S. 160-166.