Jürgen Roloff, Das tausendjährige Reich (Exkurs zu Offenbarung 20,1-10): „Gott ist für Johannes der Schöpfer (4,11) und Allherrscher (1,8 u. ö.), dessen Geschichtsplan das Ziel hat, seine Macht und Herrschaft in allen Bereichen seiner Schöpfung sichtbar durchzusetzen. Gottes Herrschaft bedeutet darum die Unterstellung auch der vorfindlichen Welt mit ihrer Geschichte und Lebenswirklichkeit unter Gottes heilvolle Macht. Heil kann für Johannes niemals nur jenseitig und spirituell sein; es ist immer auch welthaft, ja politisch, weil Gott für ihn der Herr der Welt und der Geschichte ist. Das letzte Ziel Gottes ist auch für Johannes die Schaffung einer neuen Welt, aber ihm ist darüber hinaus gewiß, dass Gott diese alte Welt nicht völlig preisgibt, sondern sie zunächst auch voll unter seine Herrschaft heimholt und zugleich den ihm zugehörigen Menschen ihr Recht auf diese alte Welt zuteil werden lässt.“

Das tausendjährige Reich (Exkurs zu Offenbarung 20,1-10)

Von Jürgen Roloff

Das tausendjährige Reich ist seit alters das wohl umstrittenste Thema der Apk. Dogmatisch versteht man darunter ein messianisches Zwischenreich auf Erden, das zwischen der Parusie und der allgemeinen Totenauferstehung sowie der Schaffung der neuen Welt Gottes liegt. Der Umstand, daß die Apk. diese Vorstellung vertritt, trug wesentlich Schuld daran, daß sie nur zögernd von der alten Kirche als Teil des biblischen Kanons anerkannt worden ist. Während ihr einige, vor allem westliche Kirchenväter in dieser Vorstellung folgten – so Papias von Hierapolis, Justin, Irenäus, Tertullian und Hippolyt, standen die Väter des Ostens – Clemens von Alexandrien und Origenes –, die stärker von der griechischen Philosophie beeinflußt waren, der Erwartung eines irdischen Zwischenreichs, dem sogenannten Chiliasmus (von griech. chilioi = tausend) ablehnend gegenüber. Durch den Einfluß Augustins wurde der Chiliasmus auch im Westen für lange Zeit zurückgedrängt: In seinem Buch vom Gottesstaat vertrat er nämlich eine kirchengeschichtliche Deutung von Apk. 20, die jahrhundertelang von großem Einfluß blieb: demnach umfasse das tausendjährige Reich die Zeit vom ersten Erscheinen Christi auf Erden bis zu seiner Wiederkunft, d. h. die Zeit der Kirche. Diese den Text gewaltsam enteschatologisierende Deutung war ungemein folgenreich; sie bildete den Nährboden für die Reichsideologie der mittelalterlichen Kaiser ebenso wie für den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papsttums. Die Weltuntergangspanik, die um das Jahr 1000 ganz Europa ergriff, geht ebenfalls auf sie zurück. Die Erwartung eines zukünftigen tausendjährigen Reiches kehrte in einigen radikalen kirchlichen Bewegungen des Hochmittelalters mit Macht wieder. Die Gedanken des Joachim von Fiore (1130-1202), der Apk. 20 wieder als Prophezeiung zukünftiger Ereignisse verstand, be-[190]einflußten die radikalen Franziskaner ebenso wie die Hussiten und die Täuferbewegungen der Reformationszeit. Vor allem um sich von den letzteren abzugrenzen, verwarfen die reformatorischen Bekenntnisse (Confessio Augustana XVII; Confessio Helvetica posterior XI) den Chiliasmus schroff als Irrlehre. Dieses Verdikt konnte jedoch nicht verhindern, daß auch in den Kirchen der Reformation chiliastische Gedanken immer wieder vertreten wurden, vor allem in pietistischen Kreisen. Seit gut hundert Jahren spielt er in der europäischen Schultheologie keine Rolle mehr. Er lebt jedoch weiter in Kreisen bibelforschender Laien, in Sekten und zum Teil auch in den jüngeren Kirchen der dritten Welt.

Die theologische Ablehnung des Chiliasmus kann sich – so viel läßt sich heute mit Sicherheit sagen – darauf berufen, daß es sich bei dem messianischen Zwischenreich um keine allgemein-urchristliche Vorstellung handelt. Paulus weiß zwar davon, daß Christus nach seiner Parusie die widergöttlichen Mächte endgültig ausschaltet, so daß alles der Herrschaft Gottes zurückgegeben werden kann (1. Kor. 15,20-28), aber er weiß nichts von zwei Auferstehungen und einem dazwischen liegenden irdischen Friedensreich. Für ihn beginnt vielmehr mit dem zweiten Kommen Christi unmittelbar die ewige Gottesherrschaft, an der die auferstandenen Christen Anteil bekommen (1. Thess. 4,13-18).

Die Vorstellung vom Zwischenreich findet sich außerhalb der Apk. nur noch in zwei jüdischen Apokalypsen, dem 4. Esrabuch und der Baruchapokalypse. Beide sind nach der Katastrophe Jerusalems im ausgehenden 1. Jahrh. entstanden und somit der Apk. nahezu gleichzeitig. Nach 4. Esr. 7,26-33 wird der Messias vierhundert Jahre herrschen, dann wird er zusammen mit allen Menschen sterben, und das Schweigen der Urzeit wird wiederkehren. Darauf folgen die Auferstehung der Toten und das Erscheinen des Höchsten auf dem Richterthron zum allgemeinen Weltgericht. Nach syr. Bar. 29f. wird der Messias bei seinem Kommen die beiden dämonischen Urweltungeheuer Leviathan und Behemoth vernichten. Dann wird eine üppige Zeit anbrechen: die Weinstöcke werden 1000 Ranken haben und eine Ranke 1000 Trauben, und eine Traube 1000 Beeren, und eine Beere wird 40 Liter Wein bringen (syr. Bar. 29,5f.), und Manna wird vom Himmel herabfallen, «und sie (die Menschen der Heilszeit) werden davon essen, weil sie das Ende der Zeiten erlebt haben» (29,8). Sodann wird der Messias in den Himmel zurückkehren, und es finden die Auferstehung der Gerechten und die Verwerfung der Gottlosen statt. In beiden Fällen hat die messianische Zeit ganz irdisch-diesseitsbezogenen Charakter. Ihr geht – anders als in der Apk. – keine «erste Auferstehung» voraus; Teilnehmer an ihr sind lediglich die beim Kommen des Messias noch lebenden Gerechten.

Es ist deutlich, daß es sich hier um eine Vorstellung handelt, die durch Verschmelzung zweier an sich unvereinbarer Auffassungen von der zukünftigen Vollendung zustandegekommen ist. Die ältere Davidsmessiastradition erwartet von der Zukunft eine Heilsvollendung auf der Erde. Der davidische Heilskönig der Endzeit wird die nationale Hoffnung Israels erfüllen, alle Feinde des Volkes vernichten, Gericht über die Völker halten und ein Reich des Friedens aufrichten, dessen Mittelpunkt Jerusalem sein wird. Die jünge-[191]re Hoffnung, die sich in der Apokalyptik ausbildete, erwartet von der Zukunft den Abbruch des gegenwärtigen Äons und den Anbruch des neuen Äons, wobei der Übergang zwischen beiden markiert wird durch das Kommen des messianischen Menschensohn-Weltrichters, der die Toten auferstehen läßt und sie vor das Gericht Gottes stellt. Nach der Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. war die alte irdisch-nationale Hoffnung gedämpft, aber dennoch nicht ganz geschwunden. So suchte man sie in einen Ausgleich mit der universal-transzendenten Vorstellung der zwei Äonen zu bringen. Das Ergebnis war jene seltsame Anschauung von einem der neuen Weltzeit vorangehenden irdisch-nationalen Zwischenreich.

Was aber veranlaßte die Apk., die sich sonst von aller jüdisch-nationalen Hoffnung gelöst hat, zur Übernahme dieser Vorstellung? Man hat zur Erklärung darauf verwiesen, daß sie in den Kapiteln 20 und 21 Ez. 37-48 als Leitfaden benutzte: Ezechiel handelt zunächst von der Auferweckung Israels und Aufrichtung der Herrschaft des Davidsmessias über das endzeitlich erneuerte Volk (Ez. 37); sodann läßt er den letzten Ansturm eines riesigen Feindheeres und dessen Vernichtung folgen (Ez. 38,1-39,22), und am Ende steht die Vision vom neuen Tempel der Endzeit (Ez. 40-41). Ganz entsprechend folgen in der Apk. einander tausendjähriges Reich (20,1-6), Vernichtung des Satans und seiner Heere (20,7-10) und Erscheinung des neuen Jerusalem (21,1-22,5). So richtig das ist, so wenig ist damit letztlich erklärt. Johannes folgt Ezechiel nämlich keineswegs sklavisch, sondern nur so weit, wie er seinen eigenen Vorstellungen entgegenkommt. Dies zeigt nicht zuletzt die Einfügung von 20,11-15, die das Ezechiel-Sche­ma durchbricht. Hätte der Gedanke des messianischen Zwischenreichs für Johannes keine Bedeutung gehabt, so hätte er ihn schwerlich aufgenommen.

Worin aber liegt diese Bedeutung? Die Antwort ergibt sich von seinem Gottes- und Weltverständnis her. Gott ist für Johannes der Schöpfer (4,11) und Allherrscher (1,8 u. ö.), dessen Geschichtsplan das Ziel hat, seine Macht und Herrschaft in allen Bereichen seiner Schöpfung sichtbar durchzusetzen. Gottes Herrschaft bedeutet darum die Unterstellung auch der vorfindlichen Welt mit ihrer Geschichte und Lebenswirklichkeit unter Gottes heilvolle Macht. Heil kann für Johannes niemals nur jenseitig und spirituell sein; es ist immer auch welthaft, ja politisch, weil Gott für ihn der Herr der Welt und der Geschichte ist. Das letzte Ziel Gottes ist auch für Johannes die Schaffung einer neuen Welt, aber ihm ist darüber hinaus gewiß, daß Gott diese alte Welt nicht völlig preisgibt, sondern sie zunächst auch voll unter seine Herrschaft heimholt und zugleich den ihm zugehörigen Menschen ihr Recht auf diese alte Welt zuteil werden läßt. Diese Betonung der Welthaftigkeit des Heils liegt im übrigen auch auf der Linie der Distanzierung der Apk. von allem gnostischen Enthusiasmus.

Johannes hat auf eine spekulative Entfaltung der Vorstellung des Zwischenreiches weitgehend verzichtet. So fehlt das Motiv des paradiesischen Überflusses völlig. Auch bleibt das Schicksal der der ersten Auferstehung teilhaftigen Menschen im Weltgericht völlig ungeklärt: Johannes scheint demnach nicht an einen Tod der Auserwählten am Ende des Zwischenreiches zu denken, sondern setzt voraus, daß die erste Auferstehung bereits die endgültige [192] ist, so daß die Auserwählten unmittelbar in die zukünftige neue Welt Gottes eingehen. Ist das aber so, dann ist auch die Grenze zwischen jener und dem irdischen Messiasreich offen und fließend. Nicht im Sinn einer zeitlichen Spekulation darf schließlich auch die Zeitangabe «tausend Jahre» verstanden werden. Hier handelt es sich, wie bei den Zahlen der Apk. durchweg, um eine Symbolzahl. Ihr liegt die Vorstellung der Weltenwoche von 7 x 1000 Jahren zugrunde. Der gegenwärtige Äon (6 x 1000 Jahre) wird von dem siebten Tag, der eine tausendjährige Sabbathruhe darstellt, abgeschlossen (vgl. sl. Hen. 33,1ff.). Dahinter steht wohl eine Kombination von Gen. 1,31; 2,1-3 und Ps. 90,4 («tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag»). Auch Barn. 15,4.8 vergleicht die Messiaszeit mit dem siebten Tag, dem Tag des Weltschweigens.

Quelle: Jürgen Roloff, Die Offenbarung des Johannes, ZBK NT 18, Zürich 21987, 189-192.

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