Karl Barth, Wiederherstellung (zum Reformationsgedächtnis am 31. Oktober 1945): „Das Lob der Kirche und der Christen wird auch in der heutigen Zeit ein kümmerliches Lob bleiben, dem allzuviel berechtigter Tadel und Spott die Waage halten muss. Wir dür­fen und müssen aber das kleine Licht der Kirche darum so hoch halten, weil es unter so vielen anderen, scheinbar größeren und eindrucksvolleren, das einzige ist, das von einer Wiederherstel­lung redet, die, indem sie gesucht wird, auch schon gefunden, indem sie erwartet, schon lange geschehen ist.“

Wiederherstellung

Von Karl Barth

Herr der Heerscharen, stelle uns wieder her! Laß dein Angesicht leuchten, so wird uns geholfen!“ (Psalm 80, 20.)

Stelle uns wieder her! Wird diese Bitte recht gebetet, dann wird sie bestimmt nicht umsonst gebetet. Sie geht dann in Er­füllung, indem sie gebetet wird. Daß sie recht gebetet wird, hangt an drei Dingen: Erstens daran, daß sie sich an den Herrn der Heerscharen wendet: an den Herrn aller Herren also, an den König aller Könige, an den Gott über allen Göt­tern. Zweitens daran, daß sie sich auf die Ordnung bezieht, die, nachdem sie zerstört ist, dieser Gott allein wieder herstellen kann. Drittens daran, daß unsere Bitte allein darin besteht, Gott möchte uns sein Angesicht leuchten, er möchte sich von uns als der, der er ist, erkennen lassen. Indem wir ihn als den, der er ist, erkennen, werden wir wieder hergestellt. Und indem wir ihn darum bitten, daß er uns so wieder herstelle, sind wir schon wieder hergestellt.

Das wollen wir uns gesagt sein lassen, indem wir im Jahr 1945 das Gedächtnis der Reformation begeben. Reformation heißt ja eben: Wiederherstellung. Was im 16. Jahrhundert unter diesem gebräuchlich gewordenen Namen geschah, war ein Durchbruch der rechten Bitte: Stelle uns wieder her! Ein Durchbruch zum Herrn der Heerscharen, geschehen aus einer Not, die er allein wenden konnte und darauf gerichtet, daß sein verborgenes Angesicht den Menschen wieder leuchten möchte. Indem es damals zu diesem Durchbruch kam, kam es in der Kirche zu einer Wiederherstellung. Indem unsere evan­gelische Kirche jenes Ereignisses gedenkt, indem sie sich von jenem Ereignis her „reformierte“ Kirche nennt, bekennt sie sich dazu, daß sie da ist, besteht und dauert auf Grund einer Wiederherstellung durch den Herrn der Heerscharen, durch ihn ganz allein und durch ihn schlicht dadurch, daß er sich den Menschen als der, der er immer war und sein wird, aufs neue zu erkennen gab. Sie kann nicht reformierte Kirche sein, ohne sich wieder und wieder dazu zu bekennen. Und sie kann sich nicht dazu bekennen, ohne in der gleichen Richtung, wie es damals geschehen ist, in Bewegung zu sein, und also nicht, ohne auch heute zu beten: Stelle uns wieder her! Ich brauche nicht zu sagen: uns fehlt viel daran, daß wir recht in diesem Gebet begriffen wären. Und eben darum fehlt uns denn auch so viel an der Erfüllung dieser Bitte, an der Wirklichkeit einer durch den Herrn der Heerscharen, durch das Leuchten seines Angesichts wieder hergestellten Kirche. Aber was uns auch fehle: wir dürfen die Kirche sein, die diese Verheißung hat.

Kein Zweifel: Eine Kirche, die, ob recht oder schlecht, in Kraft oder Schwachheit, von dieser Verheißung lebt, ist ein Licht von ganz unvergleichlicher Art auch in der heutigen Welt.

Mir ist unvergeßlich, wie dieser 80. Psalm einmal am Anfang des Kirchenkampfes in Deutschland in einem kleinen Kreis bedrängter reformierter Christen gebetet wurde. Sicher lange nicht so, wie es „recht“ gewesen wäre. Aber wenn man alles bedenkt, was dann geschah und seither geschehen ist, sicher nicht umsonst, nicht ohne daß allen Gewalten zum Trotz etwas von Wiederherstellung sichtbar geworden wäre, wohlverstan­den: von Erhaltung und Bewahrung nicht nur, sondern unter schwierigsten Umständen von Wiederherstellung, von Erneue­rung, von Reformation des ganzen kirchlichen Lebens, der ganzen christlichen Bezeugung und Haltung, etwas von Wie­derherstellung durch ein neues Leuchten des Angesichtes Got­tes. Was niemand hätte voraussehen und erwarten können, ist nun doch geschehen. Den schwer bedrohten evangelischen Kirchen in Holland, Frankreich, in Norwegen und Dänemark, vor allem auch in Deutschland selber wurde geholfen. Der 80. Psalm stand nicht vergeblich in allen Bibeln.

Und so kommt es, daß heute in einer Welt, die wahrhaftig Anlaß hat, nach „Wiederherstellung“ zu schreien, viele Augen nicht ohne Spannung gerade auf die Kirche gerichtet sind. Auch Augen von kühl rechnenden Politikern. Auch Augen von Toren, die in ihrem Herzen sprechen: es ist kein Gott. Das Geheimnis der rechten Bitte: Stelle uns wieder her! und ihre nicht ausbleibende Erfüllung redet eben für sich selbst auch da, wo es durch die Schwachheit und sogar durch die Verkehrt­heit der Christen noch so verhüllt ist, auch da, wo seine eigent­liche Natur von denen, die es von außen sehen, nicht verstan­den oder mißverstanden wird. Wie das Volk Israel, das den 80. Psalm zuerst gebetet hat, eine seltsame Wirklichkeit war unter den Völkern, so die Kirche Jesu Christi heute: weil sie der Ort ist, wo Wiederherstellung keine bloße Hoffnung ist, sondern als Hoffnung auch schon Gegenwart, im Gebet selbst auch schon Erfüllung. „Stelle uns wieder her!“ Wir Christen können das scheinbar auch nur mitschreien im großen Chor der heutigen Heiden und Juden aller Art. Die gleichen Ruinen­felder, die gleichen Massengräber, die gleichen scheinbar aus­weglosen Schwierigkeiten aller Selbsthilfe und aller Bruder­hilfe, die gleiche dumpfe Verwirrung der Geister erschrecken und hemmen uns, wie alle andern. Nur daß wir, statt bloß zu schreien, bitten, unter jenen drei klaren Bedingungen bitten dürfen: zum Herrn der Heerscharen gewendet, auf die Ord­nung zielend, die er allein aufrichten kann und darauf gerich­tet, daß es in neuer Erkenntnis seines Angesichts zur Wieder­herstellung komme. So daß wir bei dem, was heute die ganze Welt bewegt, nun doch in der Mitte, im Innersten stehen, das Wichtigste und Nötigste einsehen und tun dürfen. Es ist auch heute nicht an dem, daß die Christen die Besten, die Klügsten, die Tüchtigsten wären. Es ist darum auch nicht an dem, daß die Christen heute unter den Führenden und Negierenden sein müßten. An dem aber ist es allerdings, daß da, wo die Christen sind, in ihrem Gebet und besten Erhörung verborgen und nun doch auch sichtbar darüber entschieden wird, ob es eine Wiederherstellung geben soll, wie tief sie greifen, wie weit sie sich auswirken darf.

Wir vertrauen nicht auf die Kirche, nicht auf die Christen, wenn wir das sagen. So gewiß ja auch Israel, als es den 80. Psalm betete, gerade nicht auf sich selbst vertrauen konnte und durfte. Das Lob der Kirche und der Christen wird auch in der heutigen Zeit ein kümmerliches Lob bleiben, dem allzuviel berechtigter Tadel und Spott die Waage halten muß. Wir dür­fen und müssen aber das kleine Licht der Kirche darum so hoch halten, weil es unter so vielen anderen, scheinbar größeren und eindrucksvolleren, das einzige ist, das von einer Wiederherstel­lung redet, die, indem sie gesucht wird, auch schon gefunden, indem sie erwartet, schon lange geschehen ist. Daß wir einen Heiland haben — haben und nicht erst zu erfinden haben —, das ist es, was unter allen Heiden und Juden nur die Christen wissen und zu sagen haben. Mögen ihrer noch so wenige sein und mögen diese wenigen ihre Sache noch so schlecht machen: sie hüten inmitten der ganzen seufzenden Kreatur diese Wahr­heit der Erlösung, die auf alle wartet. Sie sind eben damit unübersehbar und unentbehrlich. Sie halten eben damit zu­sammen, was sonst nach allen Seiten auseinanderfallen müßte.

„Stelle uns wieder her!“ Die Kirche lebt davon, daß sie sich selbst der Reformation, der Wiederherstellung nicht entzieht, und daß sie in der Bitte um diese Wiederherstellung nicht müde wird: nicht so müde, daß diese Bitte zum Verstummen käme. Und die Welt, die große nicht-reformierte Welt lebt davon, daß in ihrer Mitte eben dies wirklich ist: lebendige, nämlich in ihrer Bitte um die Wiederherstellung lebende und insofern reformierte Kirche.

Zum Reformationsgedächtnis am 31. Oktober 1945.

Quelle: Leben und Glauben. Evangelisches Wochenblatt, 20. Jahrgang, Heft 44, 3. November 1945, S. 1.

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