Die Bibel im kulturellen Wandel auslegen
Von Brevard S. Childs
Ich möchte die Frage aufwerfen, warum sich das Verständnis der Bibel innerhalb der christlichen Kirche scheinbar von Generation zu Generation verändert. Ich will diese weit gefasste Fragestellung auch dazu nutzen, zu untersuchen, ob sie uns möglicherweise ein Licht auf unsere heutige Situation im Umgang mit der Bibel und deren Zukunft werfen kann. Über drei Jahrzehnte hinweg habe ich an der Yale Divinity School Kurse zur Geschichte der Bibelauslegung unterrichtet – von den frühesten Zeiten der Kirche bis in die Moderne. Eines der rätselhaftesten Probleme in dieser Beschäftigung ist der Versuch zu verstehen, warum sich das Verständnis verändert, wenn jede neue Generation ihre Heiligen Schriften neu zu verstehen und autoritativ zu nutzen sucht.
WISSENSCHAFTLICHE UND HUMANISTISCHE MODELLE
Es gibt mehrere klassische Modelle, mit denen Wissenschaftler versucht haben, das Problem des sich wandelnden Bibelverständnisses zu erklären. Erstens sah das ältere, wissenschaftlich geprägte Modell des 19. Jahrhunderts den Wandel als natürlichen Teil eines kumulativen Prozesses der Fakten- und Erkenntnisgewinnung, der auf ein Ziel des Fortschritts zusteuerte. Grundlage für das veränderte Verständnis war das Erschließen neuer Belege, die Entwicklung neuer Werkzeuge zur präziseren Beobachtung und die Verbesserung kritischer Fähigkeiten in deren Anwendung. Die frühen Wissenschaftler betrachteten es als unvermeidlich, dass die Anhäufung von Fakten unsere Herangehensweise an die Welt verändern würde, da sich in jedem Bereich die Erkenntnishorizonte ausweiteten.
Sicherlich kann dieses wissenschaftliche Modell teilweise erklären, warum es Veränderungen im Verständnis der Bibel gab. Es wurden tatsächlich neue, zuvor unbekannte biblische Texte entdeckt, neue historische Belege aus der Archäologie erschlossen und neue kritische Fähigkeiten zur Auslegung antiker Sprachen entwickelt. Als die Qumran-Handschriften zum ersten Mal entdeckt wurden, erklärte W. F. Albright, der bekannte Altorientalist der Johns Hopkins University, enthusiastisch, dass alle Auslegungen des Johannesevangeliums angesichts dieser neuen Erkenntnisse über hellenistische jüdische Sekten vollständig überarbeitet werden müssten. Ob er nun recht hatte oder nicht – das neue Material versetzte die neutestamentliche Forschungsgemeinde für mindestens ein Jahrzehnt in Aufruhr.
Während die Rolle objektiven, empirischen Wissens als ein wichtiger Faktor für Perspektivwechsel nicht unterschätzt werden sollte, ist zunehmend deutlich geworden, dass weit mehr an der Entstehung eines neuen Verständnisses beteiligt ist. Es gibt auch bedeutende nicht-objektive Faktoren. In seinem berühmten Buch The Structure of Scientific Revolutions (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen) wies Thomas S. Kuhn auf die Rolle von Paradigmenwechseln in der Wissenschaft hin. Oft ganz plötzlich verlieren die bis dahin akzeptierten wissenschaftlichen Annahmen, innerhalb derer Forschung betrieben wurde, an Glaubwürdigkeit, und ein neues Modell tritt auf den Plan, das andere Fragen stellt und eine neue Sichtweise auf die Belege eröffnet. Die von Kopernikus, Newton und Einstein ausgelösten Paradigmenwechsel sind klassische Beispiele für verändertes Verständnis. Solche Veränderungen sind nicht einfach kumulativer Natur; vielmehr erinnern sie an das Bild sich lösender Schuppen von den Augen – ein plötzliches Verstehen dessen, was zuvor unerklärlich war. Kurz gesagt: Die subjektive Seite des Verstehens ist tief in die wissenschaftliche Forschung eingedrungen. Jeder wissenschaftliche Fakt muss in irgendeiner Weise im laufenden Erkenntnisprozess gedeutet werden.
Ein zweites Modell zum Verständnis des Wandels betont die Wirkung subjektiver Faktoren sogar noch stärker. Aus Sicht der Geisteswissenschaften gilt es heute als Binsenweisheit, dass jegliches menschliche Wissen durch Interpretation konstruiert wurde. Die philosophische „Wendung zum Subjekt“, die Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzte, betonte nicht nur, dass Wissen eine subjektive Komponente hat, sondern dass die Struktur der Realität selbst durch die aktive Funktion des menschlichen Geistes bestimmt wird. Was zunächst eine philosophische Theorie der deutschen Idealisten war, wurde bald auf das gesamte Ausmaß menschlicher Kultur ausgeweitet – soziologische, ökonomische und psychologische Kräfte bestimmen, wie die Welt wahrgenommen wird.
Offensichtlich war der Einfluss moderner geisteswissenschaftlicher Studien auf das Bibelverständnis enorm. Hans Frei beschrieb die Natur dieser Perspektivrevolution einmal folgendermaßen: Traditionell war die Bibel das Mittel, durch das die Welt wahrgenommen wurde. Nach der Aufklärung wurde die Welt zum Mittel, durch das die Bibel verstanden wurde.
Infolge dieses neuen Verständnisses der Natur der Wirklichkeit wird die Bibel heute als ein weiterer Ausdruck menschlicher Kultur betrachtet – und ist damit einem ständigen Wandel der Auslegung unterworfen, je nachdem, wie sich die kulturelle Perspektive verändert, aus der heraus sie betrachtet wird. Eines der Kennzeichen moderner Bibelwissenschaft ist die unaufhörliche Suche nach den soziologischen, historischen und psychologischen Kräften, die angeblich die Botschaft der biblischen Autoren geprägt haben. Durch das Freilegen dieser empirischen Kräfte soll die Zeitgebundenheit der Bibel in ihrer ganzen Dimension deutlich werden.
Zum Beispiel ist sowohl in der alttestamentlichen als auch in der neutestamentlichen Forschung ein bemerkenswerter Wandel zu beobachten – weg vom traditionellen Fokus der Kirche auf die biblische Theologie hin zu einer Phänomenologie der vergleichenden Religionswissenschaft. Man erhofft sich davon ein besseres und genaueres Verständnis der religiösen Dimensionen des menschlichen Lebens. So fragt man im Alten Testament etwa, welche wirtschaftlichen und politischen Krisen in der Diaspora das nachexilische Judentum dazu veranlassten, seine Lehre vom Monotheismus zu formulieren – ein Mittel, um eine eigene soziale Identität zu schaffen. Oder im Neuen Testament liegt ein zentrales Interesse heute darin, herauszufinden, welche Aspekte des hellenistischen Stadtlebens bestimmte urbane Christen dazu veranlassten, griechisch-bürgerliche Moralkodizes als verbindlich für christliches Verhalten zu erachten.
Es ist nicht meine Absicht, mit der Darstellung dieser beiden dominanten Theorien des Wandels – der wissenschaftlichen und der humanistischen – ihre wertvollen Einsichten zu schmälern. Es wäre sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, die Aussagekraft dieser beiden Erklärungsmodelle in einer modernen Gesellschaft zu leugnen, in der sie sich oft miteinander verbinden. Dennoch möchte ich mit Nachdruck behaupten, dass weit mehr im Spiel ist, wenn es darum geht, den Wandel in der Auslegung der Bibel zu erklären – und dass die vorgeschlagenen Antworten auf unsere eingangs gestellte Frage bei Weitem nicht ausreichen. Oft können sie sowohl oberflächlich als auch in höchstem Maße irreführend sein. Kurz gesagt: Die eigentliche theologische Dimension des Problems wurde nicht behandelt.
Ein erstes Anzeichen dafür, dass diese Erklärungen unzureichend sind, sehe ich in der Unruhe und Verwirrung, die solche Deutungen in der durchschnittlichen christlichen Gemeinde hervorrufen. Ich spreche nicht von extremen Fundamentalisten, die jede Veränderung als dämonisch ablehnen. Vielmehr geht es mir um den durchschnittlichen, frommen Christen, dessen Leben in gewissem Maß von der Predigt und Liturgie der Kirche geprägt ist. In ihm entsteht ein tiefes Gefühl der Unsicherheit: Hat sich die Zuversicht der Kirche in die Heilige Schrift als bleibendes Wort Gottes als schwerer Irrtum erwiesen? Wenn die Bibel nur ein weiteres kulturelles Artefakt ist, das vollständig von seinem historischen Kontext bedingt ist und dessen Bedeutung durch ständige Neuinterpretation endlos verändert werden kann – das Modewort lautet Kontextualisierung –, wie kann sie dann als maßgebliche Richtschnur des Glaubens dienen? Wie kann man von Jesus Christus sprechen, „der derselbe ist, gestern, heute und in Ewigkeit“, wenn die Gestalt Christi in Wirklichkeit nur ein leeres Symbol ohne festes Profil ist – lediglich eine bequeme Deutung, um eine kollektive Identität zu stützen?
Vielleicht ist der beste Ausgangspunkt für ein theologisches Verständnis dessen, was bei der Auslegung der Bibel auf dem Spiel steht, zwei Beispiele aus der neueren Kirchengeschichte zu betrachten – um zu sehen, ob der tatsächliche Gebrauch der Bibel in einem konkreten Kontext einen Zugang zum Kern des Problems ermöglicht. Das erste ist ein historisches Beispiel für die Wiederentdeckung der Autorität der Bibel in der Kirche; das zweite ein Beispiel für den Verlust dieser Autorität und den Bedeutungsverfall der Bibel.
WIEDERENTDECKUNG DER BIBLISCHEN AUTORITÄT
Meine europäischen Lehrer waren stark von den Ereignissen zwischen den beiden Weltkriegen geprägt. Einige hatten im Ersten Weltkrieg gedient, die meisten aber wurden in den 1920er und frühen 1930er Jahren theologisch ausgebildet. In der Zeit vor 1914 dominierte das deutsche historisch-kritische Bibelstudium das Feld und war weltweites Vorbild. In Gelehrten wie Ritschl und Harnack verband sich die deutsche Hochkultur mit einer kritischen Neuinterpretation der Bibel zu einer modernen Synthese, in der eine sorgfältig „gereinigte“ Bibel eine Bestätigung eines protestantisch-kulturellen Christentums bot.
Doch im Gefolge der tiefen Krise, die durch das Desaster des Krieges ausgelöst wurde, machten sich neue Stimmen bemerkbar. In den Lehrbüchern zu dieser Geschichte wird meist auf die Rolle Karl Barths hingewiesen – doch er war keineswegs allein. Barth sprach von der „seltsamen neuen Welt der Bibel“. Er verkündete, dass die Bibel nicht von der Suche des Menschen nach Gott handele, sondern von Gottes Suche nach dem Menschen. Die Bibel habe kein Interesse an menschlichen religiösen Sehnsüchten, sondern verkünde eine gnädige Selbstoffenbarung Gottes an eine rebellische Schöpfung. Barth sah den Menschen nicht als tapferen Wahrheitssucher, sondern als jemanden, der blind vor Gottes bereits offenbarter Wahrheit davonläuft. Anstelle eines Weges des Fortschritts sprach er von der eschatologischen Krise, die durch Gottes Gericht über menschlichen Hochmut ausgelöst wird.
Hinzu kam ein mächtiges politisches Element, das eine entscheidende Rolle in der neuen Sicht auf die Bibel für Theologie und Kirche spielte. Ich spreche natürlich vom Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und der daraus resultierenden Krise für eine Kirche, die völlig unvorbereitet war auf die Intensität dieser Herausforderung an ihren Glauben. In der berühmten Barmer Theologischen Erklärung von 1934 brachte Barth die ganze Wucht seiner bekennenden Theologie in einen durchdringenden Widerspruch zu allen Versuchen, mit dem Abfall zu kompromittieren. Wie ein alttestamentlicher Prophet rief er: „Wir haben nur einen Führer, Jesus Christus, den Herrn.“
Die Wiederentdeckung der Rolle der Bibel reichte weit über die Schriften Barths hinaus. Im Bereich des Alten Testaments versuchte der Schweizer Theologe Wilhelm Vischer in seinem bedeutenden Werk Das Zeugnis des Alten Testaments von Christus (Band 1), die Bibel für den christlichen Glauben zurückzugewinnen – was schließlich zu seiner Ausweisung aus Deutschland führte. Besonders in den örtlichen Gemeinden wurde schließlich der Alarm gehört, und eine schwer gespaltene Kirche stellte sich dem Ansturm des brutalen Heidentums und Terrors entgegen.
Mein Anliegen an diesem Punkt ist nicht, die historischen Einzelheiten nachzuerzählen, sondern dieses Beispiel zu nutzen, um die theologischen Implikationen für unsere übergeordnete Fragestellung zu erörtern: Wie erklärt man diesen plötzlichen Paradigmenwechsel in den 1920er und 1930er Jahren, wie er in der Bekennenden Kirche in Deutschland sichtbar wurde?
Natürlich ist es möglich, das Phänomen rein als kulturelles Ereignis zu deuten: Unter dem Druck der politischen Verhältnisse wandten sich die Menschen den traditionellen Glaubensgewissheiten zu. Vielleicht steckt ein Körnchen Wahrheit in dieser psychologischen Deutung – aber sie dringt nicht zum Kern des Geschehens vor. Im Sinne der zuvor beschriebenen Modelle beruhte der Wandel nicht auf neuen Textfunden oder archäologischen Entdeckungen. Vielmehr veränderte sich die Perspektive radikal. Man sprach davon, einen Alarm gehört zu haben, plötzlich zur Besinnung gekommen zu sein. Es fand tatsächlich ein Paradigmenwechsel statt – um Kuhns Begriff zu verwenden –, aber wie und warum?
Ich schlage vor, dass die politische Krise nur einen Teil der Antwort liefert. Ein wiederkehrendes Thema unter jenen, die eine neue Richtung einschlugen, war: Die neue Sicht auf die Bibel war in Wirklichkeit keine Neuerung, sondern eine Wiederentdeckung dessen, was die christliche Kirche in der Vergangenheit immer wieder getragen hatte. Alte Bilder gewannen plötzlich neue Lebendigkeit und Kraft. Es war, als ob nun auch die Kirchenväter und Reformatoren neu entdeckt wurden. Augustinus, Luther und Calvin – aus ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten – sprachen alle davon, auf eine machtvolle Kraft der Schrift zu reagieren. Der Anspruch des biblischen Textes entfaltete sich auf unterschiedliche Weise – oft entsprechend der Persönlichkeit des jeweiligen Auslegers –, doch stets war ihre Haltung eine des Empfangens. Sie hörten ein göttliches Wort, begegneten der unmittelbaren Gegenwart Gottes, erfuhren eine überwältigende Freude aus der Kraft des Evangeliums. In jedem Fall war die Heilige Schrift das Vehikel für eine veränderte Sichtweise.
In den 1920er Jahren gewann diese Wiederentdeckung der Bibel auch einen polemischen Charakter, da das neue Schriftverständnis in scharfen Gegensatz zu den vorherrschenden liberal-theologischen Prämissen der historisch-kritischen Bibelauslegung gesetzt wurde. Kurz gesagt: Es kam zu einem massiven Paradigmenwechsel. Nicht nur wurde die gängige Methode infrage gestellt, sondern vor allem die Wahrnehmung der Heiligen Schrift und das Ziel ihrer Auslegung wurden grundlegend verändert.
Vergleiche zum Beispiel den Wandel der Sichtweise auf das Alte Testament. Hermann Gunkel, ein führender alttestamentlicher Gelehrter in Europa, hatte den maßgeblichen Kommentar zur Genesis verfasst und mit unvergleichlicher Brillanz eine Fülle altorientalischer Parallelen in seine Interpretation einfließen lassen. Für Gunkel war das erste Kapitel der Genesis eine hebräische Umdeutung des babylonischen Schöpfungsmythos – eine Umdeutung, die vieles von der Mythologie in fragmentarischer, rudimentärer Form beibehielt. Gunkel betonte Israels einzigartige ideologische Auslegung einer gemeinsamen kulturellen Tradition und versuchte im Geiste der deutschen Romantik eine ästhetische Wertschätzung für den schöpferischen Genius dieses alten, primitiven Dokuments zu wecken.
Dann, im Wintersemester 1932, hielt ein junger Privatdozent in Berlin – Dietrich Bonhoeffer, der in der alttestamentlichen Wissenschaft nicht besonders tief geschult war – eine Vorlesungsreihe mit dem Titel „Schöpfung und Fall“ und dem Untertitel „Eine theologische Auslegung von Genesis 1–3“. Bonhoeffer begann seine Vorlesung nicht mit JEDP (der quellenkritischen Theorie), sondern mit Genesis 1,1: „Im Anfang schuf Gott…“. Er schrieb:
„Die Bibel beginnt mit Gottes freier Bejahung, … freier Offenbarung seiner selbst … Im Anfang, aus Freiheit, aus dem Nichts, schuf Gott Himmel und Erde. Das ist der Trost, mit dem die Bibel uns anspricht … die wir ängstlich sind vor der falschen Leere, dem Anfang ohne Anfang und dem Ende ohne Ende. Es ist das Evangelium, es ist der auferstandene Christus, von dem hier die Rede ist. Gott ist im Anfang, und er wird am Ende sein. … Dass er uns dies wissen lässt, ist Barmherzigkeit, Gnade, Vergebung und Trost.“
Was für eine andere Sichtweise im Vergleich zu Gunkel! Haben sie überhaupt denselben Text gelesen? Was veranlasste Bonhoeffer zu diesem plötzlichen Eintauchen in eine neue Dimension der Wirklichkeit?
Betrachten wir auch den radikalen Unterschied in der Wahrnehmung Jesu. 1927 schrieb Shirley Jackson Case, Professor für Neues Testament an der University of Chicago und vielleicht der führende Vertreter der amerikanischen kritischen Forschung, sein bekanntes Buch „Jesus: A New Biography“. Gleich zu Beginn informierte er seine Leser über die bemerkenswerten wissenschaftlichen Fortschritte, die durch neue historische und soziologische Erkenntnisse nun möglich seien. Aus den Evangelien und dem zeitgenössischen Judentum könne man nun ein Bild von Jesus in seinem ureigenen Umfeld rekonstruieren. Und wie sieht dieser Jesus aus?
„Im Kern seiner Religion stand Jesu Empfinden einer persönlichen Beziehung zu Gott … Für Jesus war Religion im Wesentlichen eine Erfahrungssache, verwurzelt in den geistigen Impulsen des inneren Lebens.“
Im Gegensatz dazu sei auf einen anderen Neutestamentler verwiesen: Martin Kähler, Professor in Halle, der 1896 ein wenig beachtetes Buch geschrieben hatte mit dem Titel „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“, das in den 1930er Jahren wiederentdeckt und neu aufgelegt wurde. Einige Auszüge daraus:
„Der Grund, warum wir mit dem Jesus unserer Evangelien Gemeinschaft haben, ist, dass wir durch sie eben jenen Jesus erkennen lernen, dem wir mit den Augen des Glaubens und im Gebet am Thron Gottes begegnen … weil er Gottes Offenbarung an uns ist. … Der auferstandene Herr ist nicht der historische Jesus hinter den Evangelien, sondern der Christus der apostolischen Verkündigung, des gesamten Neuen Testaments. Der wahre Christus … ist der gepredigte Christus. Und der gepredigte Christus ist eben der Christus des Glaubens. Es ist der Jesus, den die Augen des Glaubens bei jedem seiner Schritte und in jedem seiner Worte erkennen – … unser auferstandener, lebendiger Herr.“
Wieder stellt sich die Frage: Wie ist ein solcher Perspektivwechsel möglich? Ich behaupte, dass im Zentrum dieses massiven Paradigmenwechsels eine neue Wahrnehmung der Realität Gottes stand – und ein frisches Ringen mit dem eigentlichen Gehalt der Bibel als Quelle des christlichen Glaubens. Ganz unerwartet, wie in den Beispielen Bonhoeffer und Kähler, hatte die Bibel ihre eigene Stimme zurückgewonnen, die nun sprach und den Leser mit einer überwältigenden existenziellen Kraft konfrontierte. Die Bibel beschrieb nicht mehr einfach die Religion einer alten, fremden Kultur – die Vergangenheit wurde zur Stimme der Gegenwart.
Karl Barths berühmter Ausdruck von der „seltsamen neuen Welt in der Bibel“, nämlich der Welt Gottes, wurde zur besten Beschreibung der revolutionären Sichtweise, mit der die bekennende, ringende Kirche Deutschlands in den 1920er Jahren die Bibel neu sah.
VERLUST DER BIBLISCHEN AUTORITÄT
Im krassen Gegensatz zu diesen Beispielen der Wiederentdeckung der Bibel im Zuge eines Paradigmenwechsels ist ebenso klar, dass ein solcher Wechsel auch den Verlust des Bibelverständnisses bedeuten kann.
Als ich 1947 nach dem Ende meines Militärdienstes im Zweiten Weltkrieg an das Princeton Theological Seminary kam, waren die meisten amerikanischen protestantischen Seminare und theologischen Fakultäten in gewissem Maße von der jüngsten europäischen Erfahrung geprägt. Die sogenannte neo-orthodoxe Bewegung wurde von Größen wie den beiden Niebuhrs, Paul Tillich und John Mackay angeführt. Was an dieser Bewegung seltsam war, war die Tatsache, dass die europäische Glaubenskrise irgendwie stellvertretend übernommen worden war. Amerika selbst hatte keine tiefe philosophische Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg erfahren – man denke an Eisenhowers „Crusade in Europe“. Es gab keine echte politische oder wirtschaftliche Krise.
Trotz des Anscheins von Neo-Orthodoxie, der in populären Zeitschriften wie Theology Today, Christianity and Crisis und Interpretation vertreten war, erinnerte die Predigt in den meisten protestantischen Hauptkirchen eher an William James’ „Religion der gesunden Seele“ als an Kierkegaards „Krankheit zum Tode“. In den 1950er Jahren erschienen Dutzende Bücher mit Titeln wie The Rediscovery of the Bible – aber zunehmend entstand der Eindruck eines Schauspiels, da der Gehalt immer dünner wurde.
Neben dieser Phase theologischer Imitation zeichnete sich in den USA ein neues kulturelles Unbehagen ab, das sich in vielen Bereichen bemerkbar machte und in den 1960er Jahren ausbrach. Ich denke natürlich an den Vietnamkrieg, die Intensivierung des Kalten Krieges, die Schwarzenbewegung, sowie feministische und Befreiungstheologien, um nur einige zu nennen. Mein Anliegen ist jedoch nicht, diese Kulturgeschichte zu rekapitulieren, sondern den Paradigmenwechsel im Bibelverständnis zu fokussieren.
Ganz plötzlich trat eine Generation von Theologen auf, die alle in der Neo-Orthodoxie der Vorkriegs- und Nachkriegszeit ausgebildet worden waren – und die nun, wenige Jahre später, dramatisch erklärten, dass sie „des Kaisers neue Kleider“ nicht mehr sehen konnten.
- J. A. T. Robinsons berühmtes Buch Honest to God verspottete gleich zu Beginn den „Gott da draußen“ als mythisches Überbleibsel der Bibel und ersetzte ihn durch den unpersönlichen „Grund des Seins“, ein Konzept, das er von Paul Tillich übernommen hatte.
- Harvey Cox griff die traditionelle christliche Ethik als bloße Auflistung von Lastern und Tugenden an und definierte authentisches Leben neu als das, „wo das Leben spielt“.
- Langdon Gilkey verwarf die Betonung der „Taten Gottes“ – ein Begriff mit vager Barth-Anlehnung – und richtete stattdessen den Blick auf die empirische Welt menschlicher Erfahrung als Zugang zum Transzendenten.
- Schließlich erklärte James Barr, das Interesse an der biblischen Theologie sei wirr und unklar, und forderte stattdessen die kühle Klarheit britischen Rationalismus, um der christlichen Orthodoxie zu entkommen.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit war der Ökumenische Rat der Kirchen noch überzeugt, dass sich die Vielfalt der Kirchen durch einen verhandelten Konsens über die Einheit der biblischen Botschaft überwinden ließe. Zehn Jahre später gab man diesen Ansatz auf – viele stimmten nun Ernst Käsemanns Diktum zu, dass die Bibel nicht die Lösung der Uneinigkeit, sondern ihre Ursache sei.
1971, anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Zeitschrift Interpretation, erklärten die eingeladenen Redner Ritschl, Gordon Kaufman und James Barr, dass die Annahmen über die Bibel, auf denen die Zeitschrift gegründet worden war, irreführend gewesen seien.
THEOLOGISCHE BEWERTUNG DIESER VERSCHIEBUNGEN
Was sollen wir von diesen zwei radikal unterschiedlichen Beispielen biblischer Auslegung in unserer jüngeren Geschichte halten – der Wiederentdeckung und dann dem Verlust der Autorität der Bibel? Wie sind diese Verschiebungen in Sichtweise und Wahrnehmung der Bibel zu interpretieren? Ich würde argumentieren, dass die üblichen Erklärungen, die sich auf die Wirkung kultureller Veränderungen konzentrieren – auch wenn sie in geringem Maße zutreffen –, letztlich unzureichend sind. Eine vereinfachende Deutung, wonach in Krisenzeiten zur Bibel gegriffen und in optimistischen Epochen auf Selbstvertrauen gesetzt wird, ist in höchstem Maße oberflächlich und in vielen Fällen schlichtweg falsch. Auch die soziologischen Effekte im Zusammenhang mit demografischen Verschiebungen, Urbanisierung und wirtschaftlicher Globalisierung innerhalb einer technisierten Gesellschaft treffen nicht den Kern des Problems.
Darüber hinaus halte ich die ideologische Theorie, dass ernsthafte religiöse Überzeugung zwangsläufig vor den scheinbar unvermeidlichen Kräften der Moderne zurückweichen muss, für völlig unzulänglich. Man erinnere sich an den gebildeten Unterstützer des persischen Schahs, der die iranischen Ayatollahs als verblassende Überreste der Vergangenheit verspottete, dem baldigen Untergang durch westlichen Säkularismus geweiht. Der Wandel religiöser Wahrnehmung ist weitaus komplexer als meist angenommen und erweist sich letztlich als ein zutiefst theologisches Problem. Ein Beispiel dafür liefert das Buch The Soul of the American University von George M. Marsden, moderner Kirchengeschichtler an der University of Notre Dame. Darin untersucht er eingehend die wachsende Ambivalenz der Yale University gegenüber ihrem traditionellen Bekenntnis zum christlichen Glauben und den Ersatz desselben durch das Studium von Religion im Allgemeinen als kulturelles Phänomen, objektiv analysiert durch wissenschaftliche Forschung. Aber ist es wirklich so offensichtlich, dass religiöser Pluralismus – eines der theologisch kraftlosesten Worte unseres Vokabulars – auch nur annähernd geeignet ist, sich mit dem Wesen göttlicher Wirklichkeit auseinanderzusetzen?
Vielleicht bietet es sich an, zur Erhellung der sich wandelnden Bibelauslegung einige Beobachtungen aus den zwei zuvor genannten historischen Beispielen zu ziehen:
Erstens scheint klar, dass Wahrnehmungsverschiebungen oft recht plötzlich, fast ohne Vorwarnung auftreten. Das neue Paradigma ist nicht einfach eine Weiterentwicklung des alten, sondern steht in gewisser Weise im Bruch dazu. Der Wandel vollzieht sich nicht primär auf rein rationaler Ebene, als sei er logischer Deduktion entsprungen. Vielmehr deutet die Sprache des Neuen auf eine andere Art des Wandels hin. Man spricht von einer radikalen Neuorientierung, oft in der Sprache christlicher Bekehrung: Schuppen fallen von den Augen, Licht wird gesehen, eine plötzliche Umkehr.
Zweitens fällt historisch auf, dass große Durchbrüche – etwa die Reformation – von der nachfolgenden Generation nur schwer aufrechterhalten werden. Häufig kommt es zu Modifikationen, aber selbst wenn die nächste Generation sich mit aller Kraft bemüht, die Vergangenheit exakt zu rekonstruieren, stumpft der neue Kontext die anfängliche Schärfe ab. Es ist, als ob jede Generation neu dazu berufen wäre, die einst geführten Kämpfe erneut zu bestehen – oder das theologische Erbe zu verlieren. Man erinnere sich an die gewaltige Kraft, die Luthers Entdeckung der Rechtfertigung allein aus Glauben auf die erste Generation ausübte; doch bereits dreißig Jahre später begann die Dynamik zu schwinden – nicht nur wegen Melanchthons zunehmend scholastischer Formulierungen, sondern auch, weil die lutherische Bekenntnisbildung zur Abwehr von Angriffen das evangelische Anliegen domestizierte.
Drittens drehen sich große Veränderungen in der Bibelauslegung letztlich um das Gesamtverständnis von Gottes Wesen. Es geht nicht bloß um neue exegetische Techniken, die den Blickwinkel verändern; vielmehr sind diese neuen Methoden zumeist durch die Erwartung dessen geprägt, was oder wen man sucht. Wie man den Gehalt der Bibel bestimmt, hängt wesentlich davon ab, wie man die Identität Gottes wahrnimmt. So lag etwa im Zentrum von Pascals Auseinandersetzung mit den Scholastikern seiner Zeit kein vorrangig logischer Diskurs. Erst nach seinem Tod fand man in seinem Mantelfutter ein kleines Pergament, das den Schlüssel zu seinem Bibelverständnis offenbarte. Er hatte dort als geistliches Vermächtnis geschrieben: „Feuer, Feuer … Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs – nicht der Philosophen und Gelehrten.“ Es folgte eine Kette biblischer Verse, abgeschlossen mit dem Wort aus Johannes: „Das ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, erkennen und den du gesandt hast.“ Man kann mit Recht sagen, dass Pascals Schriftgebrauch von seiner religiösen Erfahrung bestimmt war – doch diese Erfahrung verstand er stets als Antwort auf ein göttliches Ergreifen durch die Schrift, das ihm einen neuen Zugang zur göttlichen Wirklichkeit eröffnete.
Es gibt schließlich auch Zeiten, in denen die Bibel ihre Überzeugungskraft zu verlieren scheint, ihre Autorität verkrustet, erodiert und sich als trügerisch erweist. Auch dafür lassen sich plausible philosophische oder soziologische Erklärungen finden, die durchaus gewisse Wahrheiten enthalten. Die kulturellen Umwälzungen im viktorianischen England nach Darwin, Huxley und anderen förderten einen religiösen Skeptizismus, der den Glauben einer ganzen Generation der englischen Intellektuellen erschütterte. Niemand sollte den religiösen Einfluss Immanuel Kants auf Europa unterschätzen – auch wenn es mehrere Generationen dauerte, bis er auf allgemein verständliches Niveau durchdrang. Doch wiederum gilt: Der Verlust des Vertrauens in die Bibel ist mit einem bestimmten Gottesverständnis verbunden. Gott wird im Laufe eines Lebens erst fern, bevor er schließlich sogar in der Bibel unsichtbar wird.
In theologischer Perspektive lässt sich formulieren: Der Gott der Bibel ist keine statische, unveränderliche Figur, die irgendwo im Himmel thront und je nach menschlicher Verfassung auffindbar oder verloren ist. Vielmehr ist der Gott der Bibel ein Gott, der sich offenbart – und zugleich verbirgt. Der Prophet Amos spricht von einem erschreckenden Rückzug Gottes:
„Siehe, es kommen Tage, spricht Gott der HERR, da will ich einen Hunger ins Land senden – nicht einen Hunger nach Brot noch einen Durst nach Wasser, sondern danach, das Wort des HERRN zu hören. Und sie werden hin und her ziehen, von einem Meer zum anderen, und vom Norden bis zum Osten laufen und das Wort des HERRN suchen, und werden’s doch nicht finden.“ (Amos 8,11–12)
Es scheint fast, als würden gerade in den Zeiten, in denen Gott von manchen tot oder machtlos erklärt wird, andere Menschen wie nie zuvor eine göttliche Intervention erleben. Genau in dem Moment, als der schottische Philosoph David Hume keinerlei empirische Beweise für Gottes Existenz fand, wurde John Wesleys Herz „seltsam warm“ – zweifellos ein Wunder, das Hume entging.
BIBELAUSLEGUNG UND DIE ERKENNTNIS GOTTES
Die These, die ich vertrete, lautet: Das sich wandelnde Verständnis der Bibel ist – obwohl kulturell peripher beeinflusst – letztlich in der theologischen Gotteserkenntnis verwurzelt. Gleichzeitig gibt es bestimmte Merkmale, die auf eine innere Logik innerhalb des christlichen Glaubensbekenntnisses hinweisen. Die Wahrnehmungsverschiebungen sind nicht rein irrational oder willkürlich. Aus der Bibel selbst und der Erfahrung der Kirche ergeben sich gewisse Hinweise, ja Regeln, zum Verständnis der Wege Gottes in der Welt:
(1) Echte geistliche Erneuerung in der Geschichte der Kirche war stets begleitet von einer Wiederentdeckung der zentralen Rolle der Bibel als Mittel der Begegnung mit dem lebendigen Gott. Darüber hinaus führte geistliche Erneuerung meist zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes. Kurz gesagt: Es hat nie eine ernsthafte Form von Christentum gegeben, die sich von der Autorität der Schrift gelöst hätte. Die Bibel ist die Quelle des kirchlichen Lebens; sie liefert den Inhalt für Liturgie und Gottesdienst. Vom „Hinter-sich-Lassen der Bibel“ zu sprechen, ist stets ein Zeichen für einen Rückfall in die Wüste – und den Verlust göttlichen Segens.
(2) Die Heilige Schrift entfaltet ihre eigentliche Funktion im Leben der Kirche nur dann, wenn sie als eine Stimme gehört wird, die sich zu Fragen von Leben und Tod äußert. Natürlich spielen wir alle Spiele – mit uns selbst und mit anderen. In diesem Zusammenhang ist selbst die Bibel nicht vor Banalisierung gefeit und kann sogar den Zugang zu Gott versperren. Von bleibendem Wert ist aus William Rainey Harpers gut organisierter Propaganda zur wissenschaftlichen Bibelstudie wenig hervorgegangen. Die Schrift gewinnt ihre eigentliche Autorität vielmehr dann, wenn sie in der Gemeinschaft der Kirche gelesen und gefeiert wird. Die Bibel ist das Buch der Kirche – jedoch nicht im irrtümlichen Sinne, dass sie der Kirche „gehört“, sondern insofern, als sie als göttliche Gabe an die Gläubigen empfangen wird und dadurch zum Wegweiser für Glauben und Leben wird. Insbesondere bietet sie der Kirche eine kritische theologische Norm gegenüber all unseren religiösen und spirituellen Anmaßungen. Eine ständige Gefahr des kirchlichen Umgangs mit der Bibel besteht darin, dass die Kirche ihre Botschaft domestiziert und das göttliche Wort an unterschiedliche Formen menschlicher Selbstverwirklichung anpasst.
(3) Es besteht eine „Familienähnlichkeit“ in den Weisen, wie eine treue Antwort auf die Bibel geschieht. Diese zeigt sich in Momenten wirklicher Einsicht und Erkenntnis, trotz unterschiedlicher Zeiten und Kulturen – im Bibelgebrauch etwa von Augustinus und Bernhard, Luther und Calvin, Pascal und Wesley, Kierkegaard und Kähler. Diese Ähnlichkeit rührt von der ernsten Begegnung mit demselben Gott her, der gehorsame Antwort in Christusähnlichkeit formt. Umgekehrt lässt sich auch vermuten, dass es auf Seiten des Unglaubens und der Skepsis eine Familienähnlichkeit gibt. Niemand kann die intellektuelle Brillanz vieler historisch-kritischer Bibelforschungen leugnen. Und doch liegt über vielen Erben der Aufklärung eine tragische Gleichförmigkeit, wenn Gott geschwächt und menschlicher Hochmut erhöht wird. Eine der großen Ironien der sogenannten „dritten Suche nach dem historischen Jesus“, die in vielen akademischen Kreisen gerade in Mode ist, besteht darin, dass die alten Häresien des 19. Jahrhunderts in ermüdender Monotonie wieder auftauchen.
(4) Die Bibel ruft zur treuen Reflexion, aber ebenso zur treuen Handlung. Wo wahres Verständnis der Schrift vorhanden ist, entsteht notwendigerweise ein Auftrag zu Evangelisation und Mission, zur Fürsorge für die Armen und Leidenden. Es ist kaum überraschend, dass das Christentum heute am schnellsten in der nicht-westlichen Welt wächst. Es scheint Teil von Gottes Plan zu sein, dass die treuen Gelehrten, die ihr Leben der Übersetzung der Bibel in jede bekannte Sprache gewidmet haben, weitgehend vergessen wurden – doch ihre Übersetzungen haben ein Eigenleben entfaltet und das Wort Gottes zu denen gebracht, die darauf mit offenem Herzen reagierten. Die vollständige Geschichte des Einflusses der Bibel in der Welt wird erst erzählt sein, wenn ihre Wirkung auf Afrika, Asien und die fernen Inseln des Meeres deutlich wird.
(5) Schließlich ist im Evangelium des Neuen Testaments die Verheißung von Wachstum und neuer Erkenntnis eingebettet. Besonders das Johannesevangelium betont das Kommen des Heiligen Geistes als bleibenden Führer im Glauben. Veränderung – im Sinne von Wachstum in der Erkenntnis Gottes – ist im christlichen Glauben grundgelegt. Ebenso streckt sich der Apostel Paulus nach den zukünftigen Verheißungen Gottes aus. In diesem Sinn kann unser Verständnis der Bibel nie statisch bleiben. Ihre Seiten strahlen weiterhin neue Orientierung auf dem Weg zur Erkenntnis Gottes und seines Sohnes Jesus Christus aus.
Wie also kann die Kirche erkennen, was am Neuen dem Alten treu ist – und was eine Ablehnung des Glaubens darstellt? Es gibt dafür keine einfache Formel, aber die Kirche hat in der Schrift die Umrisse einer regula fidei, einer Glaubensregel, empfangen. Innerhalb dieses Rahmens hat der Geist Gottes die volle Freiheit, das christliche Verständnis durch dynamische Transformation zu beleben, zu vertiefen und zu formen. Außerhalb der Glaubensregel jedoch lauern Irrlehre und Verwirrung. Im Herzen des christlichen Bekenntnisses liegt eine klare Unterscheidung zwischen Kirche und Welt, zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Wahrheit und Irrtum. Der Autor des ersten Johannesbriefes mahnt seine Gemeinde, dass dieser Kampf bis zum Ende anhalten wird, versichert ihr aber auch: „Ihr seid aus Gott, und habt jene überwunden; denn der in euch ist, ist größer als der, der in der Welt ist“ (1. Johannes 4,4).
Abschließend lässt sich sagen, dass die Rolle der Heiligen Schrift für das christliche Leben erstmals im Neuen Testament beschrieben wurde. Die Jünger Jesu waren verwirrt und niedergeschlagen. Ihre Erwartungen für die Zukunft hatten sich nicht erfüllt. Dann begegneten sie auf dem Weg einem Fremden, der ihnen die Schriften aufschloss – und in seiner Gegenwart wurden ihnen die Augen geöffnet, und sie erkannten den auferstandenen Christus. Später, in Jerusalem, erinnerten sie sich an diesen Moment: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns die Schriften erschloss?“ (Lukas 24,32).
Dieser Aufsatz basiert auf der Cheney-Vorlesung, die Brevard S. Childs am 8. Oktober 1996 an der Yale University gehalten hat.
Quelle: Theology Today 54, Heft 2 (Juli 1997), S. 200–211.