Albrecht Grözinger, Was ist eine gute Predigt: „Weil uns eine Predigt an den Reichtum des uns von Gott geschenkten Lebens heranführt, bedarf die Predigt einer besonderen Sprache – und für mich heisst das einer schönen Sprache. Der Schriftsteller Max Frisch hat einmal sehr schön gesagt: ‚Ich probiere Geschichten an wie Kleider.‘ Das geschieht auch in einer guten Predigt mit ihren Sprach-Geschichten. Manchmal sind mir die Kleider noch zu weit, aber ich kann in sie hineinwachsen. Und auch nicht jedes Gewand passt mir. Und von manchem Gewand merke ich, dass es abgetragen ist und ich es ablegen muss. Das erwarte ich von der Sprach-Welt einer guten Predigt, dass sie mir sprachliche Kleider präsentiert, in die ich hinein schlüpfen kann, in denen ich wachsen kann, in denen neue Erfahrungen möglich werden.“

Was ist eine gute Predigt?

Von Albrecht Grözinger

Was ist für Sie eine gute Predigt? Ich weiss nicht, welche Antwort Sie geben würden. Ich versuche hier, meine Antwort auf diese Frage zu geben. Dazu muss ich kurz etwas über meinen Hintergrund erzählen. Ich war über 10 Jahre an verschiedenen Orten Pfarrer in Württemberg und ich war über 40 Jahre lang Lehrer der Homiletik (Predigtlehre) an verschiedenen Universitäten in Deutschland und der Schweiz. Das heisst ich bin – wenn man so sagen will – auf beiden Seiten gestanden: als Prediger auf der Kanzel und als Hörer unter der Kanzel. Seit ich pensioniert bin, bin ich hauptsächlich Hörer der Predigt.

Was macht für mich eine Predigt zu einer guten Predigt? Ich möchte gerne drei Punkte nennen, die für mich besonders wichtig sind.

Die Predigt soll mich nicht belehren, aber sie soll mir neue Perspektiven eröffnen. Gegen Prediger und Predigerinnen, von denen man den Eindruck hat, dass sie alles besser wissen, von denen habe ich eigentlich noch nie eine gute Predigt gehört. Eine Predigt soll mich nachdenklich machen, sie soll meine Sensibilität wecken, sie soll meine Entdeckerlust am Leben wecken. Ein guter Freund von mir, der auch Lehrer der Homiletik war, der früh verstorbene Henning Luther, hat einmal sehr schön gesagt: „Eine Predigt soll keine Antworten geben, sondern Antworten finden helfen.“

Eine Predigt soll mich in eine neue Welt führen. Ich sage es sehr direkt: Eine gute Predigt führt mich in die Welt Gottes. Das heisst nicht, dass ich Gott direkt gegenüber stehe. Eine gute Predigt führt mich in die Welt der Erfahrungen, die andere Menschen mit Gott gemacht haben. Von solchen Erfahrungen erzählt die Bibel in vielfältiger Weise. Deshalb ist es auch gut, dass die Predigt in der Regel von einem biblischen Text ihren Ausgang nimmt. Nicht als autoritäre Ansage, die ich blind zu übernehmen habe. Sondern in einer guten Predigt wird der biblische Text zu einem Schlüssel, der mir das Tor aufschliesst zu der Erfahrung anderer Menschen mit Gott. Das müssen für mich nicht unbedingt die Erfahrungen sein, die ich selbst auch gemacht habe. Gerade im Licht anderer Erfahrungen kann ich meine eigenen Erfahrungen in einem neuen Licht sehen. Ernst Lange, auch ein Lehrer der Homiletik, hat einmal sehr schön gesagt: Wenn ich mich auf einen biblischen Text einlasse, dann kann ich den Vogel gleichsam im Flug beobachten. In der Bibel begegnen mir fremde Vögel, die mich zum eigenen Flug ermuntern.

Und schliesslich: Eine gute Predigt ist für mich eine „schöne“ Predigt. Das klingt zunächst einmal verdächtig. Wenn im Volksmund von einer „schönen“ Predigt die Rede ist, dann meint man in der Regel: Vielleicht waren ja es gutgemeinte Worte, die aber mit unserer Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben. Für mich ist es gerade umgekehrt. Weil uns eine Predigt an den Reichtum des uns von Gott geschenkten Lebens heranführt, bedarf die Predigt einer besonderen Sprache – und für mich heisst das einer schönen Sprache. Der Schriftsteller Max Frisch hat einmal sehr schön gesagt: „Ich probiere Geschichten an wie Kleider.“ Das geschieht auch in einer guten Predigt mit ihren Sprach-Geschichten. Manchmal sind mir die Kleider noch zu weit, aber ich kann in sie hineinwachsen. Und auch nicht jedes Gewand passt mir. Und von manchem Gewand merke ich, dass es abgetragen ist und ich es ablegen muss. Das erwarte ich von der Sprach-Welt einer guten Predigt, dass sie mir sprachliche Kleider präsentiert, in die ich hinein schlüpfen kann, in denen ich wachsen kann, in denen neue Erfahrungen möglich werden.

Dr. Albrecht Grözinger ist emeritierter Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel und Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.

Hier der Text als pdf.

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