Nachfolge Christi III. Ethisch
Von Hans G. Ulrich
Christliche Ethik hat sich in vielfältiger Weise als Ethik der Nachfolge Jesu Christi entfaltet. Sieht man die verschiedenen Traditionen zusammen, heißt Nachfolge, sich im Glauben an Jesus Christus in ein Leben berufen zu lassen, das das Lebenszeugnis Jesu Christi weiterträgt, indem es seiner ethischen Verkündigung (z.B. Bergpredigt) folgt, seinem Leben und Leiden gleichgestaltet ist und in der im Glauben erfahrenen Gemeinschaft mit ihm seine Form gewinnt. Die Nachfolgeethik entfaltet sich in vielfältigen Dimensionen, wie sie in der biblischen Überlieferung angelegt sind: zwischen einem persönlichen und einem von der Gemeinde gelebten Zeugnis, zwischen einer Lebensform mit bestimmten ethisch-moralischen Kennzeichen wie Demut und Geduld und einer völligen Hingabe an Gottes Willen in einem Christus gemäßem Leben, auch in der Entsprechung zu Christi Leiden, sowie in der Spannung zw. einer gegebenen Lebensverhältnissen abgewandten (mönchischen) Nachfolge und einer in den alltäglichen Aufgaben gelebten. Nachfolge hat auch institutionelle Formen (z.B. in der Diakonie) gefunden, ist aber in diesen zugleich der bes. Weg von einzelnen geblieben. Die Nachfolgeethik hat die immer neue Berufung und die wachsende Vervollkommnung spannungsvoll umgriffen. Vor allem hat sie sich in der Spannung bewegt zw. einer im eschatologischen Sinne neuen Lebensform und einer Ethik christlichen Wirkens innerhalb der hoffnungsvollen Perspektiven der Welt.
Die Ethik der Nachfolge ist mit anderen Anschauungen von der christlichen Lebensform verbunden worden: mit der Nachahmung Christi (imitatio Christi), der Gottebenbildlichkeit des Menschen, und – wie in den christlich-orthodoxen Traditionen – dem Gottähnlich-Werden (Theosis) des Menschen. Nachfolge ist vor allem als Leidenszeugnis in der Verfolgung (Martyrium) verstanden worden. In protestantischen Ausprägungen hat sich die Nachfolgeethik in einer Spannung zur römisch-katholischen Morallehre befunden, sofern diese mit der Nachfolge ein in Gottes Gnade gründendes sittliches Wachstum verbunden hat. Die Ethik der Nachfolge bildet eine Grundlinie christl. Ethik. Sie lenkt den Blick auf die im Glauben geschehende (eschatologische) Erneuerung des Menschen in seiner Lebensform und unterscheidet sich von solchen Konzeptionen der Ethik, die um die Befähigung des moralischen Subjekts zur Lebensgestaltung zentriert sind. Nachfolge ist vielfach unter anderen Topoi verhandelt worden, insbes. unter dem der Heiligung. Heiligung meint im Sinne der Nachfolgeethik das Leben im Wirkungszusammenhang Gottes am Menschen und in der Hingabe an Gottes heilschaffenden und fordernden Willen, sowie die Bezeugung dieser Lebensform in der Welt.
Die Nachfolge ist aufgrund der biblischen Überlieferung immer wieder neu zum Angelpunkt christlicher Ethik geworden. Auf dem Hintergrund einer weitreichenden Tradition haben Luther und Calvin die Nachfolgeethik mit den Grundlagen reformatorischer Theologie verbunden. Nachfolge heißt hier, in allen Lebensbereichen im ungeteilten Vertrauen auf Gottes Walten, auf seine Gerechtigkeit und sein Heilswerk in Christus zu leben und in der Befreiung von der Selbstbehauptung dem Nächsten in seiner Not zu dienen. Luther hat die Ethik der Nachfolge auch in seine Neufassung der Lehre von den drei Ständen (Kirche, Haus, Politik) eingefügt. Der Christ ist dazu berufen, in diesen Lebensbereichen Nachfolge zu üben im Achten auf Gottes heilvolles Wirken und im Dienst an dem Nächsten. Das ist sein Beruf. Entsprechend hat Luther den Dekalog ausgelegt: Nachfolge heißt, aufgrund der von Gott gewährten Gerechtigkeit, in der Erfüllung des Gebotes Gottes dem Nächsten zu dienen. Nachfolge erfolgt in solchen guten Werken. Nachfolge ist die Lebensform für alle Christen und keine Ethik für nur wenige, die womöglich eine Flucht aus den Bedingungen der Welt zur Folge hat. Nachfolge ist weltliche Frömmigkeit. Dennoch kann Nachfolge den besonderen Einsatz für den Nächsten als Lebensaufgabe bedeuten.
Verschiedene Anschauungen von den Kennzeichen christlicher Ethik (wie das Verständnis von »Beruf« oder von einer christl. Sitte) haben im Bereich protestantischer Ethik die Konturen einer Nachfolgeethik zurücktreten lassen. Demgegenüber hat Bonhoeffer die Ethik der Nachfolge neu entfaltet: Nachfolge ist die gebotene Entsprechung zu der »teuren Gnade« Gottes, die das Leben des Christen unter den Bedingungen der Welt ganz in Anspruch nimmt. Bonhoeffers Ethik der Nachfolge ist von vielen Christen beachtet worden, hat aber vor allem die Kirche als Zeugengemeinschaft in der Welt in den Blick gerückt.
In neueren Konzeptionen evangelischer Ethik wurde Nachfolge als christusgemäßes Leben des einzelnen und der Gemeinde in der Solidarität mit den Nöten der Welt in den Blick gerückt (Wolf). Nachfolge wurde damit vor allem als Tat- und Lebenszeugnis im Zusammenhang politischer Verantwortung verstanden (politia Christi). Von der politischen Theologie ist Nachfolge als das Wirklichwerden der Christusherrschaft in den gesellschaftlichen Strukturen gefaßt worden. Die Nachfolgeethik ist vor allem in einzelnen Kennzeichen der christlichen Lebensform entfaltet worden, insbes. in der Gewaltlosigkeit und Friedenspraxis. Die Theologie der Befreiung hat Nachfolge als Praxis der Befreiung des Nächsten von gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen gekennzeichnet. Grundlegend ist Nachfolge als die Lebensform in Erinnerung gerufen worden, in der Christen mit der ihnen gegebenen Freiheit von der Selbstbehauptung in der Erfüllung ihrer alltäglichen Aufgabe auf Gottes Zuwendung antworten (Bayer). Nachfolge ist in einigen Traditionen christlicher Ethik als Kennzeichen derer verstanden worden, die sich durch das Christuszeugnis in ihrem Charakter prägen lassen und in der Gemeinde und als Gemeinde eine Sozialethik zeugnishaft leben (Hauerwas, Yoder). Damit konnte die eschatologische Differenz des neuen Lebens von Christen auch gesellschaftskritisch und politisch artikuliert werden. Die Nachfolgeethik ist gerade wegen ihres spannungsreichen Inhalts immer deutlicher als ökumenische Ethik gesehen worden. Es bleibt entscheidend, die Nachfolgeethik als Grundlinie christlicher Ethik, nicht als eine spezifische Ausprägung, zu bewähren und weiter zu entfalten.
Lit.: D. BONHOEFFER, Nachfolge, 1937 (Werke, Bd. 4, 1989) • A. DE QUERVAIN, Ethik, Bd. 1: Die Heiligung, 1942 • E.WOLF, Schöpferische Nachfolge?, in: DERS., Peregrinatio, Bd. 2: Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, 1965, 230-241 • R. STRUNK, Nachfolge. Christliche Erinnerungen an eine evangelische Provokation, 1981 • J. H. YODER, Die Politik Jesu, der Weg des Kreuzes, 1981 • V. GUROIAN, Incarnate Love. Essays in Orthodox Ethics, 1987 • E. SCHÜSSLER FIORENZA, Discipleship of Equals. A Critical Feminist Ekklesia-logy of Liberation, 1993 • K. H. NEUFELD, Fundamentaltheologie, Bd. 2: Der Mensch – Bewußte Nachfolge im Volk Gottes, 1993 • L.S. CAHILL, Love Your Enemies. Discipleship, Pacifism and Just War Theory, 1994 • O. BAYER, Nachfolge-Ethos und Haustafel-Ethos. Luthers seelsorgerliche Ethik, in: DERS., Freiheit als Antwort, 1995, 147-163 • S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, 1995 • H. SCHÜTTE, Christsein im ökumenischen Verständnis. Leben in der Nachfolge Christi. Ökumenische Ethik (Ökumenischer Katechismus), 1999.
RGG4, Bd. 6 (2003), Sp. 9-11.