Helmut Gollwitzer, Begegnung mit Luther (1955): „Jetzt kommt die Bibel in Bewegung. Sie wird aus einem widerspruchsvollen alten Buch mit dunklen Lehren zu einem Chor lebendiger Zeugen, die alle auf die gleiche Mitte weisen. Ihre Worte sind Träger und Gefäß des einen Wortes; darum muss man auf sie mit höchster Sorgfalt hören, und alle Worte der Kirche haben ihnen zu entsprechen. Es ist bekannt, wie aus diesem Achten auf die biblischen Worte, aus der Bemühung um ihre zutreffende Übersetzung unsere neuhochdeutsche Sprache hervorging — und man denke nicht, dass dieser biblische Ursprung dabei zufällig sei. Das Wort, das Faust ’so hoch unmöglich schätzen‘ konnte, musste als ein so hoch zu schätzendes auftreten, damit sich an ihm alle Möglich­keiten des Lutherischen Sprachgenies entzündeten. Weil die deutsche Sprache in den höchsten Dienst trat, erwuchsen ihr plötzlich so ungeahnte Fähigkeiten. — Die Kirche wird aus einer Institution, die herrscherlich die Heilsgüter verwaltet, zur ‚Herde, die auf ihres Hirten Stimme hört‘, zur Schar von Menschen, die den Ruf gehört haben und weitertragen. Alle Beziehungen zwischen Gott und Mensch werden aus sachhaften zu personalen.“

Begegnung mit Luther (1955)

Von Helmut Gollwitzer

Wem dieser Band unter die Augen und in die Hand kommt, dem ist er eine Einladung in ein unbekanntes, nur vermeintlich bekanntes Land. Eine Einladung zugleich zum Abbau einer Mauer von Mißverständnissen, die ihm Sicht und Eintritt in jenes Land verwehren. Wer meint nicht von Luther etwas zu wissen? Wer hätte nicht irgendein Urteil über ihn? Wie sein Name jedem bekannt ist, so hält jeder auch ihn selbst für einen Wohlbekannten. Der wirkliche Luther ist der unbekannte Luther, hinter den landläufigen, von Sympathien und Antipathien gezeichneten Lutherbildern verborgen; er ist schwerer zugäng­lich als manch anderer von den Großen unserer Vergangenheit. Zu ihm selbst dem heutigen Leser einen Zugang zu öffnen, also zu ihm hin einzuladen, geschieht nicht aus antiquarischem oder sektiererischem Interesse, auch nicht aus privater Liebhaberei.

Merkwürdiger Zwiespalt: seit hundert Jahren haben wir eine wissenschaftliche Bemühung um Luthers Gestalt und Lehre, die eine heute kaum mehr überschaubare Literatur hervorbrachte und durch ihre Breite und Intensität schon ein unübersehbares Argument für die Reichhaltigkeit, Tiefe und Würde ihres Ge­genstandes ist, seit über 30 Jahren steht die evangelische Chri­stenheit unter dem Einfluß einer „Lutherrenaissance“, die das geistige Gesicht des deutschen Protestantismus tiefgreifend mit­gewandelt hat — aber was von den nahezu hundert lexikon­starken Bänden der Weimarer Lutherausgabe bis zu den vielen größeren und kleinen Auswahlen und Sonderdrucken seiner Schriften vorhanden ist, dringt über die Kreise der Theologen und der kirchlichen Leserschaft kaum hinaus; Thomas von Aquin, Pascal, Kierkegaard werden von einem großen Publikum gelesen, Luther (und ebenso Calvin) bleibt hinter einer Schein­bekanntschaft von Schulwissen und Darstellungen aus zweiter Hand versteckt. Wer mit ihm in geistigem Umgang steht, kann das nicht genug bedauern. Weil Luther in seinen historischen Wirkungen heute noch so gegenwärtig ist und weil die Sache, die er vertrat, mit dem Wechsel der Zeiten nicht veraltet, darum ist Luthers Unbekanntheit, die Verborgenheit des wirklichen Luther hinter den Verzerrungen der Gunst und Mißgunst ein größerer Schaden für das geistige Leben der Zeit, als es sonst vom Verblassen und Verkanntwerden großer historischer Persönlichkeiten zu sagen ist.

Es ist die Eigenart bedeutender Menschen, unlösbar in ihrer Zeit zu stehen, die sich in ihnen erfüllt, und ihr doch nicht ganz anzugehören. Für Luther gilt das in besonderem Maße. Er ist zugleich mittelalterlicher und moderner als die anderen Großen seiner Jahrhunderthälfte, als etwa Erasmus, Paracelsus, Thomas Müntzer und Therese von Avila, woraus sich auch die in der Forschung oft verhandelte Frage erklärt, ob er denn eigentlich schon in die Neuzeit und nicht vielmehr noch ins Mittelalter gehörte. Er sieht Dämonen, und seine Theologie ist ohne seinen Glauben an die Realität des Satans nicht zu denken, theoretischer Atheismus ist ihm Ruchlosigkeit wie nur je einem mittelalter­lichen Menschen, und von der Renaissancelust am Diesseitigen ist er so gänzlich unberührt, daß Nietzsche ihn als den großen Verhinderer des Sieges der Renaissance beklagen konnte. Zu­gleich aber ist er in einem unbegreiflichen Maße frei von den Rücksichten und Unentbehrlichkeiten, die auch den Menschen seines Jahrhunderts banden: vom Glauben an die Unerschütter­lichkeit der tragenden Institutionen des Kaisertums und der kirchlichen Hierarchie, von aristotelischem Formalismus wie von astrologischer Zeichendeutung, vom ängstlichen Eifer, das Wankende zu stützen, wie vom utopischen Eifer, eine neue Welt zu stiften. Er sieht die Zeitlichkeit und Zeitbedingtheit der geschichtlichen Mächte und Gestalten, ohne die nach Meinung der Zeitgenossen die Welt nicht bestehen kann, und kann des­halb seinen um die Einheit von Reich und Kirche mit gutem Grunde höchst besorgten Freund Melanchthon während des Augsburger Reichstages von der Coburg aus überlegen trösten: „Was fürchten wir nun die überwundene Welt, gleich als wäre sie der Überwinder?“

Sein Weltbild ist mittelalterlich, vorkopernikanisch — aber entscheidend ist nicht, was alles er im Unterschied zu uns für real hält, sondern woher er die Realitäten beurteilt, wie sie sich ihm also scheiden in solche, die zu respektieren, und in solche, die mit Protest gegen ihren Geltungsanspruch zu verachten sind. Bezeichnend dafür ist sein Gefeitsein gegen die Hoch­schätzung der Astrologie, die der mittelalterlichen Kosmologie entsprach und deshalb auch von den Theologen seiner Zeit eifrig geübt wurde: „Während Philippus“ (Melanchthon) „die Astrologie betreibt, trinke ich einen starken Trunk Bier, wenn ich schwere Gedanken habe.“ „Schwere Gedanken“ freilich, tiefe Anfechtungen sind sein Teil gewesen sein Leben lang, und seine Theologie ist recht eigentlich das Bekenntnis eines tief angefochtenen Menschen über das, was ihn bedrängte, wie über das, was ihn errettete, das Bekenntnis immer neuer Errettung aus immer neuer Bedrängnis. Aber diese Bedrängnis kam ihm nicht von außen, sondern von innen; nicht der Kosmos war ihm wie dem mittelalterlichen Menschen der Wohnsitz lauern­der Dämonen, sondern das eigene Herz. Seine Naturfreude, seine Lebensbejahung sind darum vorbehaltloser als selbst im Diesseitskult der Renaissance und der Moderne; sie sind er­staunlich für den, der von Luthers Teufelsglauben und An­fechtungsbekenntnissen her eine düstere Lebensanschauung erwartet hätte. Ebenso wird der, der von Luthers Lehre vom geknechteten Willen und von seinen abschreckenden Worten über die „Hure Vernunft“ gehört hat, in ihm eher einen bar­barischen Antihumanisten, einen nordisch-dunklen Irrationalisten erwarten als einen Mann, der gelassen die Ordnung der irdischen Dinge der Vernunft (also keineswegs geheiligten Traditionen oder der Lenkung der Kirche) an vertrauen will, der die Vernunft als Optimum et divinum quiddam, als eine aller­beste göttliche Gabe preist, die nicht zu gebrauchen ein Gott-Versuchen bedeute. Die „überwundene Welt“ ist ihm Heimat geworden, in der er sich unbefangen bewegt, weil ihm von ihr her keine Gefahren mehr drohen.

Diese Unbefangenheit der Welt, der Natur, der Geschichte, den Ereignissen gegenüber gehört zum Auffallendsten an Luther. Sie ist der Grund seines unerhörten Mutes. Daß er diesen nur in der Zeit der ersten Kämpfe (also besonders des Wormser Reichstags) besessen habe und später zum traurigen Fürstenknecht herunter gesunken sei, ist eine groteske Vor­stellung, die ihren Vertretern nicht zum Ruhme gereicht und auf einer psychologischen Fehldeutung von Luthers Obrig­keitslehre beruht. Wo es nur je darauf ankam, da hat er sich bis zu seinem Tode als der gleiche bewiesen, der 1521 durch seine Verweigerung des von ihm geforderten Widerrufs den Worm­ser Reichstagssaal zum Sieden brachte. 1541 bekennt er, er habe vor der ungeheuren Macht des Papsttums nur einmal Angst verspürt, nämlich bei der ersten Schrift eines römischen Theolo­gen gegen ihn: „Da gedachte ich: ‚Leichnam, wills dahin ge­reichen, daß die Sache will vor den Papst kommen?‘ Danach gab mir unser Herr Gott Gnade, da der Bacchant so bös Ding schrieb, daß ich mußte lachen. Seit der Zeit bin ich nie er­schrocken.“ Es ist der Mut dessen, der von der Schöpfung her nichts mehr zu fürchten hat, weil er sich in der gnädigen Hand des Schöpfers weiß. Mit dieser Unbefangenheit gegenüber allem Geschaffenen hat er mehr für den Aufbruch der neuzeit­lichen empirischen Wissenschaft getan, als er ihr durch seine zeitbedingte, reservierte Haltung gegenüber der ihm nur un­zulänglich bekanntgewordenen Entdeckung des Kopernikus hinderlich sein konnte. Tritt uns heute an die Stelle der Mütter­lichkeit der Natur, die Goethe pries, vom unbewältigten Fort­schritt der Technik her die beängstigende Unheimlichkeit der von uns selbst entfesselten Naturkräfte, so sagt uns Luther, daß die Vorstellung von der Mutter Natur uns mit Recht zerbrach, weil sie eine heidnische Täuschung war; die Erkenntnis der Väterlichkeit Gottes allein kann die Welt uns heimisch und unbedrohlich und die Technik zu einer Weise unserer Herrschaft und nicht unserer Knechtschaft machen. Nos sumus domini stellarum (wir sind Herren der Sterne), sagt er gegen die unsere Abhängigkeit von Sternenmächten erspürenden Astrologen und würde das gleiche gegen unser Seufzen unter der Abhängigkeit von den Mächten der Maschinen und den gesellschaftlichen Mächten sagen. Dies ist nicht ein Bekenntnis zu einer Herr­schaftswürde, die der Mensch aus sich hat — das wäre ein huma­nistischer Idealismus, der auch dann schon längst antiquiert ist, wenn man ihn heute immer wieder zu beleben versucht —, dies ist vielmehr eine Zusage an den bedrängten Menschen, eine Aufforderung, sich von der Gnade her neu zu verstehen: „sive vivimus, sive morimur, domini sumus, nämlich beide: in Genitivo, des Herrn, und in Nominativo, Herrn“, sagt er mit einem im Deutschen nicht nachzuahmenden Wortspiel beim Sterben seiner Tochter Magdalena: Ob wir leben oder sterben, sind wir des Herrn und also Herren.

Das heißt: unser Verhältnis zur Natur, unser Gebrauch der Wissenschaft und der Technik, unsere Freiheit gegenüber den allseitig zur Versklavung drängenden Gesellschaftsmächten hängt auf das engste mit der Begnadigung des Menschen, mit seiner Kindesstellung, mit der Väterlichkeit Gottes zusammen. Von ihr hängt ab, ob die Erde uns Herberge oder Hölle ist. Luthers Unbefangenheit und Erdenfröhlichkeit entsteht also ganz aus dem, was man mit einem theologischen Fachausdruck seine Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden durch den Glauben nennt, „dies für einen Philo­sophierenden fremdeste, wunderliche, existenziell kaum noch eine Sprache bedeutende, dies Lutherische mit seinen schreck­lichen Konsequenzen“ (K. Jaspers). Mag man an unserer Aus­wahl überprüfen, ob Luthers Konsequenzen schrecklich sind oder ob nicht vielmehr eine Philosophie, die hier nur noch ihre Fremdheit und ihr Unverständnis bezeugen kann, mit sich selbst gestraft ist. Luther hätte dazu vielleicht gesagt, daß nicht die Konsequenzen schrecklich sind — die sind selig —, sondern die Voraussetzungen. Denn wenn die Väterlichkeit Gottes Gnade ist, dann ist sie also nicht Selbstverständlichkeit, sondern das Unerwartete, das Unglaubliche, und das Gegenteil, die Ver­lorenheit, das Verworfensein ist das zu Erwartende, das Glaub­liche; Väterlichkeit ist dem Verlorenen Sohn in Jesu Gleichnis erst dann glaubbar, wenn der Vater sie ihm sagt. Dies ist die Bedeutung des „Wortes Gottes“ für Luther: es kann nicht erdacht, erhofft, erfühlt, es kann nur gegen allen Augenschein, gegen alles Widersprechende von Gott selbst gesagt und vom Menschen gehört werden, daß Gott Gott ist — und das heißt, daß er väterlich ist. Glauben ist nicht Stimmung, Träumen, Fühlen; Glauben ist Hören. Einem Geschlecht, dem die Väter­lichkeit Gottes das Unselbstverständlichste und Unglaublichste auf der Welt geworden ist, könnte Luther also gerade mit seinem Hinweis auf das Sprechen Gottes in seinem Wort neu begegnen.

Denn wo gehört werden soll, da muß zuvor gesprochen werden, und zwar gesprochen von einem, der mit dem Hörenden nicht identisch ist. Wo ist der Ort, wo der Mensch nicht sich selbst hört, nicht das, was er sich selbst sagen kann? Die unfaßbare, vielen unter uns wohl restlos fremd, aber hoffentlich nicht mittelalterlich und also vergangen anmutende Massivität und Drastik, in der Luther von Gott spricht, kommt nicht aus Naivität oder gar Primitivität, sondern aus der Durchschlags­kraft, mit der die Botschaft von der Geschichte Jesu Christi ihn als Sprechen Gottes erreicht hat. Kreuz und Auferstehung Jesu Christi hört er als zu uns gesprochenes Wort, als Aufdeckung unserer Verlorenheit und als Erklärung unserer Annahme in einem. Seine unvorstellbare Arbeitskraft, seine unermüdliche Tätigkeit als Schriftsteller, Prediger, Seelsorger, seine unerbitt­liche Polemik gegen alle Verdunklung oder Beschränkung dieser Botschaft, sein unbeugsamer Mut, seine unerschöpfliche Fülle immer neuen sprachlichen Ausdrucks und immer neuer Aspekte bei der Auslegung dieser Botschaft haben ihre Quelle in dem gesammelten Hören auf diesen einen Ort, von dem her er sich und alle Welt ein für allemal in einer ewig verbindlichen und gültigen, in einer absoluten und undiskutierbaren Weise an­gesprochen sah: „In meinem Herzen regiert dieser eine Artikel, nämlich der Glaube Christi, aus dem, durch den und in den Tag und Nacht alle meine theologischen Gedanken fließen und wiederfließen, und doch erfahre ich, wie ich die Höhe, Weite, Tiefe dieser Weisheit höchstens in schwachen und wenigen Anfängen und Bruchstücken erfassen kann.“ Die positive und negative Voraussetzung von Luthers Glauben ist also: Es ist ein Ort da, an dem real, unverwechselbar, tatsächlich Gott, Gott selbst auf den Plan tritt und sich hören läßt, und außerhalb dieses Ortes hört der Mensch nur sich selbst — oder jedenfalls nur einen Gott, der ihm nicht väterlich ist, der ihn nach seinen immer ungenügenden Leistungen mißt und verwirft, den er darum nicht ertragen kann und den er sich verstellt mit Gottes­bildern, die ihm einen erträglichen Gott vorzaubern. Verstel­lung der unerträglichen Wahrheit, Erdichtung eines dem Men­schen wohlgefälligen Gottes. Was aber wird aus uns, wenn Gott nach dem ihm wohlgefälligen Menschen fragt? Diese Theologie ist dem Atheismus und dem Tode benachbart und allem reli­giösen Illusionismus entgegengesetzt. Ihr Mittelpunkt ist der Kreuzesgalgen, an dem der einzige Gott wohlgefällige Mensch stirbt, und das unbegreifliche Gnadenwort, das gerade von diesem Tode her dem ungefälligen Mordgeschlecht das Kindes­recht zuspricht und das Leben eröffnet. Luther hat das gerne im Bilde des adeligen Junkers verdeutlicht, der aus unerfindlicher Liebe in Lumpenkleidern zur Dirne in die Gosse herabsteigt, um sie wirbt, für sie sich hinrichten läßt und ihr dadurch das versteinerte Herz zu neuem Leben aufschließt. Hier wird dem Menschen nichts mehr geglaubt, aber alles für ihn gehofft. Diese radikale Sicht der menschlichen Existenz — radikal in ihrer Illusionslosigkeit wie in ihrer Hoffnung — läßt alle Liebhaberei des Nichts, allen Pessimismus und Nihilismus ebenso wie allen idealistischen Optimismus als modisch, gemütlich, spielerisch und lyrisch erscheinen. Es könnte sein, daß Denker und Dichter der Gegenwart an Luther vorübergehen, weil sie die Entlarvung in dieser Konfrontation ahnen. Verschlossenheit für Luther aber könnte dann das Zeichen für Flucht vor der menschlichen Wirklichkeit und vor ihrer wahren Hoffnung sein.

Luther hat hier nichts selber erfunden; es handelt sich nicht um sein System, um seine Theorie. Er hat nur ausgelegt, was ihm übergeben worden war; er wollte nichts sein als das, wozu er den Auftrag hatte: Doktor der Heiligen Schrift — und diese Heilige Schrift wiederum war ihm alles andere als ein papierener Papst, ein Buchstabengott, sondern das authentische Zeugnis von jener Anrede Gottes an die Menschen, das weiterzugeben die Aufgabe der Kirche auf Erden ist, damit Menschen ihre Wirklichkeit und ihre Hoffnung erkennen. Luther war weder Ideologe noch Programmatiker; er hatte keine Kirchenreform und erst recht nicht die Gründung einer neuen Kirche beab­sichtigt. Es ist ergreifend zu sehen, wie er von seiner zentralen Erkenntnis aus absichtslos zu den einzelnen Konsequenzen kam, die sich dann so umwälzend auf das Kirchenwesen auswirkten — er konnte sagen: wie ein geblendeter Gaul sei er Schritt für Schritt geführt worden.

Einige Konsequenzen: Jetzt kommt die Bibel in Bewegung. Sie wird aus einem widerspruchsvollen alten Buch mit dunklen Lehren zu einem Chor lebendiger Zeugen, die alle auf die gleiche Mitte weisen. Ihre Worte sind Träger und Gefäß des einen Wortes; darum muß man auf sie mit höchster Sorgfalt hören, und alle Worte der Kirche haben ihnen zu entsprechen. Es ist bekannt, wie aus diesem Achten auf die biblischen Worte, aus der Bemühung um ihre zutreffende Übersetzung unsere neuhochdeutsche Sprache hervorging — und man denke nicht, daß dieser biblische Ursprung dabei zufällig sei. Das Wort, das Faust „so hoch unmöglich schätzen“ konnte, mußte als ein so hoch zu schätzendes auftreten, damit sich an ihm alle Möglich­keiten des Lutherischen Sprachgenies entzündeten. Weil die deutsche Sprache in den höchsten Dienst trat, erwuchsen ihr plötzlich so ungeahnte Fähigkeiten. — Die Kirche wird aus einer Institution, die herrscherlich die Heilsgüter verwaltet, zur „Herde, die auf ihres Hirten Stimme hört“, zur Schar von Menschen, die den Ruf gehört haben und weitertragen. Alle Beziehungen zwischen Gott und Mensch werden aus sachhaften zu personalen. Keiner hat mehr etwas vor dem anderen voraus, weil alle aufs Hören angewiesen sind und sich brüderlich mit dem Wort dienen können und sollen; der Unterschied zwischen Klerus und Laien, die ganze hierarchische Stufenordnung fällt dahin. Unmittelbar spricht das Wort zu jedem und macht ihn frei zu eigenem Hören; die Kirche kann nur noch dienen, helfen, nicht mehr bevormunden. An die Stelle heiligen Kirchenrechts tritt die Freiheit der Gemeinde, ihre Verhältnisse je so zu ordnen, wie es ihrem Auftrag am besten entspricht. Dieser Auf­trag ist alles. Er sendet die Gemeinde und die einzelnen in die Welt; diese ist das Feld des Dienstes, nicht mehr überlagert von einer höheren, sakralen Ebene, in der sich heiliger leben läßt. Es geht gar nicht mehr ums Heiligsein, sondern ums Gehorchen, um Liebe üben und Gottes Mitarbeiter sein im Felde der Welt, im irdischen Beruf (dies Wort bekommt nun seinen heutigen Klang), in Familie, Staat, Arbeit, in der Nüchternheit des Alltags. Hören und Lieben — das sind Akte der Freiheit. Sie lassen sich nicht erzwingen, darum darf die Kirche sich nie mehr des Schwertes bedienen; ihr Schwert ist das Wort. Darum darf sie auch nicht die Welt beherrschen, „verchristlichen“ wollen, nicht vorschreiben, wie der Dienst des einzelnen auszusehen hat; sie kann nur an Gottes Gebote erinnern, raten, mahnen; das Gebot hören und entscheiden, wie seine Befolgung jetzt auszusehen hat, ist Sache der Verantwortung des einzelnen, nicht in der Isolierung, sehr wohl im brüderlichen Rat, aber in unabnehmbarer Verantwortung. Das ist ein männliches, freies Klima. Wo der Mensch sich nicht schämt, Kind zu sein, das aus der Gnade des Vaters lebt, da entstehen freie, aufrechte Männer, die den Mut haben, Einzelne zu sein, und Verantwortung und Entscheidung nicht scheuen.

Die Luft des Evangeliums ist eine Luft der Freiheit, und Luthers größtes Entsetzen galt der Erkenntnis, daß statt dessen in der Kirche die Stickluft des Gesetzes, des Zwangs und der Angst eingezogen war. Wo sie wiederkehrt — und sie kann über­all wiederkehren, weil der Mensch oft genug die Freiheit fürchtet und den Zwang liebt! —, da steht Luther auf der Seite des Protestes. Wer die Zeichen der Zeit im Osten und im Westen zu lesen versteht, sieht, wie einsam und wie aktuell dieser luthe­rische Protest auch heute allenthalben ist.

Luther hat seine Konsequenzen nur beschränkt realisieren können, in seinen Nachfolgern lebten mehr seine Formeln als sein Geist weiter: er selbst ist weder von Einseitigkeiten noch von Fehlern frei geblieben, wie er denn weder ein Heiliger war noch zu sein vorgab. Die Einladung, ihn aufs neue zu hören, geschieht nicht in der Meinung, ihn der Kritik zu entziehen, wohl aber in der Meinung, daß er zu denen gehört, denen in einer ernsten und eindringenden Weise begegnet zu sein sich unter allen Umständen lohnt und mit denen man nicht fertig wird, weil sie selbst mit einer Sache beschäftigt sind, die un­erschöpflich ist und immer wieder vor uns steht — weit ent­fernt davon, daß wir sie je hinter uns hätten.

Sein Auftreten hat für Kirche und Volk verhängnisvolle Folgen gehabt, die er ahnte und in Kauf nahm, weil er keinen Weg sah, sie zu verhindern, ohne ungehorsam zu werden. Wie er aber keine neue Kirche gründen wollte, so gehört er auch keiner einzelnen Kirche. Er wußte sich als Diener eines Wor­tes, das alle angeht, die Frommen wie die Unfrommen, die Christen wie die Nichtchristen. Sein Dienst hat den Teil der Christenheit, der ihn von sich stieß, segensreich berührt und hat sich in dem Teil der Christenheit, der sich zu ihm stellte, noch nicht erschöpft. Wir sollten ihn, da er am Anfang der Zerspaltung der abendländischen Christenheit steht, hören, als seien wir weder durch konfessionelle noch durch histo­rische Mauern von ihm getrennt. Denn seine Bedeutung für unsere Zeit besteht darin, daß er ein Ausleger der christ­lichen Botschaft von solcher Ursprünglichkeit und Kraft ist, wie er in den zweitausend Jahren dieser Botschaft selten er­standen ist. Wer aber könnte leugnen, daß wir diese Botschaft noch nicht hinter uns haben. Wir werden sie nie hinter uns, wir werden sie immer wieder erst noch vor uns haben.

Quelle: Luther, ausgewählt von Karl Gerhard Steck, eingeleitet von Helmut Gollwitzer, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1955, S. 7-15.

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