Martin Luther, 42 Thesen zur Disputation über Johannes 1,14 »verbum caro factum est« (1539): „Obwohl an dem Satz festgehalten werden muss: »Alles Wahre steht mit dem Wahren in Einklang«, so ist doch nicht dasselbe wahr in verschiedenen Wissensbereichen. In der Theologie ist wahr, dass das Wort Fleisch geworden ist. In der Philosophie ist das schlicht unmöglich und absurd. Wir täten also besser, wenn wir lernten, Dialektik oder Philosophie in ihrer Sphäre zu belassen und mit neuen Sprachen zu reden im Reich des Glaubens, außerhalb jeder Sphäre.“

42 Thesen zur Disputation über Johannes 1,14 »verbum caro factum est« (1539)

Von Martin Luther

DISPVTATIO THEOLOGICA. AN HAEC PROPOSITIO SIT VEra in Philosophia. Verbum caro factum estTheologische Disputation. Ob diese Aussage in der Philosophie wahr sei: Das Wort ist Fleisch geworden.
1. Etsi tenendum est, quod dicitur: Omne verum vero consonat, tarnen idem non est verum in diversis professionibus.1. Obwohl an dem Satz festgehalten werden muss: »Alles Wahre steht mit dem Wahren in Einklang«, so ist doch nicht dasselbe wahr in ver­schiedenen Wissensbereichen.
2. In theologia verum est, verbum esse camem factum, in philosophia simpliciter impossibile et absurdum.2. In der Theologie ist wahr, dass das Wort Fleisch geworden ist. In der Philosophie ist das schlicht unmög­lich und absurd.
3. Nec minus, imo magis disparata est praedicatio: Deus est homo, quam si dicas: Homo est asinus.3. Und die Aussage: »Gott ist Mensch«, ist nicht weniger, sondern noch viel mehr disparat, als wenn du sagtest: »Der Mensch ist ein Esel«.
4. Sorbona, mater errorum, pessime definivit, idem esse verum in philosophia et theologia.4. Die Sorbonne, die Mutter der Irr­tümer, hat sehr schlecht definiert, dasselbe sei wahr in Philosophie und Theologie.
5. Impieque damnavit eos, qui contrarium disputaverunt.5. Und gottlos hat sie jene verdammt, die das Gegenteil vertreten haben.
6. Nam hac sententia abominabili docuit captivare articules fidei sub iudicium rationis humanae.6. Denn mit diesem abscheulichen Satz hat sie gelehrt, die Glaubens­artikel unter das Urteil der menschli­chen Vernunft gefangen zu nehmen.
7. Hoc erat aliud nihil, quam coelum et terram includere in suo centro aut grano milii.7. Das bedeutete nichts anderes als Himmel und Erde in ihrem Zentrum oder einem Hirsekorn einzuschließen.
8. Cum contra Paulus doceat, captivandum esse omnem intellectum (haud dubie et philosophiam) in obsequium Christi.8. Während Paulus dagegen lehrt, je­der Verstand (ganz gewiss auch die Philosophie) sei in den Gehorsams­bereich Christi zu führen.
9. Facessant, dixit recte S. Ambrosius, dialectici, ubi credendum est piscatoribus apostolis.9. Die Dialektiker sollen sich da­vonmachen, hat der heilige Ambro­sius mit Recht gesagt, wo den »Fi­scheraposteln« zu glauben ist.
10. Ex praedicabilium doctrina sequeretur pulchre: Deus est homo, ergo est animal rationale, sensitivum, animatum, corpus, substantia scilicet creata.10. Aus der Lehre von den Prädikabilien würde sehr schön folgen: Gott ist Mensch, also ist er ein mit Vernunft, Sinnen, Seele und Körper begabtes Lebewe­sen, das heißt, eine geschaffene Sub­stanz.
11. Sed quia Christianis sobrie, et (ut Augustinus docet) secundum praescriptum est loquendum, tales consequentiae sunt simpliciter negandae.11. Weil aber die Christen nüchtern und (wie Augustin lehrt) gemäß Vor­schrift zu reden haben, sind Schlussfolgerungen solcher Art schlicht abzu­lehnen.
12. Nec utendum nec fruendum est subtilibus istis inventis, de supposi- tione mediata et immediata, in rebus fidei.12. In Sachen des Glaubens darf man aus solch spitzfindigen Erfindungen wie der mittelbaren und unmittelba­ren Supposition weder Gebrauch machen noch Nutzen ziehen.
13. Sunt enim logomachiae et kenophoniae in ecclesia periculosae et scandalis plenae.13. Wortgefechte und leeres Ge­schwätz sind in der Kirche nämlich gefährlich und skandalös.
14. Sed ubiubi impingit vel forma syllogistica vel ratio philosophica, dicendum est ei illud Pauli: Mulier in ecclesia taceat, et illud: Hunc audite.14. Wo auch immer sich aber die syl­logistische Form oder die philosophi­sche Vernunft einmischt, muss ihr dieses Wort von Paulus gesagt wer­den: »Die Frau schweige in der Kir­che«, und dieses: »Hört auf ihn«.
15. Impingit quidem theologia in phi- losophiae regulas, sed ipsa vicissim magis in theologiae regulas.15. Zwar verstößt die Theologie ge­gen die Regeln der Philosophie. Andrerseits verstößt diese noch mehr gegen die Regeln der Theolo­gie.
16. Iste syllogismus expositorius: Pa­ter in divinis generat. Pater est essentia divina. Ergo essentia divina generat, est bonus.16. Dieser expositorische Syllogis­mus ist richtig: Der Vater zeugt in der Gottheit. Der Vater ist göttli­ches Wesen. Also zeugt das göttli­che Wesen.
17. Et tamen praemissae sunt verae, conclusio falsa, et ita ex vero sequi­tur falsum contra philosophiam.17. Und obwohl die Prämissen wahr sind, ist doch die Schlussfolgerung falsch, und so folgt – gegen die Philosophie – aus etwas Wahrem etwas Falsches.
18. Iste syllogismus communis: Omnis essentia divina est pater. Filius est essentia divina. Ergo filius est pater, est bonus.18. Dieser allgemeine Syllogismus ist richtig: Das ganze göttliche We­sen ist Vater. Der Sohn ist göttli­ches Wesen. Also ist der Sohn der Vater.
19. Sed praemissae sunt verae, et conclusio falsa, et verum vero hie prorsus non consonat.19. Die Prämissen sind zwar wahr, die Schlussfolgerung aber ist falsch, und etwas Wahres stimmt hier wie­derum nicht mit dem Wahren über­ein.
20. Ut quae sit non quidem contra, sed extra, intra, supra, infra, citra, ultra omnem veritatem dialecticam.20. Es liegt nicht an einem Mangel der syllogistischen Form, sondern an der Kraft und Erhabenheit des Ge­genstandes, der nicht in die Enge der Vernunft oder der Syllogismen eingeschlossen werden kann.
21. Non quidem vitio formae syllogisticae, sed virtute et maiestate materiae, quae in angustias rationis seu syllogismorum includi non potest.21. Eines Gegenstandes, der freilich nicht gegen, wohl aber außerhalb, innerhalb, ober- und unterhalb, dies­seits und jenseits jeder dialektischen Wahrheit steht.
22. Iste Syllogismus: Quidquid factum est caro, factum est creatura. Filius Dei est factus caro. Ergo filius Dei est factus creatura, est bonus in philosophia.22. Dieser Syllogismus ist in der Phi­losophie richtig: Was auch immer Fleisch geworden ist, ist Kreatur ge­worden. Der Sohn Gottes ist Fleisch geworden. Also ist der Sohn Gottes Kreatur geworden.
23. Ac si possit subtilibus kenophoniis sophistarum defendi, tarnen non debet tolerari in ecclesia Dei.23. Und wenn er auch mit spitzfindi­gem und leerem Geschwätz vertei­digt werden könnte, darf er dennoch in der Kirche Gottes nicht geduldet werden.
24. Multo minus ista ferenda est: Omnis caro est creatura. Verbum est caro. Ergo verbum est creatura.24. Noch viel weniger ist dies zu er­tragen: Alles Fleisch ist Kreatur. Das Wort ist Fleisch. Also ist das Wort Kreatur.
25. Nec ista: Omnis caro est creatura. Verbum non est creatura. Ergo verbum non est caro.25. Und auch dies nicht: Alles Fleisch ist Kreatur. Das Wort ist nicht Kreatur. Also ist das Wort nicht Fleisch.
26. In his et similibus syllogismis est forma optima, sed nihil ad materiam.26. In diesen und ähnlichen Syllogis­men ist die Form einwandfrei, aber sie taugt nichts in Bezug auf den Ge­genstand.
27. Eundum ergo est ad aliam dialecticam et philosophiam in articulis fidei, quae vocatur verbum Dei et fides.27. Man muss also, wenn es um die Glaubensartikel geht, zu einer anderen Dialektik und Philosophie überge­hen, die »Wort Gottes« und »Glau­be« genannt wird.
28. Hic sistendum est, et disputationes philosophiae contrarium concludentes pro ranarum coaxatione habendae.28. Hier gilt es stehen zu bleiben, und die Disputationen der Philoso­phie, die das Gegenteil folgern, sind für Froschgequake zu halten.
29. Cogimur tamen etiam in aliis artibus negare, quod idem sit verum in omnibus.29. Wir werden doch auch in anderen Künsten zu verneinen gezwungen, dass dasselbe wahr sei in allen.
30. Falsum est enim et error in ge­nere ponderum, puncto et linea ma­thematica appendi posse pondera.30. Es ist nämlich falsch und ein Irr­tum in der Gattung der Gewichte, zu glauben, Gewichte könnten an einem Punkt oder an einer mathema­tischen Linie aufgehängt werden.
31. Falsum est et error in genere mensurarum, sextarium pedali vel ulnari mensura metiri.31. Es ist falsch und ein Irrtum in der Gattung der Maße, ein Hohlmaß mit dem Fuß- oder Ellenmaß zu mes­sen.
32. Falsum est et error in genere linearum uncialis vel libralis comparatio.32. Es ist falsch und ein Irrtum in der Gattung der Linien, diese mit Unze oder Pfund abzuwägen.
33. Quin falsum et error est, quod linea recta et curva sint proportionales.33. Ja es ist falsch und ein Irrtum zu meinen, die gerade und die krumme Linie seien proportional.
34. Et quadratores circuli, licet non falsum dicant, dum lineam rectam et curvam vocant utramque lineam.34. Und obwohl die, die den Kreis quadrieren wollen, nichts Falsches sagen, wenn sie die gerade und die krumme Linie beide als Linie be­zeichnen:
35. Tamen hoc falsum est, si lineae rectae et curvae proportionem facere volunt.35. So ist dennoch dies falsch, wenn sie zwischen gerader und krummer Linie eine Proportion herstellen wol­len.
36. Denique aliquid est verum in una parte philosophiae, quod tarnen falsum est in alia parte philosophiae.36. Kurz: Etwas ist wahr in einem Teil der Philosophie, was dennoch in einem andern Teil der Philosophie falsch ist.
37. Humor humectat, est veritas in sphaera aeris, sed manifesta haeresis in sphaera ignis.37. Feuchtigkeit befeuchtet: Das ist eine Wahrheit in der Sphäre der Luft, jedoch ein offenkundiger Irrtum in der Sphäre des Feuers.
38. Ita per singula artificia vel potius opera, si transeas, nunquam invenias, idem esse verum in omnibus.38. Wenn du so durch die einzelnen Künste oder besser Handwerke gehst, findest du niemals die Behaup­tung bestätigt, dasselbe sei wahr in allen.
39. Quanto minus potest idem esse verum in philosophia et theologia, quarum distinctio in infinitum maior est, quam artium et operum.39. Um wieviel weniger kann das­selbe wahr sein in Philosophie und Theologie, deren Unterschied un­endlich größer ist als jener zwischen Künsten und Handwerken.
40. Rectius ergo fecerimus, si dialectica seu philosophia in sua sphaera relictis discamus loqui novis linguis in regno fidei extra omnem sphaeram.40. Wir täten also besser, wenn wir lernten, Dialektik oder Philosophie in ihrer Sphäre zu belassen und mit neuen Sprachen zu reden im Reich des Glaubens, außerhalb jeder Sphäre.
41. Alioqui futurum est, ut vinum no­vum in utres veteres mittamus, et utrumque perdamus, ut Sorbona fecit.41. Andernfalls wird es geschehen, dass wir neuen Wein in alte Schläu­che füllen und beides verlieren, wie es die Sorbonne getan hat.
42. Affectus fidei exercendus est in articulis fidei, non intellectus philosophiae. Tum vere scietur, quid sit: Verbum caro factum est.42. Die Leidenschaft des Glaubens ist in den Glaubensartikeln zu üben, nicht der Verstand der Philosophie. Dann weiß man wahrhaftig, was das bedeutet: »Das Wort ist Fleisch ge­worden«.

WA 39-II, S. 3-5.

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