Oswald Bayer, Stadt der Geborgenheit. Jerusalempredigt zu Psalm 46: „Die im Stillehalten und Beten gründende Tat der Förderung des irdischen Friedens liegt zuerst im Einsatz für eine nüchterne Sicht der Welt, in der wir leben. Es gilt ihre abgründige Gefährdung und den Kampf der Götter nicht zu verkennen. Trotz der Hilfe Gottes ‚früh am Morgen‘, am Ostermorgen, und seinem Sieg über den Tod und alle lebensfeindlichen Mächte sind diese – Gott seiʼs geklagt! – nicht einfach verschwunden.“

Stadt der Geborgenheit. Jerusalempredigt zu Psalm 46

Von Oswald Bayer

I. Die gefährdete Welt

Um einen Machtkampf geht es, einen Kampf um die Macht. Wer gewinnt? Das Chaos oder der Kosmos? Bleiben die Verhältnisse und Gleichgewichte stabil? Bleiben die Chaoswasser gebändigt? Oder brechen sie hervor, so dass es am Ende heißen wird: Und die Erde ward wüst und leer?

Grund zum Fürchten ist genug gegeben. Wer kann vertrauensvoll sagen: Ich fürchte mich nicht, „wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen“? Wer kann vertrauensvoll sagen: Ich fürchte mich nicht, wenngleich die Erde bebt? Wenngleich ein Tsunami in seinem Ungestüm und Wüten mich begräbt? Wenngleich ein Blitz mich trifft? Wenngleich Wasser mich ertränkt? Ein Felsblock im Gebirge mich erschlägt? Schwere Depressionen mich attackieren? Ein Krebs mich auffrisst?

Doch nicht nur der gefräßige Schlund der Natur ist bedrohlich. Auch die Geschichtsmächte sind es. Wie das Ungestüm und Wüten der Natur sind auch die gesellschaftlichen und politischen Machtkämpfe, die Wogen und Wellen des blutigen Kriegsgetümmels der Völker.

So heißt es im Jesajabuch vom Chaos der Geschichte: „Wie das Meer wird es brausen; das Getümmel der Menschen wird wüten, wie große Wasser wüten. Ja, wie große Wasser wüten, so werden die Menschen wüten“ (Jesaja 17,12f). Das ist geschichtliche Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Weltgeschichte, dass sie ein Kampf ist aller gegen alle auf Leben und Tod um gegenseitige Anerkennung ist. Der Umgang der Menschen untereinander geschieht nicht nur im friedlichen Tausch, im Gespräch und Kompromiss, sondern endet oft schmerzlich im Kommunikationsabbruch, im Mord, Terror und Krieg, am allerschlimmsten im Genozid. Was die Hutu den Tutsi angetan haben, ist kein einsamer Sonderfall, sondern offenbart das Unwesen, das jeden von uns nicht zuletzt von innen her bedroht.

Keiner kann sagen, dass unser Psalm sich über die Welt, in der wir leben, irgendwelche Illusionen macht. Er sieht sie in radikaler Nüchtern­heit, wie sie in der Tat ist: extrem gefährdet, bedroht von den Chaos­mächten, den lebensfeindlichen Mächten des Verderbens. Die Welt der Natur und Geschichte besteht keinen Augenblick aus sich selbst; sie hat aus sich heraus und in sich selbst keine Stabilität und ist deshalb nicht vertrauenswürdig.

Eine Stabilität hat auch nicht das im Umgang mit der Natur und Geschichte sich bildende Selbst. Von diesem ist im Text zwar nicht ausdrücklich die Rede. Doch kennen wir diesen unsicheren Kantonisten aus eigener Erfahrung, wie sie auch in vielen Psalmen zu Wort kommt. Sie wissen von der Selbstgefährdung des Menschen, von seinem unbe­ständigen Herzen, dessen vermessenem Trotz und abgründiger Verzagt­heit, sie sprechen von Situationen, in denen ich nicht mehr ein noch aus weiß und mir das Wasser bis zum Halse steht. So klagt Psalm 69: „Das Wasser geht mir bis an die Kehle; ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist; ich bin im tiefen Wasser und die Flut will mich ersäufen“ (Psalm 69, 2f).

Gibt es eine Macht, die solcher tödlichen Bedrohung, die der Zerstö­rung des Lebens, die dem Wüsten und Leeren, dem aggressiven Nichts gewachsen ist? Eine Macht, die diese Zerstörung zerstört? Endgültig. Gibt es einen Machthaber, „der auf Erden solch [heilsames, rettendes] Zerstören anrichtet, der den Kriegen steuert in aller Welt [sie abschafft, sie überwindet], der Bogen zerbricht und Spieße zerschlägt und [Kampf-]Wagen mit Feuer verbrennt“? Gibt es einen solchen Machthaber, eine solche Macht? Gewiss in zeichenhaften Ansätzen – etwa in der UNO. Wir dürfen die Kraft und Leistung unserer Vernunft nicht gering achten. Aber auch dem, der sie nicht gering achtet, bleibt die bange Frage: Wird es jemals eine endgültige Überwindung des Krieges, einen ewigen Frieden geben? Ist es keine Täuschung, wenn wir die Idee eines ewigen Friedens zur Orientierung des Handelns als ein notwendiges Postulat der Vernunft hegen, das Fortschritte auf das Ziel eines ewigen Friedens ermöglicht und bewirkt? So ist wohl besonders heute, zu Beginn der ökumenischen Friedensdekade, zu fragen.

II. Im Gegenzug und Widerspruch: Das neue Jerusalem

Unser Psalm kann von der Bedrohung des Lebens nur deshalb so radikal und ungeschönt reden, weil er ihr und mit ihr dem Nichts nicht das letzte Wort lässt – und ebenso wenig das erste. Sein allererstes Wort ist „Gott“: „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht…“ So wird von vornherein der felsenfeste Grund des Vertrauens, der Grund des Trotzes gegen alle Bedrohung laut – der Grund, der über alles gelobt, aber auch gesucht und erbeten sein will, wie dies Luther 1529 angesichts drohenden Krieges mit seiner Friedensbitte tut: „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unseren Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott alleine“ (EG 421).

Der einzig Eine, der im Kampf um die Macht für das Leben streitet, dem Chaos und den Kriegen wirksam und endgültig widerspricht, tat dies nicht in ferner ungreifbarer Vergangenheit und tut dies nicht – viel­leicht – in ferner ungreifbarer Zukunft. Er tut dies hier und jetzt: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade; siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ (2 Korinther 6,2). Er tut dies hier und jetzt, in der Gegenwart und an einem ganz bestimmten Ort: in Jerusalem.

Nach unserem Psalm hat Gott im Gegenzug und Widerspruch zur instabilen, jede Ordnung brechenden Urflut eine ewige Stadt gegründet – Inbegriff der Stabilität, der kosmischen wie sozialen Ordnung: Jerusa­lem, die Stadt des Friedens, wie schon ihr Name sagt. Die zweite Strophe des Psalms bietet ein Kontrastbild zum Bild der ersten Strophe, wie es schärfer und klarer nicht sein kann: dort die aufbrausenden, Leben zerstörenden Meereswogen, hier das geregelt und sanft fließende, Leben spendende Wasser – in Luthers Übersetzung: die „Brünnlein“ (vgl. Psalm 65,10), dort das Chaos, hier der von Gott gegründete Kosmos, dort die Unsicherheit, hier die Geborgenheit, dort das Verderben, hier das Heil: „Schöpfung“ als Stiftung und Bewahrung von Gemeinschaft.

Jerusalem ist „die Stadt Gottes“, „da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind“; „Gott ist bei ihr drinnen“. Er hat in dieser Stadt und ihrem Tempel Wohnung genommen, nur in Jerusalem, sonst nirgends. Er hat sich in Freiheit darauf festgelegt, nur in ihr seinen Namen wohnen zu lassen, vor allem aber: nur in seinem Namen sich finden zu lassen. Sein Name ist die Zusage und Gabe, „barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Gnade und Treue“ zu sein (2 Mose 34,6).

Überall dort, wo dieser Name laut wird und sich hören lässt, ist Jerusalem. Dieses Jerusalem ist gewiss nicht das irdische Jerusalem, das in unseren Tagen ja friedlos zerteilt und umstritten ist, wohl aber das himmlische und zu uns kommende, also zu-künftige Jerusalem, das Gott zum „Baumeister und Schöpfer“ hat (Hebräer 11,10). Es ist nicht die Wohnung Gottes, die wir ihm bauen, sondern der Gnadenort, der Gnadenstuhl, den er uns gebaut hat, indem er Mensch wurde und unter uns wohnte (Johannes 1,14). Dieses „neue“ (Offenbarung 3,12; 21,2) Jerusalem wird nicht durch unserer Hände Arbeit aufgebaut – von unten nach oben in den Himmel hinaufgebaut wie der Turm zu Babel (1 Mose 11) –, sondern ist allein Gottes Werk, das von oben herabkommt (Offenbarung 3,12; 21,2; Galater 4,26; Hebräer 12,22), uns vom Himmel herab gegeben, geschenkt wird: das Reich Gottes – Gott in seiner Macht – als reine Gabe!

Vom Kommen des Reiches Gottes haben wir in der Lesung des Evangeliums gehört: „Da Jesus aber gefragt ward von den Pharisäern: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass manʼs mit Augen sehen kann; man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: da! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lukas 17,20f); es lässt sich zwar nicht sehen, wohl aber hören.

Mitten unter euch bin ich; in mir ist das himmlische Jerusalem schon auf die Erde gekommen. „Wenn ich durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Lukas 11,20). Ich kämpfe für euch gegen das Böse, das Chaos, das Nichts. „Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin“, der Herr Zebaoth, der Herr der Heerscharen, der Allmächtige, ich: Jesus Christus.

Ist dieser Anspruch denn nicht absurd? Verrückt? Der Allmächtige, „der den Kriegen steuert in aller Welt [sie abschafft, überwindet], der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und [Kriegs-]Wagen mit Feuer verbrennt“, dieser machtvolle Friedensfürst sollte identisch sein mit dem ohnmächtigen Kind in der Krippe und dem ohnmächtigen Mann am Kreuz? Die Fülle Gottes sollte leibhaftig in diesem einen endlichen und sterblichen Menschen wohnen!? Der Schöpfer des Himmels und der Erde, den aller Himmel Himmel in seiner Macht nicht fassen können, sollte identisch sein mit einem Geschöpf, mit diesem einen Jesus von Nazareth? Der Schöpfer des Himmels und der Erde, den aller Himmel Himmel in seiner Macht nicht fassen können, sollte hier und jetzt in einem winzigen Bissen Brot und einem winzigen Schluck Wein zu uns kommen und Wohnung bei uns nehmen (Johannes 14,23)? Sollte hier und jetzt ein einziges „Wörtlein“ des ihn predigenden Menschen den Kampf um die Macht entscheiden und endgültig Frieden schaffen?

Ja, den ganzen chaotischen Ungeist, den „alt bösen“ Feind des Lebens mit seiner großen Macht und vielen List, mit dem es kein Mensch aufnehmen kann, bringt ein einziges unscheinbares, armes Wort zu Fall; „ein Wörtlein kann ihn fällen“.

Offensichtlich wird der Kampf um die Macht mit ganz ungleichen Mitteln geführt und entschieden: Das stürmende Meer wird nicht durch eine noch fürchterlichere Gewalt gebändigt, sondern durch sanft fließendes Wasser. Der schreckliche Krieg wird nicht durch einen noch schrecklicheren abgeschafft, sondern durch Gottes wehrlosen Namen seiner Barmherzigkeit. Durch das unscheinbare, arme „Wörtlein“ vom Mensch Gewordenen und Gekreuzigten, in dem Gott unansehnlich und anstößig abstoßend – skandalös -Wohnung nahm und der so zum ewigen Jerusalem wurde.

Er selbst, dieser Jesus Christus, ist die mütterliche Stadt, die mich birgt und beschützt – wie die Glucke ihr Küken (Matthäus 23,37). „Will Satan mich verschlingen“, spricht er sein Machtwort und lässt „die Engel singen: ‚Dies Kind soll unverletzet sein‘!“ (EG 477,8).

ER sagt:
Du bist in dieser festen Stadt Jerusalem mütterlich geborgen in Zeit und Ewigkeit. Ich, der Barmherzige, bin deine Zuversicht und Stärke, Hilfe in den großen Nöten, die dich getroffen haben. Darum fürchte dich nicht, wenngleich die Angst wie die Urflut wütet und wallt und dir die Besinnung raubt. Darum fürchte dich nicht, wenn du gleich nicht mehr durchblickst und die große Hoffnung, die du hattest, mitten ins Meer sinkt. Sei getrost, auch wenn der liebste Mensch dir genommen wurde und du ins Nichts zu fallen drohst. Ich, der Barmherzige, bin deine Zuversicht und Stärke, deine Hilfe in den großen Nöten, die dich getroffen haben.

III. Das neue und das alte Jerusalem

Sei stille und erkenne, dass ich Gott bin, deine Zuversicht und Stärke, der Herr Zebaoth, „und ist kein andrer Gott” (EG 362,2). Vertraue mir! Mir – und nicht anderen Göttern.

Was besagt dies – heute, zu Beginn der Friedensdekade? Wir haben eben das große „Fürchte dich nicht!“ des ewigen Jerusalem gehört und lassen es – gebe es Gott! – in unseren Herzen wohnen und regieren. Stille sein, die Hände sinken lassen, können und sollen wir, weil Gott allein für uns streitet (2 Mose 14,14). Denn: „Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren“ (EG 362,2). Doch ist dieses Stillehalten voller Kraft: „Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat“ (EG 457, 11).

Die im Stillehalten und Beten gründende Tat der Förderung des irdischen Friedens liegt zuerst im Einsatz für eine nüchterne Sicht der Welt, in der wir leben. Es gilt ihre abgründige Gefährdung und den Kampf der Götter nicht zu verkennen. Trotz der Hilfe Gottes „früh am Morgen“, am Ostermorgen, und seinem Sieg über den Tod und alle lebensfeindlichen Mächte sind diese – Gott seiʼs geklagt! – nicht einfach verschwunden. Als ob uns keine Götter und Herren mit ihren Drohungen und Versprechungen mehr zusetzten (1 Korinther 8,5)! So bleiben Kampf und Streit – bis zu jener Vollendung der Welt, in der wir nicht mehr, angefochten, im Glauben und in der Hoffnung leben, sondern den geglaubten und erhofften Frieden ohne Anfechtung und Klage schauen. Auf wunderbare Weise werden wir dann dessen innewer­den, dass seit dem Ostermorgen der Tod überwunden ist, die Bogen zerbrochen, die Spieße zerschlagen, die [Kampf-] Wagen mit Feuer verbrannt, kurz: Kriege abgeschafft sind, „…nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“ (EG 179,1).

Im Jerusalemglauben des schon gestifteten Friedens dürfen und sollen wir nun auch wagen, intensiv nach denjenigen Möglichkeiten des politischen Handelns zu suchen, die in der Bewegung und Richtung des schon gekommenen Reiches Gottes liegen. Freilich: Solche Möglichkeiten sind im innerweltlichen Kampf aller gegen alle auf Leben und Tod um gegenseitige Anerkennung unter den Bedingungen des zerteilten, durch Konflikte zerrissenen irdischen Jerusalem zu verwirklichen. Dabei erfahren wir schmerzhaft: Das weltliche Regiment Gottes ist keineswegs identisch ist mit seinem geistlichen. Und ein puristischer Pazifismus kann angesichts der immer noch lauernden Wölfe nicht der Wille Gottes sein. Denn Gott will, dass wir das Leben der in unsere Obhut Gegebenen schützen – im alleräußersten Notfall mit legitimer Gewalt. Eben damit aber nehmen wir immer noch teil an der alten Welt des irdischen Jerusalem und seiner Konflikte.

Lässt sich diese Teilnahme ohne Resignation oder Zynismus durchhal­ten? Ja, in dem Vertrauen, dass der „alt böse“ Feind, der innergeschicht­lich immer noch tobt, nicht gewinnt; sondern „das Reich uns doch bleiben muss“ (EG 362,4). Deutlicher: Das Reich muss ihm doch bleiben: ihm, dem Kind in der Krippe, ihm, dem Mann am Kreuz. Dieses Vertrau­en in das neue Jerusalem, in die ewige Gottesstadt, versteht sich keineswegs von selbst. Wir können darum nur bitten und singen: „Verleih uns Frieden gnädiglich …“ Wir können darum nur bitten und singen – jeden Abend mit unsern Kindern und Enkeln: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimmt dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, so lass die Engel singen: ‚Dies Kind soll unverletzet sein‘“! (EG 477, 8). Amen.

Quelle: Jochen Arnold/Fritz Baltruweit/Kathrin Oxen (Hrsg.), Reformation erinnern, predigen und feiern, Hannover: Lutherisches Verlagshaus, 2016, S. 560-565.

Hier der Text als pdf.

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