Karl Rahner, Die Sinnfrage als Gottesfrage (1982): „Es soll nochmals ausdrücklich betont werden, dass wir die absolute Sinnfrage, die wir als berechtigt und unausweichlich erklären (obzwar sie im Modus des Verdrängtseins gegeben sein kann), nicht eigentlich mit einem Gott oder einem Begriff von Gott beantworten, der von irgendwo anders her als Antwort an diese Sinnfrage herangetragen wird. Vielmehr gibt die Frage nach einem absoluten Sinn, wenn sie wirklich angenommen wird und sie sich selber bis zum letzten aussprechen darf, die Existenz eines absoluten Sinnes als wirklichen und somit die Existenz Gottes selber her.“

Die Sinnfrage als Gottesfrage (1982)

Von Karl Rahner

Es ist bekannt, daß man heute viel von Sinn, von Sinnverlust spricht. Das Wort «Sinn» scheint so ein wenig das alte Wort «Wahrheit» ver­drängen zu wollen. Man sucht, so scheint es, heute nicht mehr nach der Wahrheit, der umfassenden Wahrheit, sondern nach dem Sinn. Vielleicht macht sich in diesem Wortwandel auch eine gewisse Kon­zentrierung des menschlichen Fragens und Suchens auf den Men­schen selbst bemerkbar. Man beschäftigt sich mit vielen Erkenntnis­sen in vielen Wissenschaften, man sucht also nach Wahrheiten im Plu­ral, nicht so sehr nach der Wahrheit schlechthin, die nach der Schrift uns frei macht; man fragt darum heute eher nach dem Sinn in der Ein­zahl Dabei bleibt natürlich an sich die Frage offen, die hier nicht the­matisch werden soll, ob nicht mit der Verlagerung des Interesses von der Wahrheit auf den Sinn vielleicht gerade der eine und wahre Sinn der menschlichen Existenz durch diesen intellektuellen Egoismus (wenn man so sagen darf) verfehlt wird. Insofern die Sinnfrage hier als Gottesfrage bedacht werden soll, ist dieses Problem grundsätzlich überholt, weil Gott, wenn dieses Wort wirklich richtig verstanden wird, der absolute Sinn und die absolute Wahrheit in einem ist:

Ganzheitliches Verständnis vom Sinn

Wenn hier vom Sinn, genauer vom Sinn des menschlichen Lebens ge­sprochen werden soll, dann sind natürlich nicht partikuläre, einzelne Zusammenhänge zwischen selbst partikulären Wirklichkeiten ge­meint, wie z. B. der erkennbar sinnvolle Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zu fliegen und dem Bau eines Vogelflügels. Es ist auch nicht der Sinn gemeint, der erfahren wird z. B. in einem bestimmten einzel­nen Kunsterlebnis, dessen Inhalt nicht als Mittel zu einem anderen Zweck, sondern als in sich selbst sinnvoll erfahren wird, sich so durch sich selbst legitimiert und nicht bloß durch eine Zweckdienlichkeit für anderes. Mit Sinn meinen wir hier den einen und ganzen, universalen und endgültigen Sinn der ganzen menschlichen Existenz, der durch den Menschen einmal erfahren werden soll und sich darin als selber schlechthin gut, beseligend ausweist. Die Frage nach einem so ver­standenen Sinn soll als Gottesfrage verständlich gemacht werden, die­ser so verstandene Sinn soll als mit Gott identisch erfaßt werden. Da­bei sollen diese beiden Begriffe und die mit ihnen gemeinten Wirklich­keiten so verstanden werden, daß der eine den anderen verständlich macht; was absoluter Sinn ist, kann durch das Wort Gott verständlich werden und ebenso umgekehrt.

Wenn wir die Sinnfrage als Gottesfrage verständlich machen wol­len, setzen wir voraus, daß es eine solche universale und absolute Sinnfrage gibt, daß nach einem solchen Sinn überhaupt sinnvoll ge- • fragt werden kann, ja, daß die Behauptung, eine solche Sinnfrage sei wirklich sinnvoll und nicht von vornherein sinnlos, die Wirklichkeit eines solchen Sinnes schon in sich schließt. Eine solche Voraussetzung ist natürlich nicht selbstverständlich. Agnostiker und Skeptiker wer­den zwar wohl zugeben, daß der Mensch immer wieder im Vollzug seines Lebens, wie immer dieses gestaltet werden mag, durch partielle Zweckhaftigkeiten und Sinnhaftigkeiten hindurchgehe. Er setze sich ja Ziele, verwirkliche sie und werte die Ergebnisse im Unterschied zu Mißerfolgen und Enttäuschungen als positiv, als erfreulich und genußhaft, da er sie ja von anderen Zuständen seines Lebens, die. er ver­meiden oder beseitigen will, unterscheidet, da er ja durchaus Erlebnis­se erfährt, die er in sich selbst zweckfrei positiv wertet. Aber Skeptiker und Agnostiker werden sagen, einen totalen und endgültigen Sinn des Daseins könne man nicht finden. Das Leben zerrinne letztlich ins Lee­re, die Frage und das Verlangen nach einem endgültigen, allumfas­senden Sinn der Existenz seien von vornherein sinnlos. Diese Haltung wird wohl vor allem durch zwei Erfahrungen nahegelegt.

Einmal scheint dieser allumfassende, alles in sich integrierende und zur Vollendung führende Sinn in unserer Erfahrung nicht vorzukom­men. Wir scheinen nur zerstückelte Sinnerfahrungen zu machen, von denen keine allen Sinn hergibt, von sich immer wieder auch trotz ihrer zweckhaften Sinnhaftigkeit wegweist auf eine andere und so ins unbe­stimmt Leere hinein und auf jeden Fall vergeht. Überdies macht der Mensch die Erfahrung nicht nur des scheinbar ewigen Weitergehens immer endlicher Einzelerfahrungen, sondern auch der Sinnlosigkei­ten, die nicht nur in der Natur vorzukommen scheinen, sondern durch seine eigene Freiheit innerhalb der menschlichen Geschichte in einem grauenvollen Maße gewirkt werden. Die scheinbare Unerfah­renheit des totalen Sinnes, das leere Zerrinnen alles Zeitlichen, die schreckliche Erfahrung von Sinnlosigkeiten scheinen dem Agnostiker und dem Skeptiker alles Recht zu geben, einen absoluten und univer­salen Sinn der menschlichen Existenz zu leugnen oder wenigstens nicht mit ihm zu rechnen.

Anstrengung von Vernunft und Freiheit

Wenn es aber dennoch einen totalen Sinn des menschlichen Lebens geben soll, dann ist von vornherein klar, daß seine Bejahung zugleich die höchste Anstrengung seiner geistigen Vernunft und seiner Freiheit erfordert. Die Ganzheit eines wirklichen Sinnes der ganzen Existenz kann nur durch einen totalen Einsatz dieser Existenz mit all ihren Di­mensionen erreicht werden. So wenig diese Selbstverständlichkeit den Menschen von der Anstrengung seiner ganzen Erkenntnis mit all ihren Möglichkeiten dispensiert, so ist doch selbstverständlich die wirkliche Bejahung eines solchen umfassenden Sinnes der Existenz auch eine Tat seiner Freiheit in einem letzten gegenseitigen Sich- Durchdringen von Erkenntnis und Freiheit, von Theorie und Praxis, von Einsicht und Liebe. Derjenige also, der die Wirklichkeit eines sol­chen absoluten und universalen Sinnes behauptet, braucht sich darin nicht darum beirren zu lassen, weil es Träge, in die Einzelheiten ihres Daseins Verstrickte, von den schon erwähnten Schwierigkeiten einer absoluten Sinnbejahung Erdrückte gibt. Ja, derjenige, der sich zur Be­jahung eines absoluten Sinnes der Existenz bekennt, kann ruhig an­nehmen, daß viele Agnostiker, Skeptiker, Blasierte, die sich allein für nüchtern und ehrlich halten, an irgendeinem Punkt ihrer Existenz, dort, wo sie z. B. wider allen Nutzen und Vorteil selbstlos sind, im ei­gentlichen V ollzug ihrer Existenz gegen ihre eigene verbale Ausle­gung ihres Lebens einen absoluten Sinn ihres Lebens bejahen, in der Praxis gar nicht diejenigen sind und sein wollen, als die sie sich in ihrer theoretischen Selbstinterpretation auslegen Es kann auch durchaus so sein, daß eine agnostizistische Selbstinterpretation, das Zugeständ­nis, mit allen einzelnen Erkenntnissen letztlich doch in einem finste­ren Nichtwissen sich zu verlieren und zu verirren, dort, wo ein solches agnostizistisch scheinendes Zugeständnis in bescheidener Gelassen­heit als letzte Weisheit des Lebens angenommen wird, es sich nicht um einen höllisch leeren Agnostizismus handelt, sondern um die gelasse­ne Annahme des Geheimnisses in Hoffnung, das wir mit Recht Gott nennen.

So sind wir als Menschen, die durch ihre eigene Existenz einfach gezwungen sind, bei sich zu sein und sich über sich zu fragen, vor die Frage an Erkenntnis und Freiheit zumal gestellt, ob wir einen solchen umfassenden und endgültigen Sinn unserer Existenz bejahen oder diese Frage verneinen oder wenigstens versuchen wollen, sie müde auf sich selbst beruhen zu lassen. Unserem Geist ist die Frage gestellt, wo denn letztlich die partikulären Sinnerfahrungen, die man doch un­weigerlich macht, herkommen, wie sie sich doch auch immer wieder zu umfassenderen, wenn auch immer noch endlichen, Sinnzusam­menhängen zusammenschließen, ob ein wenig Sinn und Licht ver­ständlich werden von einer schlechthinnigen Finsternis und Sinnleere her, oder durch einen, wenn auch noch in sich selbst nicht erfahrenen und unumfaßbaren, unendlichen Sinn her. Unsere Freiheit wird ge­fragt, ob sie sich denn als absurde Verdammnis verstehen dürfe, als eine Freiheit, die Unendliches will, sich nie zufriedengeben kann, und doch nur die kleinen Vergänglichkeiten eines menschlichen Lebens vollbringe und in ihnen sich verfange. Unsere Freiheit wird gefragt, wie sie ohne Bejahung eines absoluten Sinnes noch einen Unterschied zwischen Treue und Treulosigkeit, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Liebe und tödlichem Egoismus machen könne, wenn doch alle Taten, die guten und die gemeinen, in einer letzten Sinnlosigkeit untergehen, in der nichts mehr unterschieden werden kann. Unsere Freiheit wird gefragt, was ohne einen letzten Sinn Verantwortung bis zum letzten noch bedeuten könne, ob sie ohne eine solche Bejahung nicht am einfachsten und billigsten sich in ihrer eigenen Leugnung aufgeben wolle.

Nochmals: wenn so Geist und Freiheit gefragt werden, ob sie ja sa­gen zu einem umfassenden und endgültigen Sinn, dann ist nicht ge­meint, daß eine solche Frage im konkreten einzelnen Menschen die wahre Antwort erzwinge. Man kann natürlich dieser Frage davonlau­fen. Man kann sich durch sie überanstrengt empfinden; man kann sa­gen, man könne die Frage und erst recht die Antwort nicht klar formu­lieren und schweige darum über solche Dinge am besten von vornher­ein. Man kann sagen, eine solche Frage und ihre eventuelle Antwort hätten von vornherein, da sie selber universal seien, kein ihr vorauslie­gendes Koordinatensystem, von dem aus Frage und Antwort ver­ständlich gemacht werden könnten, so daß also Frage und eventuelle Antwort gar keinen greifbaren Sinn haben könnten. An diesen Ein­wänden ist nicht alles falsch. Sie zeigen gewiß, daß das Verhältnis des denkenden Menschen zu dieser absoluten und universalen Sinnfrage selbstverständlich ein wesentlich anderes ist als zu den Einzelgegen­ständen seines Bewußtseins, die als einzelne von anderen und von for­malen Normen des Denkens her bestimmt werden können und darum einen anderen Eindruck von Faßlichkeit und Klarheit machen, als er vorhanden ist, wenn der eine und ganze Mensch auf einmal vor die Ganzheit aller Fragen und vor die Universalität eines Sinnes über­haupt gestellt wird. Bei einer solchen Frage ist eine Dunkelheit und letzte Unbewältigbarkeit für das Denken von vornherein zu erwarten, ja, sie gehören so wesentlich zur Sache selbst, daß, wo sie nicht gese­hen und angenommen werden, von vornherein klar ist, daß die Frage nicht verstanden und die Antwort verfehlt ist. Aber bei aller Möglich­keit, dieser totalen und einen Grundfrage davonzulaufen, sind Geist und Freiheit zugleich dennoch gefragt, ob sie mit Recht sich weigern, sich dieser Frage zu stellen. Und man muß die Berechtigung dieser na­türlich gegebenen Möglichkeit verneinen. Die totale Sinnfrage ist zu stellen, und Geist und Freiheit müssen sagen, daß sie eine Erfüllung durch einen unendlichen und einen Sinn haben muß, und zwar aus den Gründen, die wir schon angedeutet haben.

Der Mensch vor der Sinnfrage

Diese Überzeugung ist, von vielem anderen abgesehen, schon darum gültig, weil der Mensch es gar nicht vermeiden kann, vor diese totale Sinnfrage zu geraten. Er mag sich in seinem theoretischen Bewußtsein ängstlich hüten, vor diese Frage zu geraten, er mag versuchen, wenn sie ausdrücklich theoretisch auftritt, sie als unbeantwortbar oder sinn­los beiseite zu schieben. Aber in dem praktischen Vollzug des Lebens gerät der Mensch unvermeidlich vor diese Frage und muß sie beant­worten, gleichgültig, ob er sie mit einem Ja oder Nein beantwortet, gleichgültig, ob und wie weit er die so unausweichliche Antwort noch einmal theoretisch reflektiert und verbalisiert. Denn es gibt Fragen des konkreten Lebens an die Freiheit des einen und ganzen Men­schen, die man Gewissensfragen nennt, die mit einem unbedingten Ja oder Nein im Einsatz des einen und ganzen Subjekts selbst beantwor­tet werden müssen, die keine neutrale Enthaltsamkeit zulassen, weil ein solcher Versuch noch einmal eine, und zwar eine schlechte, Ent­scheidung wäre. In solchen Entscheidungen aber wird ein absoluter Sinn bejaht oder verneint, weil eine absolute Entscheidung auf Tod und Leben und auf unwiderrufliche Endgültigkeit hin einem partiku­lären Gegenstand als solchem allein gegenüber gar nicht möglich ist.

Es ist nun zunächst unmittelbar greifbar, daß dieser totale, alles umgreifende und allen Sinnanspruch erfüllende Sinn der Existenz nicht durch partielle Sinnerfüllungen zusammengestückelt werden kann. Der Versuch, auf solche Weise den universalen und endgülti­gen Sinn zu ergreifen, würde nur eine ins Leere weitergehende Reihe von partiellen Sinnerfüllungen bedeuten; jede von ihnen böte nur die immer unerfüllt bleibende Verheißung einer totalen Sinnerfüllung. Ein solcher Versuch bedeutete die Verdammnis zu ewiger Sisyphus­arbeit; er wäre der immer neue Versuch, das Ganze im bloßen Teil zu erreichen. Wenn daher eine totale Sinnerfüllung nur «außerhalb» des immer stückweise geschehenden Laufes der Geschichte denkbar ist, dann bedeutet das natürlich nicht, daß diese totale Sinnerfüllung nicht auch gleichzeitig die ewige Frucht der Geschichte ist, in der die­se Geschichte sich selbst aufhebt. Der umfassende Sinn der Geschich­te selber kann aber nicht ein bloßes Stück der Geschichte sein. Schon darum nicht, weil ja die Freiheit, indem sie das partikuläre Einzelne in der zeithaften Geschichte will und verwirklicht, immer auf das Ganze einer endgültigen und totalen Verwirklichung des Freiheitssubjektes vorgreift, das eine unendliche Sinnerfüllung will. Obgleich also die Freiheit und in und mit ihr der Geist eine zur laufenden Geschichte «transzendente» Sinnerfüllung wollen, ist diese dem Geist und der Freiheit jetzt immer noch vorausliegende, noch nicht endgültig ergrif­fene, «transzendente» Sinnantwort doch voll Bedeutung für das kon­krete Leben, das wir hier und jetzt zu führen haben. Wir dürfen «die Hoffnung der Ewigkeit» (um es biblisch zu sagen) keineswegs ruhig den Spatzen und Träumern überlassen, als ob das, was wir hier zu tun haben, sich durch solche metaphysische Träume doch nicht ändern lasse. Wo nämlich der Mensch dieser Zeit eine letzte Offenheit auf ei­nen totalen und endgültigen Sinn seines Lebens als seine eigene Hoff­nung ernsthaft glaubend verwirklicht, da ändert sich – und zwar be­freiend und entlastend und nüchterne Klarheit vermittelnd – auch sein Verhältnis zu den diesseitigen Wirklichkeiten und Aufgaben sei­nes alltäglichen Lebens.

Nur wer einen absoluten Sinn für sein Leben hoffend glaubt und annimmt, den er bei all seiner Verantwortung für das Erreichen oder Verfehlen dieses Zieles nicht einfach durch seine eigenen Leistungen zusammenstückeln muß, der ist den Einzelwirklichkeiten, Einzelauf­gaben und Einzelzwängen seines Lebens gegenüber, die ihn sonst ver­sklaven würden, ein freier Mensch. Die Bejahung eines absoluten Sin­nes, der unsere praktische Erfahrung überwältigt, ist keine Sache mü­ßiger Spekulation, sondern hat durchaus real greifbare Konsequen­zen. Wenn jemand einwenden würde, daß auch ein anderer Mensch, der diese absolute Sinnerfüllung des Lebens nicht bejaht und erhofft, dennoch ebenso gut, so tapfer, nüchtern und gelassen mit seinem Le­ben fertigwerden könne, wie der, der auf diese absolute Sinnerfüllung zielt, dann wäre darauf zu antworten, daß eine solche Versicherung vermutlich noch gar nicht mit den letzten Abgründen und Verzweiflungen des menschlichen Lebens konfrontiert ist, wenn sie so unbe­kümmert ohne letzten Sinn mit dem Leben fertig zu werden meint, und es wäre weiter zu fragen, ob nicht dieses behauptete Fertigwerdenkönnen mit dem ganzen Leben ohne Verzweiflung über seine letzte Sinnlosigkeit doch getragen sei von einer letzten Sinnbejahung im Grunde der Existenz, die nur durch theoretische Gegeninterpreta­tionen auf der Oberfläche des Bewußtseins verdeckt ist. Und schließ­lich wäre noch zu sagen, daß eine abgründige Verzweiflung über die letzte Sinnlosigkeit des Daseins sich nicht notwendig in psychiatrisch oder psychoanalytisch greifbaren Phänomenen äußern muß; es wäre weiter zu fragen, ob nicht eine schweigend gelassene Resignation, die geduldig und ohne Vorbehalte die Wirklichkeit annehmen will, wie sie ist, doch eigentlich eine ärmlich und bescheiden auftretende, aber doch wirkliche Gestalt der Hoffnung ist, wie wir Christen dieses letz­te Einverständnis mit der Wirklichkeit nennen, die noch unterwegs ist.

Bevor wir aber das, was wir über den absoluten und endgültigen Sinn unseres Lebens gesagt haben, unmittelbar als Aussage über Gott deuten, die Sinnfrage mit der Gottesfrage identifizieren, ist noch et­was über diesen absoluten Sinn selber zu sagen, was sich aus dem bis­her Gesagten ergibt. Der Sinn, nach dem wir so im Unterschied zu einzelnen sinnhaften Wirklichkeiten fragen, muß das unumgreifbare, nie durchschaubare, nie manipulierbare Geheimnis sein und immer bleiben. Eine Forderung nach einem universalen, alle Sinnwirklich­keit in sich in Einheit integrierenden Sinn, der gleichzeitig von uns einfach durchschaubar und manipulierbar wäre, würde einen Wider­spruch in sich bedeuten. Der universale Sinn kann kein über ihn selbst hinausgreifendes Koordinatensystem außer sich selbst haben, von dem her er durchschaubar und manipulierbar wäre. Dieser Sinn muß also für den, der nicht mit ihm identisch ist, sondern auf ihn zugeht als Fragender und Suchender, notwendig unumgreifbar sein. Die Er­kenntnis des Menschen greift über alle Einzelwirklichkeit hinaus und ebenso ist es mit der Freiheit. Damit aber ist gesagt, daß dieser unend­liche Sinn nicht noch einmal selber in derselben Weise umgriffen und bewältigt werden kann, wie die Einzelgegenstände der Erkenntnis und der Freiheit. Der Mensch ist somit wesentlich und unerbittlich mit dem unumgreifbaren Geheimnis konfrontiert. Er übersteigt immer in einem Vorgriff des Erkennens und der Freiheit das einzelne, um es so durch diese Überholung zu begreifen, und gerät so vor den universa­len Sinn als vor das bleibende Geheimnis. Er «scheitert» (wenn man so sagen will) daran und findet so die Erfüllung, indem er dieses Geheim­nis als seine eigene Vollendung liebend annimmt.

Nur, wo der Mensch diese Unaussprechlichkeit des ihn umfassen­den und von ihm nicht umfaßten Sinnes und damit auch seiner eigenen Existenz annimmt, zuläßt und in Liebe sich ihr ausliefert, hat er sein wahres Wesen gefunden und angenommen. Er nimmt den totalen Sinn nicht als einen von ihm beherrschten an, sondern läßt sich von ihm überwältigen. Die docta ignorantia diesem totalen Sinn gegen­über, die am radikalsten erkennt, wo sie die Unbegreiflichkeit des Er­kannten annimmt, ist das wahre Wesen des heute verbreiteten Agno­stizismus und Skeptizismus, der gar nicht radikal genug ist, wo er sich als stolzes Durchschauen der Nichtigkeit aller Wirklichkeit gebärdet, sondern wo er das Geheimnis, das uns annimmt und überwältigt, real sein läßt. So kommt nun unsere Sinnfrage in eine seltsame Krise. Wir verlangen nach Sinn – und mit Recht nach einem totalen Sinn. Dabei sind wir fast unwillkürlich und unreflex versucht, diesen Sinn als das «Durchschaubare» und «Durchschaute», als das Aufgeklärte und so die Finsternis unserer Existenz Aufklärende zu verstehen. Wir verlan­gen nach Licht und denken uns unwillkürlich dieses Licht, das alles er­leuchtet und sinnvoll machen soll, im Stil unserer eigenen Lichter, die wir beim Herumtappen in unserer Finsternis benutzen. Wir meinen, etwas sei erkannt, wenn seine Einzelheiten in ihrem gegenseitigen Zu­sammenhang erfaßt sind und eingefügt werden können in den größe­ren Zusammenhang unserer Bedürfnisse und Neugierden. Aber dar­um darf es sich gerade nicht handeln, wenn wir den totalen Sinn als das unumfaßbare Geheimnis erkennen, wenn wir die Erfahrung der Unbegreiflichkeit des totalen Sinnes machen, in der nicht etwas ein­zelnes Unbekanntes als bedauerlicher Restbestand einer durchschau­enden Erkenntnis hingenommen wird, sondern die Erfahrung des Mysteriums als des letzten Sinnes unserer ganzen Existenz gemacht wird:

Von der Sinnfrage zur Gottesfrage

Nun ist es aber an der Zeit, diese Sinnfrage ausdrücklich als Gottes­frage zu verstehen. Wir haben bisher eigentlich, ohne das Wort zu verwenden, immer schon von Gott geredet. Vor­aus­setzung ist nur, daß wir begreifen, daß der totale, umfassende und endgültige Sinn unseres Lebens, auf den wir in Geist und Freiheit uns hinbewegen, ohne ihn durch unsere einzelnen Sinnsetzungen herstellen zu kön­nen, eine Wirklichkeit ist. Wäre er nämlich etwas bloß Gedachtes, ein bloß ideologisch Postuliertes, liefe unsere Sinnfrage als die eines wirk­lichen Menschen letztlich doch in das Leere, in das Nichts, das nichts erklärt und nichts bewegen kann, die radikale Ernsthaftigkeit unserer Sinnfrage gar nicht zu tragen vermag. Wenn jemand meint, das so Ausgesagte sei doch bloß ein Ausgedachtes, weil wir, um es uns selber zu sagen, davon reden müssen, wer denkt, daß nur die unmittelbar auf unsere sinnliche Erfahrung aufprallenden Dinge wirklich real seien, wer das Empfinden hat, daß nur durch die Wirklichkeiten, denen wir auch durch unsere Freiheit nicht ausweichen können, wirklich und nicht nur gedacht sind, dem ist natürlich nicht zu helfen. Er kann nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß diese seine Voraussetzun­gen auch von ihm gedacht sind, also eigentlich auch seinem Verdacht auf Unwirklichkeit verfallen müßten, daß diese Voraussetzungen gar nicht bewiesen sind, letztlich, wenn auch zunächst unauffällig, Wi­dersprüche enthalten. Wir nehmen unsere Frage nach einem totalen Sinn ernst, wir halten unsere Antwort darauf für gültig, wir halten darum die Existenz dieses universalen Sinnes, auf den wir zugehen, ohne ihn selber zu machen, gegeben als eine absolute Wirklichkeit, und diese nennen wir Gott. Die Sinnfrage und die Gottesfrage sind so­mit für uns identisch. Die Wirklichkeit eines absoluten Sinnes und die Wirklichkeit Gottes sind identisch.

Wenn wir so von der Beantwortung der Sinnfrage zur Beantwor­tung der Gottesfrage gelangen, soll damit nicht gesagt sein, daß dieser Weg in seiner begrifflichen Ausdrücklichkeit der einzige Weg zur Er­kenntnis Gottes sei. Letztlich werden zwar, in letzter Genauigkeit ge­sehen, alle Wege der Gotteserkenntnis identisch sein, wobei es schließlich nicht so wichtig ist, ob man sie oder einige von ihnen «Got­tesbeweise» nennt. Aber es soll nicht behauptet werden, daß der Vor­gang einer Gotteserkenntnis notwendig und für jedermann in gleich guter Weise zugänglich gerade unter dem Stichwort «Sinn» verlaufen müsse. Schon darum nicht, weil die traditionellen Formulierungen solcher Wege der Gotteserkenntnis, solcher Gottesbeweise, mit ande­ren Begrifflichkeiten zu arbeiten pflegen und hier gewiß nicht ver­dächtigt werden sollen. Richtig ist umgekehrt, daß alle echten Wege der Gotteserkenntnis, wenn sie nicht rationalistisch in einem zu billi­gen Ursache-Wirkung-Denken versanden wollen, immer über die Ganzheit der menschlichen Existenz mit ihrer unbegrenzten Transzendentalität und Freiheit führen müssen, also auf jeden Fall nicht sehr weit von der ausdrücklichen Sinnfrage und ihrer. Antwort verlau­fen können.

Wenn die letzte, vom Menschen her erreichbare Antwort auf die universale Sinnfrage eine Bejahung der Wirklichkeit des unendlichen Gottes einschließt, ja beide identisch sind, so ist damit nicht behaup­tet, daß vom Menschen allein her und von seiner natürlichen Geistig­keit und Freiheit her es schon möglich sei, eine letzte und endgültige Bestimmung des genauen Verhältnisses des Menschen zu diesem ab­soluten Sinn seiner Existenz, Gott genannt, zu erreichen. Vom Men­schen allein her bleibt immer noch offen, auch bei der Beantwortung der letzten Sinnfrage, wie, in welcher Nähe oder Distanz der Mensch in der Endgültigkeit seiner Frei­heit zu diesem göttlichen Sinn seines Lebens gelangt. Hier gibt die christliche Offenbarung erst eine genaue und radikale Antwort: Gott, der absolute Sinn, die unendliche Wirk­lichkeit, das ewige, immer Mysterium bleibende Geheimnis gibt sich selber in seiner eigensten Wirklichkeit dem Menschen in seiner Voll­endung durch das, was wir die unmittelbare Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht nennen, in der Gott nicht mehr durch die Ver­mittlung einer endlichen Wirklichkeit und eines geschaffenen Glücks, sondern durch sich selbst die letzte, unüberbietbare Sinnantwort auf die Frage ist, die letztlich der Mensch selber ist.

Es soll nochmals ausdrücklich betont werden, daß wir die absolute Sinnfrage, die wir als berechtigt und unausweichlich erklären (ob­zwar sie im Modus des Verdrängtseins gegeben sein kann), nicht ei­gentlich mit einem Gott oder einem Begriff von Gott beantworten, der von irgendwo anders her als Antwort an diese Sinnfrage herange­tragen wird. Vielmehr gibt die Frage nach einem absoluten Sinn, wenn sie wirklich angenommen wird und sie sich selber bis zum letz­ten aussprechen darf, die Existenz eines absoluten Sinnes als wirkli­chen und somit die Existenz Gottes selber her. Es gibt zwar menschli­che Einzelfragen, die durch eine von ihr schlechthin verschiedene Er­fahrung und deren Gegenstand beantwortet werden. Aber die totale Sinnfrage enthält, wenn sie nicht verleugnet wird und sich ganz ausre­den darf, ihre Antwort in sich selber. Sie sagt darum mit ihrer Antwort ursprünglich und durch sich selbst, was eigentlich mit Gott gemeint ist. Darum ist auch dort schon eine Erkenntnis Gottes gegeben und mitvollzogen, wo die Sinnfrage als sinnvolle und sich selbst beant­wortende im konkreten Vollzug des menschlichen Lebens mit seinen Gewissensentscheidungen angenommen wird, auch wenn ein solcher Mensch den Eindruck hat, er könne mit dem Wort «Gott» und selbst mit den Worten «absoluter Sinn» und ähnlichem nichts anfangen. Auch der gerät in der Konkretheit seines Lebens mit seiner unerbittli­chen Verantwortung vor die Frage, ob es einen letzten Sinn gebe, auch er beantwortet sie mit Ja oder Nein und vollzieht so eine letzte Stellungnahme gegenüber Gott und seiner Unbegreiflichkeit.

Damit ist freilich auch wiederum nicht gesagt, daß eine ausdrückli­che Verbalisierung des Verhältnisses des Menschen zum letzten, gött­lichen Sinn seiner Existenz nur eine müßige Frage für ein paar meta­physische oder theologische Spekulanten sei. Nein, weil Sie, die Leser solcher Überlegungen, trotz derer Mühseligkeit ausdrücklicher und unausweichlicher vor die Frage gestellt sind, ob Sie versuchen wollen, bloß durch partikuläre Sinnerfahrungen im Leben weiterzumachen, wie auf einer Wüstenwanderung durch ein paar Oasen hindurch, um dann letztlich doch in der leeren Wüste zu verdursten, oder ob Sie Ihr konkretes Leben von der hoffenden Überzeugung eines letzten Sin­nes von unendlicher Verheißung und radikaler Verantwortung zu­gleich gestalten, darum ist, wenn diese Überlegungen nicht bloß von menschlichem Geschwätz allein erfüllt waren, eigentlich ein Geschehen gegeben, in dem sich, vielleicht stotternd und dunkel, aber doch auch hörbar, die äußerste Verheißung und Verantwortung zu Wort ge­meldet haben. Es hat einen Sinn, vom Sinn zu reden, und dieser bere­dete Sinn ist nicht bloß in den paar kleinen Sinnhaftigkeiten da, denen wir auf dem Weg unseres Lebens mit all seinen Absurditäten begeg­nen; dieser Sinn ist unendlich und unumfaßbar; er ist unser Sinn und heißt Gott.

Vortrag am 11. Juni 1982 bei der Reinhold-Schneider-Stiftung in Freiburg.

Quelle: Karl Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 15, Zürich-Einsiedeln-Köln: Benzinger, 1983, S. 195-205.

Hier der Text als pdf.

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