Über Eduard Thurneysen (1935)
Von Karl Barth
Die theologische Arbeit Eduard Thurneysens ist in ihren Anfängen hervorgewachsen aus den Motiven des Pfarramts – und in den Aufgaben des Pfarramts hat sie noch heute ganz offen ihren Zielpunkt. Die Erkenntnisse, die in diesem Buche ausgesprochen und entwickelt sind, sind wohl die Ergebnisse einer auf allseitiger und gründlicher Prüfung der Probleme beruhenden Forschung. Aber diese Forschung wurde nicht um ihrer selbst willen, nicht aus Lust an den Problemen als solchen und auch nicht zur Erhärtung bestimmter vorgefasster Theorien unternommen. Sondern es war ein Prediger, ein Lehrer, ein Seelsorger, der verantwortlich der ganzen Kirche und in der Kirche noch einmal ganz besonders seinen Amtsbrüdern verpflichteter Diener am Wort, der als solcher fragte, untersuchte, nachdachte, formulierte, um Schritt für Schritt zu den hier niedergelegten Erkenntnissen und – neuen –? Wer die Vorträge von Eduard Thurneysen versteht, der versteht damit, dass die Kirche der Existenzgrund und das Subjekt der Theologie ist. Wer das nicht versteht, der hat sicher auch Eduard Thurneysen nicht verstanden.
Man kann nun sagen, dass diese Begründung und Beziehung der Theologie auf die Kirche und speziell auf die Arbeit des Pfarrers ein Merkmal der ganzen theologischen Erneuerungsbewegung ist, die sich in der Schweiz, in Deutschland und von da aus auch in anderen europäischen Ländern in den letzten 15 Jahren ereignet hat. Man muss aber einerseits wissen, dass Eduard Thurneysen unter allen Anderen vielleicht doch der Allererste gewesen ist, der die Notwendigkeit einer in diesem Sinn kirchlichen Theologie neu eingesehen hat – von ihm habe jedenfalls ich die Anregung empfangen, in dieser Richtung zu arbeiten. Und man muss andererseits beachten, dass unter Allen, die innerhalb dieser neuen Theologie Ruf und Namen haben, kaum einer ist, der sie als Bewegung aus der Kirche für die Kirche so charakteristisch verkörpert wie eben Eduard Thurneysen. Umso mehr, als sein äußerer Lebensweg ihn schließlich auf den Posten des ersten Pfarrers am Münster zu Basel geführt hat und damit in die direkte Nachfolgerschaft eines Johannes Oekolampad, eines Oswald Mykonius, eines Simon Sulzer, eines Johann Jakob Grynaeus. Man könnte wohl bedauern, dass ein langweiliges (das neunzehnte) Jahrhundert den Titel eines „Antistes“, der einst mit dieser Stelle verbunden war, abgeschafft hat. Eduard Thurneysen würde diesem Titel in einem ganz neuen Sinn Ehre gemacht haben. Er ist in einem nicht äußerlich zu verstehenden Sinn eine wahrhaft bischöfliche Erscheinung. Gehalten von der unbeweglichen Voraussetzung des Geheimnisses der christlichen Gemeinde, waltet er seines Amtes: sich immer aufs Neue lauschend und aufnehmend, tröstend und mahnend, beunruhigend und beruhigend, Wege weisend und nach neuen Wegen ausblickend – sich über den Christen, noch mehr über den Menschen von heute zu beugen, um mit ihm und so für ihn da zu sein. In diesem Amte handelt er auch in den hier wiedergegebenen Aufsätzen. „Vorträge“ ist, ihres akademischen und wissenschaftlichen Gehaltes unbeschadet, nicht das richtige Wort für diese Arbeiten. Eduard Thurneysen hält keine „Vorträge“; er hält, auch wenn er weitgehend analysierend, problematisierend, untersuchend vorgeht, Ansprachen, Allokutionen, Beichtreden. Noch genauer gesagt: er führt Gespräche – das Wort „führt“ wäre dabei zu betonen! – von der Art, wie manche alte Lehrer und Beichtväter sie geführt zu haben scheinen. Man wird nicht ohne Nutzen an Grünewalds Darstellung der Unterredung zwischen den beiden Heiligen in der Thebais denken, wenn man dieses Buch liest. So oder so: die Kirche ist bei Eduard Thurneysen Ereignis. Er zwingt schon durch die Art seiner Existenz den Hörer und Leser, der ihn recht versteht, sich – nicht nur mit ihm, sondern mit dem Faktum der Kirche (und nicht nur der Kirche!) auseinanderzusetzen.
Ich darf noch etwas hinzufügen über die besondere Art, in der Eduard Thurneysen in seinem Amt und als Theologe tätig ist. Das Wort, in dem sich alle meine persönlichen Eindrücke von ihm zusammendrängen, ist das Wort Offenheit. Man kann das zunächst auf das gewissermaßen Sokratische seiner Wissenschaftlichkeit beziehen. Es wird nicht so leicht eine Meinung oder These auf religiösem, philosophischem oder moralischem Gebiet geben, der er nicht, wenn sie ihm einigermaßen ernsthaft vorgetragen wird, mindestens ein waches Interesse entgegenzubringen wüsste, der er nicht irgendeine Wahrheitsbeziehung, ein nicht zu überhörendes „Anliegen“ zu entnehmen wüsste. Er hat die seltene Gabe, von Anderen zu lernen, und zwar von Jedem das gerade für ihn Lernenswerte zu lernen und in sich lebendig werden zu lassen. Man wird ihn aber auch schwerlich so bald bereit finden, sich auf irgendwelche formulierten Sätze und definierten Richtungen positiv so festzulegen, dass man ihn ein für allemal in einem bestimmten Ort zu suchen oder nicht zu suchen hätte. Parteinahme ist in der Regel nicht seine Sache. Er ist bei aller sachlichen Entschiedenheit ein beweglicher Mann, mit dem man im Einzelnen immer wieder Überraschungen erleben kann. An einem Ort wird man ihn freilich sicher nie finden, an einem Ort wird er die Stirne sicher immer kraus und den Mund zu einem spöttischen Lächeln verziehen: da nämlich, wo sich ein eingebildeter Praktizismus seine ungeprüften Voraussetzungen hinter einer Fassade von wohlklingenden Tagessparolen zu verbergen liebt. Eduard Thurneysen kann dann, wenn er auf diese gerade in der Kirche, gerade im Pfarrstand, so verbreitete eifrige Nicht-Offenheit stößt, so energisch Nein! sagen, wie wir Anderen, die mit seiner johanneischen Natur im übrigen nicht gesegnet sind.
Diese sozusagen intellektuelle Offenheit ist aber doch nur der Ausdruck seiner großen Empfindlichkeit sowohl für alle wirkliche innere und äußere Not und Sorge, als auch für alle in wirklicher Leidenschaft sich äußernde Bewegtheit und Hoffnung, in welcher Gestalt immer ihm beides in seiner näheren und weiteren Umgebung entgegentreten möge. Er ist ein Mann, der in erstaunlicher Weise für Andere da zu sein vermag, sich aufmerksam in sie versetzen, geduldig mit ihnen gehen kann, der dem Mitmenschen damit zum Wohltäter wird, dass er ihn – und nun doch von einer überlegenen Stelle aus und in einem verklärenden Lichte! – versteht und in seiner Klage oder Begeisterung gelten lässt. Die sehr spürbare Kritik, mit der er ihm dabei gegenübersteht, wird fast immer jene radikale, jene immanente Kritik sein, die als solche tröstlich, hilfreich, fruchtbar und weiterführend ist. Er versteht die Kunst, einen Gedanken, ein Tun oder Verhalten so abzulehnen, dass der Andere sich dabei aufs stärkste aufgenommen fühlt und sich gerade so etwas sagen lassen kann, was er sich, bloß von außen kritisiert, nimmermehr sagen lassen würde.
Es gleicht so sein Studierzimmer – und doch auch seine Schau von Kirche und Welt – der Arche Noahs, die allerlei Tiere besteigen und dann bis auf weiteres gerettet, im Zeichen des Himmel und Erde verbindenden Bogens wieder verlassen durften. Man könnte fragen: wo er diese Art empfangen und gelernt habe? Die für ihn eindrucksvollsten Gestalten seiner Jugend und Studienzeit waren der große Seelsorger Christoph Blumhardt d.J. in Bad Boll und – der in seiner Art ebenfalls große Versteher unter den Theologen – Ernst Troeltsch. Aber ich möchte meinen Freund nicht von diesen seinen geistlichen beziehungsweise geistigen Vätern her erklären wollen. Individuum est ineffabile, wie er selber gerne zitiert. Aber auch dabei möchte ich nicht stehen bleiben. Ich hätte die Hauptsache nicht gesagt, wenn ich nicht zum Schluss darauf hinweisen würde: seine Offenheit für alles Menschliche dürfte eine geheime Entsprechung haben in der Offenheit, in der er abseits von allen menschlichen Stimmen auf die heilige Schrift zu hören versucht. Indem ihm dies zur Notwendigkeit wurde, ist er der kirchliche Theologe in seiner Besonderheit geworden, der in diesem Buche zu uns redet. Man wird wohl gerade auch von dieser seiner so eindrucksvollen Besonderheit nur dann lernen können, wenn man diesen ihren letzten und entscheidenden Ursprung ins Auge bekommt und nicht mehr aus dem Auge verliert.
Bonn, im Mai 1935.
Karl Barth
Quelle: KBA 11096