Karl Barths ‚Retraktionen‘ von 1932 zu seiner Predigt ‚Der Pfarrer, der es den Leuten recht macht‘ von 1916: „Die Predigt enthält aber, und dar­auf muss ich die Leser warnend aufmerksam machen, eine Reihe von Fehlern und Irrtümern, die ich damals leider nicht als solche erkannt habe, die aber heute als solche preiszugeben sind. Ich erwähne nur das Gröbste: Diese Predigt ist nicht, wie es unbedingt sein sollte, eine Auslegung, sondern trotz der Anlehnung an einen bibli­schen Text und gerade diesem Text aufs Höchste zuwider eine eigenmächtige Aussprache dessen, wessen passen­der oder unpassenderweise mein eigenes Herz damals voll war. Sie ist keine evangelische, sondern eine menschlich-gesetzliche Predigt. Dass ich als ‚Quellen‘ mei­nes Wissens um das, was ich sagte, ‚mein Gewissen‘ und (!) die Bibel angegeben habe, war ehrlich genug und er­klärt Manches. Es ist aber sehr bedauerlich, dass ich da­mals ehrlicherweise diese Angaben machen mußte. Die am Schluss vorgetragene Lehre von der ‚Entscheidung‘ und von den beiden ‚Möglichkeiten‘ endlich ist, so wie sie dasteht, offene Irrlehre. Es besteht Anlass, diesem oder jenem jüngeren Pfarrer, der sich aus verständ­lichem Grund an dieser Predigt freuen sollte, zugleich sehr ernstlich zuzurufen: ‚Sei ein Mann und folge mir nicht nach!'“

„Retraktionen“ zur Predigt Der Pfarrer, der es den Leuten recht macht (1932)

Von Karl Barth

Für eine Wiederveröffentlichung seiner Predigt „Der Pfarrer, der es den Leuten recht macht“ (zu Hesekiel 13, 1-16) in der Zeitschrift Christentum und Wirklichkeit (10. Jahrgang, 1932, Heft 4, S. 86-97) behielt sich Karl Barth folgende „Retraktionen“ vor:

Anmerkung des Verfassers: Ich habe den Wunsch der Schriftleitung von „Christentum und Wirklichkeit“, diese vor 16 Jahren gehaltene und gedruckte Predigt noch einmal zu veröffentlichen, nicht widersprochen, weil ich sie noch immer für geeignet halten kann, eine wichtige biblische Wahrheit: Den Gegensatz von Kirche und Welt in der Kirche unter dem bestimmten Gesichtspunkt „Pfarrer und Gemeinde“ in ihrer Art deutlich und kräf­tig ans Licht zu stellen. Daß „der Pfarrer, der es den Leuten recht macht“ ein falscher Prophet ist, das ist auch heute noch eine für Pfarrer und Gemeinden hörens­werte Eröffnung. — Die Predigt enthält aber, und dar­auf muß ich die Leser warnend aufmerksam machen, eine Reihe von Fehlern und Irrtümern, die ich damals leider nicht als solche erkannt habe, die aber heute als solche preiszugeben sind. Ich erwähne nur das Gröbste: Diese Predigt ist nicht, wie es unbedingt sein sollte, eine Auslegung, sondern trotz der Anlehnung an einen bibli­schen Text und gerade diesem Text aufs Höchste zuwider eine eigenmächtige Aussprache dessen, wessen passen­der oder unpassenderweise mein eigenes Herz damals voll war. Sie ist keine evangelische, sondern eine menschlich-gesetzliche Predigt. Sie tut gerade das, was sie bekämpft: Sie stellt nämlich die menschliche Situa­tion zwischen Pfarrer und Gemeinde nicht unter das Wort Gottes, sondern sie bedient sich des Wortes Gottes, um diese menschliche Situation zu bewegen. Sie predigt eine Unruhe, die die umschließende Ruhe Gottes über­hört und übertäubt und die darum auch nicht eine rechte Unruhe heißen darf. Es ist weiter nicht zu billigen, daß ich mich in dieser Weise mit dem Propheten identifiziert habe. Und es war ein grober Unfug, daß ich mich nicht scheute, das Wort Jesu Luk. 23, 28 in diesem Zu­sammenhang anzuführen. Daß ich als „Quellen“ mei­nes Wissens um das, was ich sagte, „mein Gewissen“ und (!) die Bibel angegeben habe, war ehrlich genug und er­klärt Manches. Es ist aber sehr bedauerlich, daß ich da­mals ehrlicherweise diese Angaben machen mußte. Die am Schluß vorgetragene Lehre von der „Entscheidung“ und von den beiden „Möglichkeiten“ endlich ist, so wie sie dasteht, offene Irrlehre.

Ohne diese „Retraktationen“ dürfte ich die Predigt heute nicht wieder ausgehen lassen. Es besteht Anlaß, diesem oder jenem jüngeren Pfarrer, der sich aus verständ­lichem Grund an dieser Predigt freuen sollte, zugleich sehr ernstlich zuzurufen: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach!“

Karl Barth

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