Von Ernst Wolf
Nachfolge knüpft als Leitwort von erheblich ethisch und sozialethischer Bedeutung in den versch. Zeiten der Kirche an die Aufforderung Jesu an, ihm nachzufolgen (Mt. 4, 19 ff.; 9, 9), was zunächst den Anschluß an seinen Jüngerkreis bedeutet.
1. Der Gedanke der Nachfolge schließt sodann die Bereitschaft ein, mit Jesus Schmerz, Leiden und Verfolgung auf sich zu nehmen (Mt. 10, 25; Joh. 15, 18 ff.). Damit verbindet sich, wenn auch nicht vorherrschend, der Gedanke der Vorbildlichkeit Jesu in seinem Leben und Sterben (1. Joh. 3, 16ff.), seiner dienenden Selbsterniedrigung (Lk. 22, 24ff.; Joh. 13, 15; Phil. 2, 5ff.). Es ist begreiflich, daß das Verlangen nach einem religiös-sittlichen Ideal und nach konkreten Einzelweisungen sehr früh die Vorbildlichkeit Jesu zu einem in Einzelheiten ausgeführten Lebensgesetz der Christen wandelte, indem man aus Jesu Verhalten bestimmte Regeln abzulesen suchte. Das gewinnt Gestalt im frühchristlichen Verlangen nach dem Martyrium wie in bestimmten asketischen Forderungen, in der Nachahmung (imitatio) des „armen Lebens“ Jesu in mönchischen und halbmönchischen Kreisen des Mittelalters oder in der für eine mystische, verinnerlichte Frömmigkeit kennzeichnenden Nachahmung des sittlichen Verhaltens Jesu überhaupt (Th. v. Kempen, †1471, De imitatione Christi). So wird ein daraufhin durchgezeichnetes „Leben Jesu“ zum moralischen Gesetz, oder umgekehrt: eine religiöse Gesetzlichkeit und ein sittliches Vollkommenheitsstreben richten sich nach einem als „Leben Jesu“ gestalteten Idealbild. Die katholische Moraltheologie gewinnt von da aus die Möglichkeit zu fruchtbarer Ausgestaltung. Für sie ist die Nachfolge ein positives Prinzip ihres Aufbaus.
2. Die Reformation sieht in der Nachfolge wesentlich ein kritisches Prinzip. Sie hat der spätmittelalterliche Nachfolge-Nachahmungs-Frömmigkeit bewußt die Predigt von Christi Versöhnungstat, von dem reinen Geschenk-Charakter seiner Gnade entgegengestellt, davon also, daß das neue, in der Rechtfertigung dem Menschen zuerkannte Sein der alleinige Grund eines neuen Wandels im schlichten Gehorsam sei. Das Leben Jesu ist kein verbindliches religiöses Ideal der Heiligung.
3. Aber im Pietismus tritt der Gedanke individueller Nachfolge Jesu wieder in den Vordergrund, und im Aufklärungszeitalter wird er entsprechend seiner vernunftbestimmten Tugendlehre und seiner Auffassung von Jesus als dem großen Sittenlehrer und dem Muster gottwohlgefälligen Lebens kräftig moralisiert (Kant): Jesu Gestalt und Wandel ist das einleuchtende und überwältigende Vorbild wahrhaft menschlichen Wohlverhaltens im bürgerlichen Dasein, das Wesentliche der christlichen Religion. Jesu Beispiel gilt für die Grundfragen menschlichen Lebens in Gemeinschaft, im Staat, im Bereich der Kultur, gegenüber der Armut und dem Übel (Tolstoi!). Die richtige Einstellung des Christen zu den Aufgaben und Nöten des sozialen Daseins wird von da aus weithin in die „Gesinnung“ verlagert oder durch die völlig unbiblische Frage bestimmt: Was würde Jesus an meiner Stelle in dieser oder jener Situation tun? Das in viele Sprachen übersetzte Buch von Ch. M. Sheldon „In Jesu Fußtapfen“ (In his Steps — What would Jesus do? 1896) bezeichnet das Äußerste derartiger Moralisierung des Jesusbildes, dessen Ausmalung damit einer schweifenden Phantasie überantwortet wird.
4. Die Reformatoren haben nachdrücklich betont, daß solche Ausmalung eine Verkürzung des biblischen Christus ist, durch die seine Versöhnungstat, die Vergebung der Sünden, der Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes zurücktritt hinter einer menschlichen „Lust zum Außerordentlichen“ (Søe), die sich nicht begnügt mit der bloßen Veranschaulichung des Liebesgebotes durch bestimmte Taten Jesu (Joh. 13, 15). Entscheidend sei die Forderung völligen Gehorsams im selbstlosen Dienen (Mt. 20, 26ff.). Das Verhalten Jesu zu einzelnen Fragen (Eid, Steuer usw.) sei gewiß auch exemplarisch, aber seine Summe dürfe nicht zu einem Idealbild von gesetzartiger Verbindlichkeit gestaltet werden. Neben und vor dem Gehorsam stehe für die Aussagen des Neuen Testaments über die Nachfolge der mit ihr bereits gegebene Gegensatz zur „Welt“, der „Bruch“ mit den natürlichen Gegebenheiten, in denen der Mensch lebt, „die Befreiung des Menschen von allen Menschensatzungen“ (Bonhoeffer), die Pilgerschaft und das Fremdling-Sein des Christen auf Erden. In der Nachfolge ist das „Tragen des Kreuzes“ zugleich das Leben in „Freiheit“ von der Welt und ihr gegenüber. Sie ist die Voraussetzung dafür, als Christ in der Welt den Aufgaben des irdischen Lebens in Gemeinschaft nüchtern, distanziert, aber im bewußten Einsatz selbstverantwortlicher Erwägung des jeweils Richtigen zu begegnen. — In der Sozialethik des Luthertums hat Runestam die Nachfolge als kritisches sozialethisches Prinzip neu zu fassen versucht. Und gegenüber einer den konkreten Gehorsam christlichen Daseins verschleiernden „Verbilligung“ der Gnade hat Bonhoeffer sich um die Klärung des biblisch-reformatorischen Verständnisses der Nachfolge für die Gegenwart bemüht. Der Ruf zur Nachfolge führt, wie Bonhoeffer zutreffend sieht, dazu, mit der gewohnten Unmittelbarkeit des menschlichen Verhältnisses zu den „Daseinswirklichkeiten“ zu brechen und ihnen nicht natürlicherweise, sondern neu in Chr. zu begegnen. Der Ruf zur Nachfolge macht so zunächst zum „einzelnen“ und stellt zugleich in jene Gemeinschaft mit dem anderen, die in Christus ihren Grund hat und durch ihn neu geschenkt, „vermittelt“ wird. „Jeder tritt allein in die Nachfolge, aber keiner bleibt allein in der Nachfolge.“
5. Im Unterschied zum idealistischen Verständnis der Nachfolge, wie es im Katholizismus, in der Aufklärung und im liberalen Protestantismus begegnet, wird sie in biblisch-reformatorischen Sinn als jener Vollzug des Liebesgebotes zu begreifen sein, der durch die selbstlose Sorge für das Menschsein des Menschen bestimmt ist, dafür, daß ihm sein Recht widerfährt. Sie verlangt die Verantwortung und den Dienst jedes Christen als des einzelnen unter Verzicht auf eigenes Recht, eigene Ehre, eigene Würde, eigenes Gut. Eine evangelische Sozialethik wird den Gedanken der Nachfolge als kritisches Prinzip tiefer und lebendiger als bisher aufgreifen und entfalten müssen.
Lit.: A. Runestam, Liebe, Glaube, Nachfolge (1931). — D. Bonhoeffer, Nachfolge (1952). — N. H. Søe, Christliche Ethik (1949). -— E. Wolf, Der Dienst des einzelnen (1953). — Ders., Schöpferische Nachfolge, in: Spannungsfelder der evangelischen Soziallehre, hrsg. von F. Karrenberg u. W. Schweitzer (1960). — H. Thimme-H. Fischer-Barnicol-D. Levison, Wege der Nachfolge (1962). — Kath.: F. Tillmann, Die Idee der Nachfolge Christi (1953)4. — Ders., Die Verwirklichung der Nachfolge Christi (1950)4.
Quelle: Friedrich Karrenberg (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart: Kreuz-Verlag, 41963, Sp. 904-906.