Aus einem Jom Kippur in der Synagoge zu Laupheim
Am 10. Oktober begingen die Juden in der ganzen Welt ihren höchsten Feiertag: Jom Kippur, das Versöhnungsfest. «Aus einem Jom Kippur» entnehmen wir einen noch unveröffentlichten Roman von Siegfried Einstein. —
Lothar Goldstein öffnete das Gebetbuch und las die Worte, die der Vater einmal für ihn aufgeschrieben hatte. Als der fremde Kantor das Kol Nidre sang, schloß der Mann in der letzten Reihe die Augen und fuhr im Nachen der Erinnerung zu den grünen Inseln seiner Kindheit.
Es war in der Synagoge zu Laupheim, zu einer Zeit, da Lothar Goldstein noch kurze dunkelblaue Hosen trug und aus großen Augen die Erwachsenen anstaunte, von denen er glaubte, daß sie alles besser wüßten und das Unglaubliche glaubhaft machen könnten, wenn sie es nur wollten. Zu jener Zeit waren die Goldsteins noch geachtet, obwohl ihre Ahnen auf dem jüdischen Friedhof zur letzten Ruhe gebettet: Sie waren, wie man so schön sagte, gleichberechtigt, obwohl der eine oder andere unter ihnen eine etwas längere Nase durch die Welt trug.
Am höchsten Abend im Jahr geschah es, daß Leopold Wallach, den alle in dem kleinen württembergischen Landstädtchen nur das Poldele nannten, auf dem Harmonium das Kol Nidre anstimmte und dem leicht nach vorne geneigten Kantor Dworzan das Zeichen gab, zu beginnen mit seinem «Weesore, wacharome, wekonome», worauf der Knabe Lothar einen Schmerz im Herzen spürte, von dem er nichts zu sagen wußte, eine Träne, die er, wissend, daß man unter den Augen des Kantors nicht weinte, in der Kehle erstickte.
Damals erkannte er, auf Vaters Platz hinabschauend, zum erstenmal die Sinnlosigkeit der Behauptung, daß ein Mann nicht weinen dürfte, denn er schaute seinen Vater an und sah die Tränen, die ihm wie Regentropfen über die Wangen liefen. Und wie Maximilian Goldstein dann sein schönes weißes Taschentuch, das ihm seine Frau Fanny vorsorglich noch in die Rocktasche gesteckt hatte, hervorzog, war es um den Knaben Lothar geschehen. Er heulte wie ein geprügelter Hund — zwar nicht so laut, dafür aber nicht minder herzzerreißend.
Lothar Goldstein stand in einer fremden Synagoge und hörte, wie der Kantor mit der vollen Baritonstimme seine und des ganzen Volkes Israel Sünden bekannte, und er lächelte, da er an seinen Vater dachte, der auch in späteren Jahren Tränen in den Augen hatte, wenn das Kol Nidre gesungen ward. Ganz in sich zusammengekrochen konnte er dasitzen, der Jude Maximilian Goldstein, der Warenhausbesitzer und Kriegsteilnehmer, ganz traurig und verlassen wie ein einzelner Baum inmitten eines Trümmerfeldes schien der Vater an Dinge zu denken, die der Knabe Lothar auch beim besten Willen nicht verstanden hätte und über deren Ausmaß und Bedeutung Maximilian Goldstein selbst sich nicht im klaren war.
Lothar Goldstein blätterte in dem geheiligten Buch und fand auf einem linierten Blatt ein kleines Gedicht, das der alte Samuel Schiller ihm damals aufgeschrieben hatte. «Unser Schiller», wie die Kinder in Laupheim das untersetzte Männchen mit dem echt jüdischen Humor nannten, war ein Kind des Wiener Judentums, wahrscheinlich ein jüdischer Zuwanderer aus der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Er hatte über die frommen und weniger frommen Gedanken der kleinen Buben und Mädchen während des Gottesdienstes zu wachen, wie es sich eben für einen Stellvertreter Gottes auf Erden geziemt. Lothar Goldstein hatte noch nicht vergessen, wie der schmächtige Samuel mit dem schlohweißen Haar, das noch unterm Zylinder an den Schläfen sichtbar war, beim Neilagebet am Jom ha-Kippurim ins Schofarhorn blies.
«Was ist das für ein Horn?» hatte Lothar sehr ernst gefragt.
«Ein Widderhorn, mein Sohn. Durch das Blasen des Schofars fielen die Mauern vor Jericho. Das war ein großer Tag, mein Junge, ein großer Tag.» Und dann hatte Samuel Schiller eine bedeutungsvolle Pause eingeschaltet und erst abgewartet, was der kleine Lothar nun erwidern würde, und als er sah, daß der Knabe einmal Lust verspürte, ihn zu unterbrechen, fuhr er, seine schmale Brust herausdrückend, fort: «Nicht jeder kann diesem krummen Horn eine Melodie entlocken, und die Grünschnäbel von heule schon gar nicht. Versuch es einmal!» Und dann reichte er dem kleinen Lothar das Schofarhorn und lächelte wie einer, der wußte, daß er lächeln konnte.
Der Knabe blies und blies — doch der tönende Erfolg blieb aus. Von jener Stunde an gesellte sich zu seiner Liebe für den alten Samuel Schiller eine reine Ehrfurcht: denn Samuel Schiller allein war unter Hunderten dazu ausersehen, Schofar zu blasen.
Ratlos stand Lothar neben Kurtchen und Julius im Chorgestühl und sah zu, wie Kantor Dworzan, das Aschamnu betend, sich mit der rechten Faust auf die Brust schlug. «Aschamnu. Bogadnu. Gosalnu. Dibarnu Dovi … Wir haben uns verschuldet, waren treulos, haben geraubt und Böses geredet…» Jedes Wort begleitet von einem Schlag an die Brust. Vater Goldstein schlug sich mit der Hand ans Herz, und Onkel Ludwig, der neben ihm stand, scheute sich nicht, das gleiche zu tun. Zwei feindlich gesinnte Brüder, man wußte es in der ganzen Gemeinde, murmelten zerknirscht: «Zoramu. Kischinu oref. Handelten feindselig, waren hartnäckig…»
Lothar Goldstein dachte daran, wie er als Knabe jedesmal innehielt, wenn das Tiavnu an die Reihe kam, das Rabbiner Treitel mit «verübten Greueltaten» übersetzte. Welcher Greueltaten sollte er sich bezichtigen? Da fielen ihm die Maikäfer ein, die er mit Julius und Kurtchen zusammen von den Bäumen geschüttelt und getötet hatte. Und er fühlte, daß der Rabbiner und der Kantor, der breitschultrige Emil Kahn und das hagere Hermännchen Sternschein, auch für ihn und seine Klassenkameraden beteten: «Lemaan Schimcho Adanoi vesolachto iaavonenu — um deines Namens willen, Ewiger, verzeihe unsere Schuld, sie ist groß…»
Lothar Goldstein wußte, daß nun in den Synagogen der Welt der Kantor das Kol Nidre sang, während er die Hand des Vaters hielt, eines Vaters, der gestorben war, weil die Menschen, denen er Bruder zu sein glaubte, seinem Sterben teilnahmslos zusahen. Nun stand er an Stelle des Vaters in einer Synagoge, die er niemals zuvor betreten, und lobte den Schöpfer hinter fernen Wolken und Sternen, seinen Gott der Barmherzigkeit und Rache, den Allwissenden, in dessen Plan Ahasver einen besonderen Platz einzunehmen hatte.
(Aus einem unveröffentlichten Roman)
Quelle: St. Galler Tagblatt, Nr. 249, Samstag, 24. Oktober 1970, Feuilleton (ohne Paginierung)