Zur religiösen Begründung der Frauenbewegung innerhalb des Protestantismus
Von Verena Pfenninger-Stadler
Die Katholikin, die in Nr. 12 des Frauenblattes im Anschluss an die Enzyklika Casti Connubii Pius‘ XI. von der katholischen Frauenbewegung schreibt, wünscht, dass ihre Worte dem besseren Verständnis der katholischen Frauenbewegung dienen sollen. Die folgenden Ausführungen sollen eine religiöse Begründung der Frauenbewegung vom Protestantismus aus geben – sie sollen nicht nur zum besseren Verständnis der protestantischen Frauenbewegung für Katholiken beitragen, sondern auch zur Klärung der Gedanken unter den Protestanten selbst.
Im Protestantismus gibt es freilich keine „Normativtheologie“, die für alle richtungweisend wäre wie im Katholizismus; so lässt sich die Stellung zur Frauenbewegung auf verschiedene Weise religiös begründen. Doch dafür gibt es die lebendige geistige Auseinandersetzung der Gläubigen untereinander, und dieser Auseinandersetzung sollen auch diese Ausführungen dienen.
I.
Der Protestant gründet seinen Glauben auf die Bibel – oder, deutlicher gesagt, auf das Wort Gottes, wie es uns in der Bibel bezeugt ist. Es gibt im Protestantismus keine alleinberechtigte Bibelauslegung, wie nach katholischem Glauben der Papst das alleinige Recht hat, die Schrift verbindlich auszulegen. Denn die rechte Auslegung der Bibel geschieht nach evangelischem Glauben allein im Heiligen Geist, und „der Geist weht, wo er will“.
Das bedeutet keine schrankenlose Freiheit des individuellen Gewissens – auch für den Protestanten gibt es diese nicht. Er ist an die Bibel gebunden, das heißt, er lässt sein Gewissen durch Christus, von dem ihm das Neue Testament Kunde gibt, leiten und korrigieren. Wir können uns nicht von der Kirche ein für alle Mal vorschreiben lassen, was wir zu tun haben, denn die Kirche kann irren, ja, sie kann sogar Christus verraten; ist doch die äußere Kirche nach evangelischem Glauben nichts anderes als die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden.
Doch auch die Bibel gibt uns keine eindeutige Auskunft darüber, was wir tun sollen. Innerhalb der Bibel gibt es Widersprüche. Wenn wir dem Buchstaben folgen wollten, müssten wir diese Widersprüche gewaltsam übersehen oder durch willkürliche Auslegungen beseitigen. Aber wir sollen die Bibel nicht nach dem Buchstaben, sondern aus dem Geist heraus auslegen, denn „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2 Kor 3,6).
Wenn ein Mensch vom Evangelium ergriffen ist, wenn Christus ihn innerlich überwältigt hat, dann empfängt er auch den Geist Jesu Christi. Aus diesem Geist heraus kann er urteilen, was in der Bibel dem Geist Jesu entspricht – was Gotteswort ist und was nur menschliche Hülle.
Fragen wir uns, welche biblischen Worte über die Frau dem Geist Christi am meisten entsprechen, so ist es wohl Galater 3,28: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.“ In solchen Worten wird das Zentrum des christlichen Glaubens berührt: dass wir vor Gott alle gleich sind als Sünder, die seiner Vergebung bedürfen und denen sie in Christus geschenkt ist. Von hier aus müssen alle anderen biblischen Aussagen über die Frau – etwa ihre Unterordnung unter den Mann oder ihr Schweigen in der Gemeinde – beurteilt werden. Sie alle verlieren vor diesem entscheidenden Wort an Gewicht.
Paulus selbst relativiert manche seiner praktischen Ratschläge, etwa wenn er den Korinthern sagt: „Das sage ich, nicht der Herr“ (1 Kor 7,12). Solche Worte sind zeitgebundene Anwendungen des Wortes Gottes. Auch wir müssen für unsere Zeit und Verhältnisse Folgerungen aus dem Glauben ziehen – und diese können anders ausfallen als die des Paulus.
Unsere Zeit ist die Zeit des Erwachens der Frau zur inneren und äußeren Selbständigkeit, ihre Einordnung ins moderne Berufsleben. Vom Geist Christi aus, der Mann und Frau vor Gott gleichgestellt hat, ist gegen diese Entwicklung nichts einzuwenden – im Gegenteil: Sie ist zu begrüßen, wie einst die Aufhebung der Sklaverei, denn vor Gott gibt es keine Unterschiede.
Die Frage an alle Bestrebungen der Frauenbewegung muss lauten: Stehen sie im Widerspruch zum Geist Christi, der der Geist der Liebe ist, oder dienen sie dazu, unter den Menschen Liebe zu üben? Die Gleichberechtigung darf nicht Selbstzweck sein; sie muss einem höheren Ganzen untergeordnet sein. Über dem „Ihr seid alle einer“ dürfen wir das „in Christus“ nicht vergessen.
II.
Ein häufiger kirchlicher Einwand gegen die Frauenbewegung lautet, der Kampf um „Rechte“ stehe im Widerspruch zum Geist Jesu Christi, der ein Geist der Liebe und des Dienens sei. Man will mit „Frauenrechtlerinnen“ nichts zu tun haben und wartet bescheiden darauf, was einem von selbst gegeben wird. Praktisch heißt das: Man lässt andere die Kastanien aus dem Feuer holen – und teilt dann gerne die Früchte des errungenen Siegs.
Doch die Frage wird vergessen: Wem sollen wir dienen, und von wem haben wir Rechte zu fordern? Gott zu dienen und den Menschen zu dienen ist zweierlei. Um Gott zu dienen, müssen wir manchmal von Menschen Rechte fordern – wie G. Gebhard im erwähnten Aufsatz schreibt: Rechte zu fordern kann Gehorsam sein.
Jesus verstand seine Botschaft von der Liebe nicht als Unterwerfung unter die Mächtigen. Er trat den Pharisäern und Schriftgelehrten scharf entgegen: „Sie binden schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, selbst aber wollen sie keinen Finger rühren“ (Mt 23,4). Auch damals wurde Unterwerfung im Namen Gottes gefordert.
Prüfen wir also, wem wir dienen sollen und wessen Rechte wir fordern. Oft verdammen gerade die den Kampf um Rechte, die ihre eigenen Vorrechte nicht aufgeben wollen. Dann aber müssen wir fragen: Ist es nicht gerade aus dem Geist der Liebe heraus geboten, für die Unterdrückten und Entrechteten zu kämpfen?
Worum geht es in der Frauenbewegung? Um das Erwachen der Frau zu größerer Selbständigkeit und Verantwortung. Wir kämpfen nicht nur um Rechte, sondern darum, unsere Gaben zum Wohl aller einzusetzen. So dürfen wir Rechte fordern, um rechten Dienst tun zu können.
Die Entscheidung für oder gegen die Frauenbewegung hängt nicht davon ab, ob sie Rechte fordert, sondern wofür und in welchem Geist sie sie einsetzt. Es geht darum, ob wir aus Verantwortung und Dienstbereitschaft kämpfen – oder aus Selbstsucht. Die Frauenbewegung fragt die christlichen Frauen: Wollt ihr euch im Geist der Liebe an die Seite eurer Schwestern stellen?
Quelle: Schweizer Frauenblatt, Jahrgang 13, Nr. 15 vom 10. April 1931 (ohne Paginierung).