Christoph Blumhardt
Geb. 1. 6. 1842 in Möttlingen bei Calw; gest. 2. 8. 1919 in Jebenhausen bei Göppingen
Von Klaus Bajohr-Mau
»Heute hat mich Gott aus dem ›vertraulichen‹ Kreise herausgeführt und ohne mein Suchen in die Öffentlichkeit gebracht. Ich mußte der arbeitenden, heute nach Millionen zählenden Klasse die Hand reichen, und unter diesen Millionen ›der‹ Partei, welche diese Massen heben, bilden und zur Geltung bringen will. Ich reichte die Hand als der, der ich bin, als Nachfolger Christi, und bin als solcher mit so ganzer Liebe aufgenommen worden, daß ich sofort erkennen mußte: hier wird Gott nicht geleugnet, jedenfalls nicht mehr als in allen anderen Ständen und Klassen, welche sich in der heutigen Gesellschaft finden.« Mit diesen Worten wandte sich der evangelische Pfarrer Blumhardt im Herbst 1899 an seine Freunde, um ihnen seinen Schritt zur Sozialdemokratie zu erklären. Was das damals bedeutete, wird durch einen Ausspruch August Bebels illustriert: »Christentum und Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser.« Der Graben zwischen Christentum und Sozialismus schien um die Jahrhundertwende in beide Richtungen unüberwindlich zu sein. Grenzüberschreitungen weckten in den eigenen Reihen Argwohn. So erging es auch Blumhardt. Seine Entscheidung hatte weitreichende kirchliche Konsequenzen. Auf Drängen des königlichen Konsistoriums verlor er den Rang und Titel eines Pfarrers. Dies bedeutete für Blumhardt jedoch keine Behinderung seiner Wirksamkeit, im Gegenteil, er faßte es auf als einen von Gott ermöglichten Schritt hinaus in die Welt.
Bis ins 15. Lebensjahr wurde Blumhardt zusammen mit seinem Bruder Theophil vom Vater, dem schwäbischen Pfarrer Johann Christoph Blumhardt (d. Ä.) unterrichtet, zunächst in Möttlingen, dann in Bad Boll. Dann besuchte er in Stuttgart das Gymnasium und bereitete sich in Urach auf das Theologiestudium vor. Es folgten das Studium in Tübingen und die Vikariatszeit in verschiedenen badischen und württembergischen Gemeinden. 1869 kehrte Blumhardt nach Bad Boll zurück, um als erster Gehilfe und Sekretär seinen Vater bei der Arbeit zu unterstützen. Als im Februar 1880 sein Vater starb, übernahm Blumhardt von ihm die Leitung des Kurhauses von Bad Boll, und führte die Evangelisationen und Vortragsreisen weiter bis in die Schweiz. Dabei begegnete er häufig Menschen, denen es nur um ihr persönliches Heil ging. Ihr Egoismus stieß ihn ab.
Kritisch schaute der Hausvater von Bad Boll dabei auch auf die Kirche, die nur zwischen fromm und gottlos unterschied. Radikal streifte Blumhardt von seiner Person und seinem Haus alles Kirchliche ab: Er verzichtete in seinen Gottesdiensten auf den Talar und liturgische Formen.
Daß Gottes Liebe ausnahmslos allen Menschen gelte und zur Tätigkeit in der Welt jenseits der Kirchenmauern rufe, kristallisierte sich ab Herbst 1896 als zentrale Botschaft Blumhardts heraus. In einer Predigt sagte er: »Der Heiland ist bei den großen Massen, bei den Proletariern, die keinen Mund haben. Es ist der Geist Gottes, der sich in die Menschenwelt hereinbegibt (…) dort seufzt gleichsam der Geist Gottes und empfindet, daß diese Menschenwelt von Gott verlassen ist. Jesus ist in den Höllen, die sich die Menschen machen. Wenn nun der Heiland über die Frommen weg zu den Armen und Elenden geht, so muß auch unsere Frömmigkeit einen Zug zu den Niedrigen bekommen (…). Das Seufzen der Armen muß einen Mund bekommen, – wir müssen den um ihre Menschenrechte schreienden Armen recht geben«. Während einer Kur im Juni 1898 begann Blumhardt sich mit Marx und Engels und anderen »Klassikern« der sozialistischen Literatur zu beschäftigen. Erstmals beteiligte sich der Pfarrer im Sommer 1899 an einer großen Protestversammlung, die nach dem Erscheinen der »Zuchthausvorlage«, eines Gesetzentwurfes, welcher die Organisation von Streiks kriminalisierte, nach Göppingen einberufen war. Zum großen Erstaunen aller Anwesenden ergriff Blumhardt das Wort und wies die Vorlage als ein »Verbrechen gegen die Gerechtigkeit« zurück. Schließlich erklärte er im Oktober 1899 auf einer sozialdemokratischen Versammlung, daß er gemeinsam mit der Arbeiterschaft auf eine sozialistische Gesellschaft hinarbeiten wolle. Blumhardt wurde Mitglied der SPD. In den Jahren 1900 bis 1906 arbeitete Blumhardt als Abgeordneter des Wahlkreises Göppingen im württembergischen Landtag und erhielt in Bad Boll Besuch von Arbeitern, Gewerkschaftern und sozialdemokratischen Politikern. Bebel soll gesagt haben, in Bad Boll falle es ihm leicht, an Jesus zu glauben.
Doch das war nur die eine Seite der Medaille. Dem ehemaligen Pfarrer und kritischen Genossen begegnete man in der Arbeiterbewegung auch mit Skepsis und Zurückhaltung. Bald schon zeigte sich bei Blumhardt eine gewisse Resignation. So bemerkte er in einem Gespräch im Herbst 1904: »Die deutsche Sozialdemokratie bietet augenblicklich kein erfreuliches Bild. Es fehlt die Liebe zum Feind (…) Einer soll immer wie die Partei denken und sprechen. Man ist ganz so wie in der Kirche. Ich erwarte so, wie es jetzt ist, nichts«. Dem Wunsch, sich nach Ablauf der Legislaturperiode der Wiederwahl zu stellen, entzog er sich durch eine Palästinareise. Trotz seines Rückzuges aus der Politik bereute Blumhardt jedoch nicht die Parteimitgliedschaft. 1908 riet er sogar seinem jüngeren Freund, dem Schweizer Pfarrer und Begründer einer Webergewerkschaft Howard Eugster-Züst, ein sozialdemokratisches Nationalratsmandat zu übernehmen.
Nach den von Öffentlichkeit und Tagespolitik bestimmten Jahren folgte eine letzte, zurückgezogenere Phase. In ihr trat die schon lange vorhandene Erkenntnis Blumhardts in den Vordergrund, daß nicht die Menschen mit ihren persönlichen oder politischen Vorstellungen das Subjekt einer ›endgültigen‹ gesellschaftlichen Veränderung seien. Vielmehr gelte, es auf das zu warten, was von Gott ausgeht. Denn er allein sei es, der den Sieg seines gerechten Reiches für diese Welt bringen werde.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, betrachtete ihn Blumhardt im Unterschied zu vielen deutschen Theologen nicht mit Euphorie, sondern mit größter Skepsis und interpretierte ihn als Gottes Gericht über eine verwirrte und eigenmächtige Völkerwelt. Blumhardt ermahnte seine Hörerschaft, nicht dem Haß zu verfallen. Er forderte sie auf, sich bewußt zu machen, daß Gott der Gott aller Menschen sei, und erinnerte: »Wir sind nicht bloß Deutsche, wir sind auch Weltbürger; wir sind berufen zu Königen und Priestern in der Welt. Wir sollen beten können auch für unsere Feinde, wir sollen lieben können die ganze Menschheit, weil sie für Gott bestimmt ist in Jesus Christus«.
Bereits 1911 hatte Blumhardt die Leitung des Kurhauses an Pfarrer Eugen Jäckh übergeben und sich dann zunehmend aus dem Bad Boller Leben zurückgezogen. Von einem Schlaganfall im Herbst 1917 konnte sich Blumhardt nicht mehr richtig erholen und starb am 2. August 1919.
Das Leben und Werk dieses außergewöhnlichen Christuszeugen und prophetischen Geistes übte eine besondere Anziehungskraft auf viele Schweizer und deutsche Theologen aus. Schon zu Lebzeiten Blumhardts war Bad Boll Ziel von Karl Barth, Emil Brunner, Hermann Kutter, Leonhard Ragaz und Eduard Thurneysen.
Meier, K.-J.: Christoph Blumhardt. Christ – Sozialist – Theologe. Bern, Frankfurt, Las Vegas 1979. – Ragaz, L.: Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt, Vater und Sohn – und weiter! Erlenbach, Zürich, München, Leipzig (2. Aufl.) 1925. – Thurneysen, E.: Christoph Blumhardt. München 1926.